unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art70d
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Resilienzförderung und Ressourcenorientierung am Beispiel von Kindern in sucht- und psychisch belasteten Familien
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Michael Klein
Menschen - und besonders Kinder und Jugendliche - können an Stress und widrigen Lebensereignissen wachsen und psychische Widerstandskraft entwickeln. Diese Kompetenz wird als Resilienz bezeichnet und seit 1975 intensiv erforscht, beginnend mit den Studien von Werner, die sich auf Kinder suchtkranker und gewalttätiger Eltern bezogen. Besondere Resilienzfaktoren liegen im intrapsychischen (Kognition, Emotion, Humor, Initiative, Selbstwert), im interaktionalen (liebevolle, kontinuierliche und akzeptierende Zuwendung) und im familialen (Interpretation, Erklärung und Lösungsorientierung in Bezug auf Probleme und Stress) Bereich. Zahlreiche Präventionsprogramme zur Förderung der Resilienz im Kindes- und Jugendalter liegen inzwischen vor. Diese werden in Bezug auf die Risikogruppe der Kinder suchtkranker Eltern vorgestellt. Perspektiven der Resilienzförderung werden abschließend diskutiert.
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461 unsere jugend, 73. Jg., S. 461 - 468 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art70d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Michael Klein Jg. 1954; Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor und Coach. Er ist tätig an der Katholischen Hochschule NRW, Köln am Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung Resilienzförderung und Ressourcenorientierung am Beispiel von Kindern in sucht- und psychisch belasteten Familien Menschen - und besonders Kinder und Jugendliche - können an Stress und widrigen Lebensereignissen wachsen und psychische Widerstandskraft entwickeln. Diese Kompetenz wird als Resilienz bezeichnet und seit 1975 intensiv erforscht, beginnend mit den Studien von Werner, die sich auf Kinder suchtkranker und gewalttätiger Eltern bezogen. Besondere Resilienzfaktoren liegen im intrapsychischen (Kognition, Emotion, Humor, Initiative, Selbstwert), im interaktionalen (liebevolle, kontinuierliche und akzeptierende Zuwendung) und im familialen (Interpretation, Erklärung und Lösungsorientierung in Bezug auf Probleme und Stress) Bereich. Zahlreiche Präventionsprogramme zur Förderung der Resilienz im Kindes- und Jugendalter liegen inzwischen vor. Diese werden in Bezug auf die Risikogruppe der Kinder suchtkranker Eltern vorgestellt. Perspektiven der Resilienzförderung werden abschließend diskutiert. Überblick Der Begriff „Resilienz“ ist in Zusammenhang mit der gesunden Entwicklung von Kindern inzwischen schon seit Jahren in aller Munde. Übertragen bedeutet er „Spannkraft, Widerstandsfähigkeit, Elastizität“ (von lateinisch „resilire“ = zurückspringen, abprallen). Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, erfolgreich mit besonders ungünstigen Umweltbedingungen und hohem psychosozialen Stress umzugehen und diesen zu bewältigen. Im Englischen ist der Begriff schon seit Jahrzehnten eingeführt, vor allem seit den bahnbrechenden Arbeiten von Werner (1982, 1993), die in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf Kauai (Hawaii) begannen. Werner untersuchte an einer Gruppe von benachteiligten und misshandelten Kindern die Möglichkeit, eine stressreiche und belastende Umwelt unbeschadet zu überstehen. Diese entwicklungspsychologische Langzeitstudie verfolgte die Entwicklung von 698.700 Kindern, die im Jahr 1955 geboren wurden. Sie wurden im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren untersucht. 