eJournals unsere jugend 73/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art74d
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Und was ist mit den Kindern?

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Pascal Wassermann
“The psychological ‘footprint’ will be larger than the medical ‘footprint’”, so hat Steven Taylor (2019) bereits vor dem Ausbruch des Corona-Virus die Auswirkungen globaler Pandemien zusammengefasst. Doch was genau sind die psychischen Auswirkungen der Corona-Pandemie und wie sind diese erklärbar?
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498 unsere jugend, 73. Jg., S. 498 - 502 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art74d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Und was ist mit den Kindern? Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie “The psychological ‘footprint’ will be larger than the medical ‘footprint’”, so hat Steven Taylor (2019) bereits vor dem Ausbruch des Corona-Virus die Auswirkungen globaler Pandemien zusammengefasst. Doch was genau sind die psychischen Auswirkungen der Corona-Pandemie und wie sind diese erklärbar? von Pascal Wassermann Jg. 1996; B. Sc. Psychologie, Psychologischer Fachdienst in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der KJF Klinik Neuburg a. d. Donau, Mitglied der Fachgruppenleitung „Klinische Psychologie in der Kinder- und Jugendhilfe der Sektion Klinische Psychologie (BDP), Mitglied der Fachgruppe „PsychologInnen in der Jugendhilfe und der Behindertenhilfe“ der Landesgruppe Bayern (BDP) In den vergangenen Monaten fand ein angeregter Austausch von PsychologInnen der Landesgruppe Bayern im Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP) statt, um zu erfahren, welche Auswirkungen der Corona-Pandemie bereits jetzt in den verschiedenen psychologischen Arbeitsbereichen zu beobachten sind. Als Vertreter der Fachgruppe „PsychologInnen in der Kinder- und Jugendhilfe sowie Behindertenhilfe“ ist es mir besonders wichtig, den Blick auf Kinder und Jugendliche zu lenken, die besonders stark unter der Corona-Pandemie leiden - weniger körperlich, doch umso stärker psychisch (Ravens-Sieberer et al. 2021). Wie kommt es zu psychischer Mehrbelastung in der Corona-Krise? Lazarus und Folkman (1986, zit. in Hampel/ Petermann 2017, 20) definieren psychologischen Stress als „eine Beziehung mit der Umwelt, die vom Individuum im Hinblick auf sein Wohlergehen als bedeutsam bewertet wird, aber zugleich Anforderungen an das Individuum stellt, die dessen Bewältigungsmöglichkeiten beanspruchen oder überfordern“. In Zeiten der Pandemie sind wir in vielen Bereichen gezwungen, unser Verhalten stark anzupassen. Schnell und Krampe (2020) geben einen breiten Überblick über die Vielfältigkeit der Belastungen, die damit einhergehen, sowie über Risiken bezüglich psychischer Erkrankungen. Zusätzlich zur erhöhten Beanspruchung im Alltag - also einem Mehr an Belastung - werden Möglichkeiten zur Belastungsbewältigung (bspw. sportliche Betätigung, soziale Kontakte, Feste und Feiern, Hobbys) in der Corona-Krise deutlich eingeschränkt. Weiterhin ist die Bewältigungsleistung nach Folkman et al. (1986) abhängig von den individuellen Ressourcen. In der Psychologie bezeichnet man die Widerstandsfähigkeit gegenüber auftretenden Belastungen (Stressoren) als Resilienz 499 uj 11+12 | 2021 Belastungen von Kindern in der Corona-Pandemie (Greve 2000, zit. in Oerter/ Montada 2002). Faktoren, die Resilienz stärken, können vielfältig sein. Schnell und Krampe (2020) haben in Bezug auf die COVID-19-Pandemie Lebenssinn und Selbstdisziplin (orig.: „meaning in life“ und „self-control“) als zentrale Faktoren zur Stressregulation herausgestellt. Menschen mit geringerer Stressregulation sind demnach durch die Pandemie stärker belastet, während gleichzeitig von vorneherein weniger bzw. unproduktivere Strategien für die Bewältigung des neuen Stresses zur Verfügung stehen. Solche unproduktiven (oder