462 uj 11+12 | 2021 Resilienzförderung in psychisch belasteten Familien Jene Kinder, die vier oder mehr Risikofaktoren (z. B. hohe elterliche Disharmonie, Alkoholismus eines Elternteils) bis zum Alter von zwei Jahren aufwiesen, galten dabei als Risikokinder. Trotz zum Teil äußerst ungünstiger Familienkonstellationen, insbesondere vor dem Hintergrund des Vorhandenseins von Alkoholismus und Gewalt aufseiten der Eltern, fand sich etwa ein Drittel der Kinder, die selbst langfristig weitgehend gesund waren. „Gesundheit“ bezog sich dabei sowohl auf psychische als auch auf physische Aspekte. Definitionen von Resilienz Das Konzept der Resilienz als psychische Widerstandsfähigkeit beschreibt die Fähigkeit einer Person, relativ unbeschadet mit den Folgen belastender Lebensumstände, chronischem Stress und Traumatisierungen umzugehen und Bewältigungsfähigkeiten („copings“) entwickeln zu können (Laucht 2005; Laucht/ Schmidt 2005). Resilienz wird in der Regel jedoch nicht als angeborenes, statisches Persönlichkeitsmerkmal eines Kindes verstanden, sondern beschreibt eine Bewältigungskompetenz, die im Laufe der Entwicklung in einer Kind-Umwelt-Interaktion erworben bzw. vergrößert wird (Kumpfer 1999; Luthar et al. 2000; Velleman/ Orford 1999). Nach Lenz (2010, 8) beschreibt Resilienz „einen dynamischen oder kompensatorischen Prozess positiver Anpassung angesichts bedeutender Belastungen. Wenn es Kindern gelingt, relativ unbeschadet mit den Folgen herausfordernder bzw. belastender Lebensumstände umzugehen und dafür Bewältigungskompetenzen zu entwickeln, spricht man von Resilienz“. Dabei stellt Resilienz den Prozess und am Ende die jeweils gegebene Fähigkeit dar, erfolgreiche Adaptationen angesichts herausfordernder oder bedrohender Umstände zu entwickeln. Einmal entwickelt, muss Resilienz immer wieder ausgeführt und im Umgang mit Stressoren bestätigt werden. Zusammenfassend kann Resilienz als die erworbene, sich stets entwickelnde und verändernde psychische Robustheit gegen Stressoren verstanden werden, die Selbstwirksamkeit und Bewältigungskompetenz schafft. Resilienzfaktoren Um die beschriebene Fähigkeit der Resilienz im Sinne einer besonders hohen psychischen Stressresistenz analysieren zu können, wurden Kinder mit ähnlichen Umwelt- und Familienbedingungen verglichen, die einerseits starke Symptombelastungen zeigten und andererseits weitgehend symptomfrei waren. Die Merkma- Tab. 1: Übersicht zu den Resilienzfaktoren der Kauai-Studie (Werner/ Smith 1982) Intrapsychische protektive Faktoren für Kinder und Jugendliche ➤ Temperament des Kindes, das positive Aufmerksamkeit hervorruft ➤ Durchschnittliche Intelligenz und ausreichende Kommunikationsfähigkeit, auch im Schreiben ➤ Stärkere allgemeine Leistungsorientierung ➤ Verantwortliche, sorgende Einstellung ➤ Positives Selbstwertgefühl ➤ Internale Kontrollüberzeugung („internal locus of control“) ➤ Glaube an Selbsthilfemöglichkeiten Soziale protektive Faktoren für Kinder und Jugendliche ➤ Viel Aufmerksamkeit und keine längeren Trennungen während des Kleinkindalters ➤ Kontinuierliche Bezugs- und Begleitperson („caring and loving person“) ➤ Keine weiteren Geburten in den beiden ersten Lebensjahren ➤ Keine schweren elterlichen Konflikte bis zum zweiten Lebensjahr 463 uj 11+12 | 2021 Resilienzförderung in psychisch belasteten Familien le, die sich zwischen beiden Gruppen stark unterschieden, galten als Resilienzfaktoren. Werner und Smith (1982) unterschieden in ihrer klassischen Arbeit zwischen intrapsychischen (psychologischen) und interaktionalen (sozialen) Resilienzfaktoren. Tabelle 1 gibt einen Überblick zu den wichtigsten Ergebnissen der Kauai- Studie. Es zeigt sich, dass es vor