auch maladaptiven) Strategien können, bei entsprechend hoher Ausprägung und meist gemeinsam mit weiteren Risikofaktoren, zu psychischen Erkrankungen führen (bspw. selbstverletzendes oder süchtiges Verhalten, Angst- und Panikstörungen, depressive Störungen, Suizidalität). Individuelle Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie Kinder und Jugendliche können unter verschiedenen Ängsten und Sorgen leiden. Einerseits besteht die Angst vor dem Virus selbst, andererseits zeigt sich eine große Verunsicherung u. a. durch die stark verhaltensverändernden Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, Abstand und Masken (Langmeyer et al. 2020). Gerade jüngere Kinder können diese Maßnahmen nicht verstehen bzw. ausreichend reflektieren. Weiterhin können durch die Pandemie Sozialkontakte - sowohl im schulischen Kontext als auch in der Freizeit - fast ausschließlich digital stattfinden, sodass die Zeit, die Kinder und Jugendliche im digitalen Raum verbringen, deutlich erhöht ist. Digitale Medien können unser Glücksempfinden verändern und deren exzessive Nutzung kann die Entstehung von psychischen Erkrankungen fördern (Diefenbach/ Ullrich 2016). Damit ist davon auszugehen, dass pandemiebedingt auch das Risiko, entsprechende Störungen zu entwickeln (bspw. Depression, Angststörung, Sucht), deutlich erhöht ist. Zudem haben Kinder einen erhöhten Bewegungsdrang, der gewissermaßen als naturgegebenes Programm zu einer guten motorischen Entwicklung beiträgt. Kann auf das erhöhte Bedürfnis, sich zu bewegen, nicht ausreichend eingegangen werden, so kann es sowohl im Bereich der motorischen Entwicklung als auch im kognitiv-emotionalen Bereich (i. S. von Bewegung als Stressregulationsstrategie) zu Defiziten kommen. Ebenso bedenklich ist die Reduktion von (Körper-)Kontakten. Berührungen lösen in uns nicht nur positive Gefühle wie Freude, Sicherheit oder Angenommen-Sein aus, sondern sie bestätigen uns auch in unserer Existenz und in unserem Wirken in der Welt. Ohne diese Bestätigung, die Kinder und Jugendliche z. B. durch die Hand der Lehrkraft auf der Schulter, beim Fangenspielen auf dem Schulhof oder beim Treffen von FreundInnen erfahren, erhöht sich das Risiko, den Kontakt zum Selbst und der eigenen Identität zu verlieren. Auch selbstverletzendes Verhalten kann eine Folge der mangelnden Bestätigung durch Berührungen sein, da Kinder und Jugendliche Selbstverletzungen sowohl als Strategie zum Spannungsabbau einsetzen, als auch, um sich selbst zu spüren (Schmahl/ Stiglmayr 2020). Weiterhin kann auch die unklare Perspektive als belastend gesehen werden. Eine positive und realistische Zukunftsperspektive ist erfahrungsgemäß ausschlaggebend für gelingende Motivation und Volition wie auch Resilienz von Kindern und Jugendlichen. Neben der allgemeinen Verunsicherung durch intransparente oder gar fehlende Perspektiven für die Zeit nach der Pandemie trifft es Jugendliche in der Phase der Berufsfindung am härtesten. Ganzen Jahrgängen ist es seit über einem Jahr kaum mehr möglich, eine berufliche Perspektive zu entwickeln, da diverse Praktika nicht stattfinden können. 500 uj 11+12 | 2021 Belastungen von Kindern in der Corona-Pandemie Belastungen auf familiärer Ebene Eltern werden durch Home-Schooling neue Rollen zugeteilt, denn sie müssen Aufgaben einer Lehrkraft übernehmen (bspw. Hilfestellung bei Schulaufgaben). Oft haben sie diesbezüglich hohe Ansprüche an sich selbst, die sie nicht erfüllen können. Zusätzlich können Eltern durch die Pandemie auch selbst sehr belastet sein, sodass nicht mehr genügend Kapazitäten zur Verfügung stehen, um auf Familienkonflikte angemessen zu reagieren (Langmeyer et al. 2020; Ravens-Sieberer 2021). Weiterhin sollen während der Pandemie auch im familiären Kontext Kontakte so weit wie möglich reduziert werden. Kinder und Jugendliche leiden häufig darunter, dass vor allem der Kontakt zu den Großeltern unterbunden wird oder sie diesen gar aktiv vermeiden, da