allem kognitive und soziodemografische Variablen sind, die dominieren. Viele der genannten Faktoren scheinen in der Lebensrealität kaum oder gar nicht beeinflussbar (z. B. Temperament des Kindes, Abstand zwischen den Geschwistern, Intelligenz), sodass die Chancen zur präventiven Beeinflussung von Resilienzfaktoren nicht immer gegeben erscheinen. Auf der anderen Seite lagen etliche Berichte der LehrerInnen der Kinder vor, die stark beeindruckt von den Kommunikationsfähigkeiten und praktischen Problemlösekompetenzen dieser Kinder waren. Die Kinder nutzten, was immer sie an Talenten und Ressourcen mitbrachten und im Alltag neu erwerben konnten (z. B. durch Modelllernen), sehr effektiv aus. Sie hatten oft ein spezielles Interesse oder Hobby, das sie mit einem Freund oder einer Freundin teilten. Die resilienten Kinder schätzten stresserzeugende Lebensereignisse realistischer ein und benutzten eine Vielfalt flexibler Bewältigungsstrategien im Alltag und vor allem in Notsituationen. Als bedeutsame Langzeitstudie zu Risikofaktoren und Resilienz im deutschsprachigen Raum ist die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie von Bender und Lösel (1998) zu nennen. Bender und Lösel entdecken in dieser Studie mit einer Hochrisikogruppe von Jugendlichen, deren Eltern teilweise Alkoholprobleme hatten, dass ihre Ergebnisse gut mit denen Werners (Werner 1992; Werner/ Smith 1982) übereinstimmen. Ihre Studie zeigt außerdem, dass potenzielle Schutzmechanismen insbesondere dann von großer Bedeutung sind, wenn eine Kumulation einer Vielzahl von Risikofaktoren vorliegt. Je mehr objektive und subjektive Belastungen vorliegen, desto mehr Schutzmechanismen sind seitens der Kinder erforderlich; aber je mehr Risikofaktoren vorliegen, desto geringer ist auch die verbleibende Varianz für mögliche Schutzmechanismen. Weitergehende Forschungsergebnisse zeigen außerdem einen direkten, negativen Zusammenhang zwischen Resilienzen und psychischen Auffälligkeiten (Lee/ Cranford 2008) und verfrühtem Alkoholkonsum (Wong et al. 2006). Daraus wird geschlussfolgert, dass Resilienzen insbesondere die frühe Entstehung abweichender Verhaltensweisen und psychischer Störungen verhindern können. Neuere Studien und Modelle In der Folge der klassischen Kauai-Studie wurden zahlreiche weitere Studien zur Resilienz durchgeführt, so z. B. auch in Deutschland in der längsschnittlichen Mannheimer Risikokinderstudie (Laucht/ Schmidt 2005) und der Bielefelder Heimkinderstudie (Bender/ Lösel 1998). Von besonderem Interesse für die Entwicklung von Resilienzfaktoren bei Kindern aus suchtbelasteten Familien sind die Studien von Wolin und Wolin (1995). Sie erweiterten das traditionelle „Damage Modell“ von belastenden Familiensituationen um ein spezielles „Challenge Modell“. Demnach muss das Aufwachsen in einer stressreichen, belastenden Umwelt nicht automatisch zu Schäden („damage“) in der psychischen Entwicklung des Kindes führen. Vielmehr kann es einer zunächst nicht näher bekannten Anzahl von Kindern gelingen, an den besonderen Schwierigkeiten und Herausforderungen einer solchen Umwelt zu wachsen und im Sinne einer Herausforderung („challenge“) eine besonders stressresistente Persönlichkeit zu entwickeln. Damit stehen in den neueren entwicklungspsychologischen Modellen die Aspekte der Vulnerabilität, der Empfänglichkeit für Belastungen und Störungen, und die der Resilienz, des dynamischen und flexiblen Schutzes vor Risiken, gegenüber. 464 uj 11+12 | 2021 Resilienzförderung in psychisch belasteten Familien Wolin und Wolin (1995) identifizieren vor dem Hintergrund dieses Modells mithilfe retrospektiver klinischer Interviews bei jenen Personen mit guter psychischer Gesundheit aus suchtbelasteten Familien insgesamt sieben Resilienzen, die es Kindern ermöglichen sollen, sich gegen die dysfunktionale Familiensituation aktiv zu schützen und die Probleme kreativ zu bewältigen (siehe Tabelle 2). Wolin und Wolin gehen davon aus, dass beim Vorliegen aller bzw. vieler der genannten Resilienzen das Kind auch unter ungünstigen psychosozialen Umständen eine gute Entwicklungsprognose aufweist. Auch ist die gezielte Förderung und Entwicklung einzelner Resilienzen denkbar. Dies geschieht in Präventionsprogrammen wie z. B. TRAMPOLIN für Kinder suchtkranker Eltern (Klein et al. 2013). Dieses Programm ist mit Veränderungen auch auf Kinder psychisch kranker und komorbider Eltern übertragbar. Im Einzelnen wird unter den sieben Resilienzen Folgendes verstanden: Ahnung bedeutet, dass das Kind sehr früh eine Intuition entwickelt, dass die Abläufe in der Familie nicht in Ordnung und akzeptabel sind. Daraus entwickelt sich später das Wissen, dass sich das Familienleben anders gestaltet als bei anderen und weniger vertrauensvoll und sicher ist. Durch das Wissen über Alkohol und seine Effekte entsteht mehr Verständnis für sich selbst und die anderen Familienmitglieder. Ab dem Jugendalter kann die Einsicht entstehen, dass durch das Alkoholproblem und andere Dysfunktionen Leben und Atmosphäre in der Herkunftsfamilie nachhaltig gestört waren. Mit Unabhängigkeit wird sowohl die emotionale Distanz (innere Unabhängigkeit) als auch die physische Distanz (z. B. Unternehmungen mit Freunden, sportliche Aktivitäten, Freizeitaktivitäten) zu den familiären Problemen bezeichnet. Eine weitere wichtige Resilienz stellt das Vorhandensein von emotional bedeutsamen Beziehungen zu verlässlichen, positiven Bezugspersonen außerhalb der Familie dar (Beziehungsfähigkeit). Mit Initiative werden das spielerische Erkunden der Umwelt, das Erkennen von Ursache- und Wirkungszusammenhängen und die Ausübung zahlreicher Aktivitäten außerhalb der Familie sowie die daraus resultierenden Selbstwirksamkeitserwartungen bezeichnet. Die Fähigkeit zur Kreativität umfasst die Möglichkeit, innere Konflikte mit ästhetischen Mitteln auszudrücken und sich vom Alltag abzulenken. Dies kann darstellerischen ebenso wie musischen Ausdruck umfassen. Humor haben Wolin und Wolin (1995) zufolge viele Kinder in suchtbelasteten Familien aufgrund der familiären Verhältnisse oft wenig erlebt, weshalb sie die natürliche Fähigkeit zum Spaß Haben und Lachen verlernt haben. Humor kann jedoch, bisweilen auch durch Ironie oder Sarkasmus, zur emotionalen Distanzierung beitragen und weist somit eine entlastende Funk- Einsicht z. B. dass mit der drogenabhängigen Mutter etwas nicht stimmt Unabhängigkeit z. B. sich von den Stimmungen in der Familie nicht mehr beeinflussen lassen Beziehungsfähigkeit z. B. in eigener Initiative Bindungen zu psychisch gesunden und stabilen Menschen aufbauen Initiative z. B. in Form von sportlichen und sozialen Aktivitäten Kreativität z. B. in Form von künstlerischem Ausdruck Humor z. B. in Form von Ironie und selbstbezogenem Witz als Methode der Distanzierung Moral z. B. in Form eines von den Eltern unabhängigen stabilen Wertesystems Tab. 2: Sieben intrapsychische Resilienzen (Wolin/ Wolin 1995) 465 uj 11+12 | 2021 Resilienzförderung in psychisch belasteten Familien tion auf. Als letzter Resilienzfaktor wurde Moral identifiziert. Durch die Entwicklung eines eigenen differenzierten und sozial verantwortlichen Werte- und Moralsystems wird den Kindern ein verlässlicher ethischer Rahmen für Bewertungen und Struktur ermöglicht. Diese Resilienz ist besonders in Familien mit drogenabhängigen Elternteilen gestört, in