sie Angst haben, ihre Großeltern könnten sich infizieren. Nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe wird immer wieder deutlich, wie wichtig die Großeltern und andere Verwandte als Ressource sind, gerade wenn die Eltern unter unterschiedlichsten Belastungen leiden. Eltern können in vielerlei Hinsicht belastet sein. Einerseits durch eigene Probleme beim individuellen Umgang mit den pandemiebedingten Einschränkungen und andererseits durch die Herausforderungen, die die Arbeit im Home-Office mit sich bringt, oder dadurch, dass Arbeiten durch den Lockdown gar nicht mehr möglich sind. Eine verschlechterte finanzielle Situation kann dazu führen, dass Eltern Unterstützungsangebote (bspw. Babysitter) nicht mehr wahrnehmen können. Weiter ist lange bekannt, dass ein geringer sozioökonomischer Status die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern schädigen kann (LBS-Initiative Junge Familie 2007). Ravens-Sieberer et al. (2021) stellten zudem fest, dass vor allem Kinder aus „Risikofamilien“ (niedriges Bildungsniveau, beengter Wohnraum oder Migrationshintergrund) besonders stark unter der Pandemie leiden. Hier wird deutlich, dass besonders Kinder aus Familien, die mehrfach belastet sind - ohne ausreichende Bewältigungskapazitäten zu haben -, durch die Pandemie weiter abgehängt werden. Exemplarisch für alle Bereiche, in denen Kinder und Jugendliche Defizite haben können (Motorik, Kognition, Emotion, Motivation usw.) und für die es in Zeiten der Pandemie kaum Möglichkeiten zur Förderung und Kompensation gibt, möchte ich hier den Entwicklungsbereich Sprache herausstellen. Sprachliche Entwicklung ist in einem fremdsprachigen Elternhaus ohne Kontakte zu deutschsprachigen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Kita, Schule und Freizeit nur schwer zu bewerkstelligen - gerade dann, wenn weitere Risikofaktoren hinzukommen. Ausblick Die Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der Krise sind vielfältig. Durch mangelnde Bewältigungsmöglichkeiten ist davon auszugehen, dass sich durch die Dauer der Krise, die Vielzahl von Belastungen und die hohe individuelle Bedeutsamkeit vermehrt psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen entwickeln können. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien schlagen bereits Alarm, da immer mehr Kinder und Jugendliche mit Angststörungen, Depressionen, selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität stationär versorgt werden müssen. Darüber hinaus leiden viele Kinder und Jugendliche unter der Pandemie, auch ohne ein klinisches Krankheitsbild zu entwickeln (Fore 2020; Orben et al. 2020; Ravens-Sieberer et al. 2021). Zudem haben Kitas, Schulen und Jugendämter, bedingt durch Lockdown und Home- Schooling, nur eingeschränkte Möglichkeiten, die Situation in den Familien zu erfassen, sodass von einer hohen Dunkelziffer belasteter und gefährdeter Kinder und Jugendlicher auszugehen ist. In Anbetracht der vielfältigen Belastungen ist es unerlässlich, frühzeitig gute Strategien und Angebote zur Belastungsbewältigung bereitzustellen. Dabei muss die Politik reagieren und tatkräftig beim Ausbau und der Neuentwicklung umfassender Hilfsangebote unterstützen. 501 uj 11+12 | 2021 Belastungen von Kindern in der Corona-Pandemie Das von der Bundesregierung am 5. Mai 2021 verabschiedete „Corona-Paket für Kinder und Jugendliche“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2021) ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, greift aus meiner Sicht jedoch zu kurz: zu wenig finanzielle Mittel, zu wenig Unterstützung für die Bewältigung psychischer Belastungen, zu wenig auf die spezifischen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zugeschnitten und insgesamt weder umfassend noch konkret genug. Die Studienlage sowie die Berichte aus den Psychiatrien sind alarmierend. Wir brauchen dringend passende Angebote zur Belastungsbewältigung: Möglichkeit von spielerisch-sportlicher Betätigung in Vereinen, Ausbau niederschwelliger Angebote und aufsuchender Hilfen, Hilfestellung und Informationen für Familien zum Umgang mit Familienkonflikten, Schaffen von Anreizen für Familien, „Quality-Time“ miteinander zu verbringen und sich als Familie zu erleben usw. Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe müssen wir gut vorbereitet sein, um Kindern und Jugendlichen echte Unterstützung anbieten zu können. Dies können wir gewährleisten, indem wir uns zunächst der vielfältigen Belastungen bewusst sind - wozu dieser Artikel einen Beitrag leisten soll. Weiter können wir Unterstützung durch universelle Stressprävention im Alltag geben: durch persönliche Gespräche, mit Entspannungsübungen, Kneipp-Anwendungen, sportlicher Betätigung, gemeinsamen Spielen u. v. m. Wichtig ist, dass wir uns bewusst sind, dass es in dieser Zeit vollkommen normal ist, belastet zu sein und unter der Pandemie zu leiden. Schaffen wir also in unserem beruflichen Alltag auch für uns selbst immer wieder Gelegenheiten zum Innehalten, Entspannen und Spielen und nehmen wir unsere Kinder und Jugendlichen dabei mit. Pascal Wassermann E-Mail: pascalwassermann@gmx.de Literatur Diefenbach, S., Ullrich, D. (2016): Digitale Depression. Wie neue Medien unser Glücksempfinden verändern. MVG Verlag, München Folkman, S., Lazarus, R. S., Dunkel-Schetter, C., DeLongis, A., Gruen, R. J. (1986): Dynamics of a Stressful Encounter. Cognitive Appraisal, Coping, and Encounter Outcomes. Journal of personality and social psychology, 50 (5), 992 - 1003 Fore, H. H. (2020): A Wake-up Call: COVID-19 and its Impact on Children’s Health and Wellbeing. Lancet Global Health, 8 (7), https: / / doi.org/ 10.1016/ S2214- 109X(20)30238-2 Hampel, P., Petermann, F. (2017): Cool bleiben - Stress vermeiden. Das Anti-Stress-Training für Kinder. 3. Aufl. Beltz, Weinheim/ Basel Langmeyer, A., Guglhör-Rudan, A., Naab, T., Urlen, M., Winklhofer, U. (2020): Kindsein in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse zum veränderten Alltag und zum Wohlbefinden von Kindern. DJI, München, https: / / www.dji.de/ fileadmin/ user_upload/ dasdji/ themen/ Familie/ DJI_Kindsein_Corona_Erste_Ergeb nisse.pdf LBS-Initiative Junge Familie (2007): LBS-Kinderbarometer Deutschland 2007. Stimmungen, Trends und Meinungen von Kindern in sieben Bundesländern. Bundesgeschäftsstelle der Landesbausparkassen, Berlin Oerter, R., Montada, G. (Hrsg.) (2002): Entwicklungspsychologie. Beltz, Weinheim Orben A., Tomova L., Blakemore S.-J. (2020): The Effects of Social Deprivation on Adolescent Development and Mental Health. Lancet Child Adol Health 4 (8), 634 - 640, https: / / doi.org/ 10.1016/ S2352-4642(20)30 186-3 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2021): Milliarden-Hilfe für Kinder und Jugendliche in der Pandemie, https: / / www.bundesregierung.de/ bregde/ aktuelles/ programm-aufholen-nach-corona-189 7750 502 uj 11+12 | 2021 Belastungen von Kindern in der Corona-Pandemie Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Erhart, M., Devine, J., Schlack, R., Otto, C. (2021): Impact of the COVID-19 Pandemic on Quality of Life and Mental Health in Children and Adolescents in Germany. European Child & Adolescent Psychiatry, 1 - 11; https: / / doi.org/ 10.10 07/ s00787-021-01726-5 Schmahl, C., Stiglmayr, C. (2020): Selbstverletzung. Hogrefe, Göttingen Schnell, T., Krampe, H. (2020): Meaning in Life and Self- Control Buffer Stress in Times of COVID-19. Moderating and Mediating Effects With Regard to Mental Distress. Frontiers in psychiatry, 11, 582352, https: / / doi.org/ 10.3389/ fpsyt.2020.582352 Taylor, S. (2019): The Psychology of Pandemics. Preparing for the Next Global Outbreak of Infectious Disease. Cambridge Scholars Publishing, Newcastle Das Jahresinhaltsverzeichnis 2021 steht zum kostenlosen Download im Archiv der Zeitschrift „unsere jugend“ bereit unter https: / / www.reinhardt-journals.de/ index.php/ uj/ issue/ archive