denen es meist zu erheblichen Verzerrungen des Wertesystems aufgrund der Illegalität des Drogenkonsums kommt. Wie Moesgen (2010) zusammenfassend berichtet, konnten die bisher identifizierten Resilienzen repliziert sowie um weitere Merkmale ergänzt werden: ➤ Ausdrückliches Vorhaben des Kindes, ein anderes Erwachsenenleben zu führen als die Eltern ➤ Positives Selbstbild und ausgeprägtes Selbstvertrauen ➤ Gefühl von Sinnhaftigkeit und Orientierung im Leben, Zielgerichtetheit ➤ Selbstständigkeit ➤ Fähigkeit, mit Veränderungen umzugehen ➤ Eigene Talente nutzen ➤ Problemlösefähigkeit ➤ Zukunftsbilder kreieren können ➤ Gefühl, dass man selbst wählen kann ➤ Gefühl, Kontrolle über sein eigenes Leben zu besitzen (internale Kontrollüberzeugungen) ➤ Erfolgsmomente und das Gefühl, schon etwas erreicht zu haben (Selbstwirksamkeitserwartung). Allgemeines Rahmenmodell von Resilienz Obwohl eine Vielzahl der einschlägigen Resilienzstudien an Kindern aus suchtbelasteten Familien durchgeführt wurde, ist schon lange klar, dass es sich um ein allgemeingültiges Modell menschlicher Entwicklung in dysfunktionalen, stressreichen Kontexten handelt. Kumpfer (1999, zit. nach Wustmann 2004) entwickelte ein passendes Rahmenmodell, um die Effekte und Chancen von Resilienz zu beschreiben. Dazu gehören: 1. Der akute (ggf. auch chronisch gewordene) Stressor, der den Resilienzprozess aktiviert und zuvor zu einer Störung des intrapsychischen Gleichgewichts des Kindes geführt hat 2. Umweltbedingungen, die sich auf das Vorhandensein bzw. die Interaktion risikoerhöhender und risikomildernder Bedingungen in der Lebenswelt des Kindes (z. B. Familie, Schule, Peergroup) beziehen 3. Personale Merkmale des Kindes, die für eine erfolgreiche Bewältigung der Risikosituation notwendig bzw. förderlich sind. Dazu zählen Persönlichkeitsmerkmale, kognitive Fähigkeiten, emotionale Stabilität, soziale Kompetenzen und somatische Ressourcen. 4. Das Entwicklungsergebnis, welches sich durch den Erwerb und Erhalt altersangemessener Fähigkeiten und Bewältigungskompetenzen kennzeichnet. Es ist als Resultat der aktiven, dynamischen Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt zu verstehen. Familienresilienz Walsh (1998, 2003) hat das Resilienzkonzept um die Ebene der gesamten Familie erweitert. Darunter wird verstanden, dass sich die Belastbarkeit der ganzen Familie an bestimmte Stressoren anpassen und dadurch erweitern kann. Dabei werden drei Bereiche familialer Funktionsweisen differenziert: 1. Überzeugungen der Familie, z. B. auch in widrigen Lebensumständen einen Sinn zu finden, eine optimistische, aber realistische Grundeinstellung zu bewahren oder übergeordnete Werte und Sinnsysteme aufrechtzuerhalten, etwa im Sinne von religiösem Glauben und heilenden Ritualen. 466 uj 11+12 | 2021 Resilienzförderung in psychisch belasteten Familien 2. Strukturelle und organisatorische Muster, z. B. in Form von Flexibilität in den familialen Strukturen (Offenheit für Veränderungen), Aufrechterhaltung des Gefühls der Verbundenheit auch in Krisenzeiten und Nutzung sozialer Ressourcen (Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundeskreis). Eine konkrete Umsetzung des Familienresilienzmodells findet sich im Programm SHIFT (Suchthilfe und Familientraining), einem Programm zur Förderung der Erziehungskompetenz und Familienresilienz drogenabhängiger Eltern (Klein et al. 2019). Interventionsprogramme für Kinder in suchtbelasteten Familien Vor dem Hintergrund der vorliegenden Forschungsergebnisse ergibt sich die Möglichkeit einer gezielten Nutzung der Resilienzforschung für Prävention bei Kindern aus suchtbelasteten Familien. Es besteht die Chance, aus den Ergebnissen der jahrzehntelangen Resilienzforschung belasteten Kindern ohne ausreichende Resilienzen durch frühzeitige und adäquate Interventionen zu helfen. Als Beispiel für ein derartiges Präventionsprogramm wird im Folgenden das BundesmodellprojektTRAMPOLIN, gefördert durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), vorgestellt. Das modularisierte evidenzbasierte Programm besteht aus neun Gruppensitzungen mit Kindern im Alter zwischen 8 und 12 Jahren und zwei Elternsitzungen, jeweils am Anfang und am Ende des Programms. TRAMPOLIN wurde zwischen 2008 und 2013 entwickelt und findet seitdem in der Praxis (ambulante Suchthilfe, Jugendhilfe, selektive Prävention) Anwendung. Es wurde in enger Kooperation mit dem Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP) an der Katholischen Hochschule NRW (Prof. Michael Klein) und vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen im Kindes- und Jugendalter (DZSKJ) am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf (Prof. Rainer Thomasius) entwickelt und evaluiert. Ziel des Programms ist es, mit einem niedrigfrequenten Präventionsprogramm Kindern aus suchtbelasteten Familien an möglichst vielen Orten und Einrichtungen - auch außerhalb der Suchthilfe - zu helfen und mit Methoden der Resilienzförderung maligne Entwicklungsverläufe zu verhindern. In den verschiedenen Modulen des TRAMPOLIN- Programms werden zentrale Aspekte der Situation von Kindern in suchtbelasteten Familien im Allgemeinen und der Resilienzförderung im Speziellen angesprochen. Dabei geht es z. B. um kindgerechte Psychoedukation zum Thema Sucht (Alkohol und Drogen), um Förderung der emotionalen Kompetenz und Problemlösefähigkeiten sowie um die Entwicklung konkreter Verhaltensstrategien zur Bewältigung des Alltags in suchtbelasteten Familien. Das Programm ist einfach erlernbar und anwendbar, sodass es leicht in die Praxis verschiedener Hilfeeinrichtungen disseminiert werden kann. Abb. 1: Logo „Trampolin“ 467 uj 11+12 | 2021 Resilienzförderung in psychisch belasteten Familien Ausblick Die evidenzbasierte Resilienzförderung gefährdeter Kinder und Jugendlicher steht erst am Anfang, obwohl die entsprechende Forschung schon lange bekannt ist. Die Praxis kann die inzwischen vorliegenden zahlreichen Forschungsergebnisse gezielt für Prävention und Frühintervention nutzen und damit Kinder und Jugendliche stark machen für ihre Entwicklung in schwierigen Umwelten. Dafür sollten die verschiedenen Akteure im Bereich „Kinder und Jugendliche“ effektiv und nachhaltig zusammenarbeiten und sich vom Gedanken der Stärkung der Widerstandskräfte für betroffene Kinder leiten lassen. Für Kinder in suchtbelasteten Familien liegen inzwischen differenzierte Unterstützungsmodelle vor, deren Wirksamkeit auch nachgewiesen ist, sodass evidenzbasierte Programme der selektiven Prävention Anwendung finden können. Prof. Dr. Michael Klein Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW ) Deutsches Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP) Wörthstr. 10 50668 Köln E-Mail: Mikle@katho-nrw.de www.addiction.de 9. Positives Abschiednehmen 8. Hilfe und Unterstützung einholen 7. Verhaltensstrategien in der Familie erlernen 6. Probleme lösen und Selbstwirksamkeit erhöhen 5. Mit schwierigen Emotionen umgehen 4. Wissen über Sucht und Süchtige vergrößern 3. Über Sucht in der Familie reden 2. Selbstwert / positives Selbstkonzept stärken 1. Vertrauensvolle Gruppenatmosphäre schaffen 10. Eltern sensibilisieren und stärken (Teil 2) 10. Eltern sensibilisieren und stärken (Teil 1) Abb. 2: Trampolin: Modulinhalte Literatur Bender, D., Lösel, F. (1998): Protektive Faktoren der psychisch gesunden Entwicklung junger Menschen. Ein Beitrag zur Kontroverse um saluto- und pathogenetische Ansätze. In: Margraf, J., Siegrist, J., Neumer, S. (Hrsg.): Gesundheits- oder Krankheitstheorie? Salutovs. pathogenetische Ansätze im Gesundheitswesen. Springer, Berlin, 117 - 145 Klein, M., Moesgen, D., Bröning, S., Thomasius, R. (2013): TRAMPOLIN. Kinder aus suchtbelasteten Familien entdecken ihre Stärken. Ein Präventionsmanual. Hogrefe, Göttingen Klein, M., Moesgen, D., Dyba, J. (2019): SHIFT - Ein Elterntraining für drogenabhängige Mütter und Väter mit Kindern zwischen 0 und 8 Jahren. Hogrefe, Göttingen Kumpfer, K. (1999): Factors and Processes Contributing to Resilience. The Resilience Framework. In: Glantz, M., Johnson, J. (Eds.): Resilience and Development. Positive Life Adaptations. Kluwer Academic, NewYork, 179 - 224 468 uj 11+12 | 2021 Resilienzförderung in psychisch belasteten Familien Laucht, M. (2005): Die langfristigen Folgen früher Entwicklungsrisiken. Ergebnisse der Mannheimer Längsschnittstudie zu Risiko- und Schutzfaktoren. In: Arnoldy, P., Traub, B. (Hrsg.): Sprachentwicklungsstörungen früh erkennen und behandeln. Loeper, Karlsruhe, 169 - 183 Laucht, M., Schmidt, M. (2005): Entwicklungsverläufe von Hochrisikokindern. Ergebnisse der Mannheimer Längsschnittstudie. Kinderärztliche Praxis 76 (6), 135 - 142 Lee, H., Cranford, J. (2008): Does Resilience Moderate the Associations Between Parental Problem drinking and Adolescents’ Internalizing and Externalizing Behaviours? A Study of Korean Adolescents. Drug and Alcohol Dependence 96, 213 - 221 Lenz, A. (2010): Ressourcen fördern. Materialien für die Arbeit mit Kindern und ihren psychisch kranken Eltern. Hogrefe, Göttingen Luthar, S., Ciccetti, D., Becker, B. (2000): The Construct of Resilience. A Critical Evaluation and Guidelines for Future Work. Child Development 71, 543 - 562 Moesgen, D. (2010): Die Bedeutung kognitiver Faktoren für die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen aus alkoholbelasteten Familien. Dissertation an der Fakultät für Lebenswissenschaften der TU Braunschweig, Braunschweig Velleman, R., Orford, J. (1999): Risk and Resilience. Adults Who Were the Children of Problem Drinkers. Harwood Academic Publishers, London Walsh, F. (1998): Strengthening Family Resilience. 2. Ed. Guilford, New York Walsh, F. (2003): Family Resilience: A Framework for Clinical Practice. Family Process 42 (1), 1 - 18 Werner, E. (1993): Risk, Resilience and Recovery. Perspectives from the Kauai Longitudinal Study. Development and Psychopathology 5, 503 - 515 Werner, E., Smith, R. (1982): Vulnerable but Invincible. A Study of Resilient Children. McGraw Hill, New York Wolin, S., Wolin, S. (1995): Resilience Among Youth Growing Up In Substance-Abusing Families. Pediatric Clinics of North America 42 (2), 415 - 429 Wong, M., Nigg, J., Zucker, R., Puttler, L., Fitzgerald, H., Jester, J. (2006): Behavioural Control and Resiliency in the Onset of Alcohol and Illicit Drug Use. A Prospective Study from Preschool to Adolescence. Child Development 77 (4), 1016 - 1033 Wustmann, C. (2004): Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Beltz, Weinheim Liebe Abonnentinnen und Abonnenten, der Bezugspreis der Zeitschrift unsere jugend wird ab Heft 1 des kommenden Jahres leicht angehoben, um die gestiegenen Kosten wenigstens teilweise auszugleichen. Der Abonnementpreis für private Direktkunden erhöht sich um einen Euro auf € 63,-. Nicht-Private/ Institutionen und Buchhandlungen zahlen ab 2022 für das Jahres-Einzelabonnement € 91,-. Institutsabos mit Mehrplatzlizenz kosten ab dem nächsten Jahr € 299,-. Jeweils zzgl. 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