unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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Ressourcenorientierte Pädagogik - aus der Praxis entwickelte Pädagogik der Kinder- und Jugendhilfe
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2021
Eckhart Knab
Der Anfang der Entwicklung der erst später so benannten ressourcenorientierten Pädagogik liegt für den Verfasser über 50 Jahre zurück und ergab sich aus dem Interesse für die trotz aller Defizite vorhandenen, gut beobachtbaren Stärken verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher in der Heimerziehung. Es war eher ein Zufall, dass das Phänomen Bewegung bzw. der Sport auf der Suche nach einer Kontaktanbahnung zu einem jugendlichen Klienten ins Blickfeld des beratenden Psychologen einer stationären Jugendhilfeeinrichtung in der 70er Jahren geriet.
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469 unsere jugend, 73. Jg., S. 469 - 478 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art71d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von PD Dr. Eckhart Knab Jg. 1940; Dipl.-Psychologe (1974 - 77) und Direktor (1977 - 94) des St. Josephshaus Klein-Zimmern, Gründer des Institutes für Kinder- und Jugendhilfe, Mainz 1995. Er wurde 1998 in Düsseldorf promoviert und habilitierte sich 2004 in Köln. Herr Knab ist als Privatdozent an der Johannes Gutenberg- Universität Mainz und der Universität zu Köln tätig. Ressourcenorientierte Pädagogik - aus der Praxis entwickelte Pädagogik der Kinder- und Jugendhilfe Der Anfang der Entwicklung der erst später so benannten ressourcenorientierten Pädagogik liegt für den Verfasser über 50 Jahre zurück und ergab sich aus dem Interesse für die trotz aller Defizite vorhandenen, gut beobachtbaren Stärken verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher in der Heimerziehung. Es war eher ein Zufall, dass das Phänomen Bewegung bzw. der Sport auf der Suche nach einer Kontaktanbahnung zu einem jugendlichen Klienten ins Blickfeld des beratenden Psychologen einer stationären Jugendhilfeeinrichtung in der 70er Jahren geriet. Der jugendliche Analphabet verweigerte jeden Kontakt zum Lesen, Schreiben, generell zur Schule. Es galt daher, ein leistungsfernes, schulfernes und angstfreies Arbeitsbzw. Handlungsfeld zu finden, um eine Beziehung herstellen zu können. Dies geschah zunächst über den Schwimmunterricht und anschließend über ein spezielles Lernprogramm beim Trampolinspringen (Knab 1978). Ein gezieltes pädagogisches Bewegungsangebot gab es in der damaligen Zeit in der Einrichtung noch nicht. Bewegungsangebote waren im Heimalltag freizeitpädagogisch orientiert und ergaben sich meistens aus der sportlichen Interessenlage der ErzieherInnen. Insgesamt waren aber Bewegungsangebote in den deutschen Fürsorgeerziehungsanstalten durchaus zahlreich vorhanden, z. T. waren die Rettungsanstalten (s. Abb. 1) sogar mit Sportanlagen und Schwimmbädern ausgestattet (Seiffert- Straussberg 1912). Das ressourcenorientierte Bewegungsangebot im St. Josephshaus Klein-Zimmern (bei Dieburg, Südhessen) wurde in den 70er und 80er Jahren besonders im Bereich der Psychomotorik und der Sportakrobatik durch zahlreiche Weiterbildungen vertieft, systematisch erweitert und qualifiziert (Knab 1991). Hierbei spielten erste Kontakte mit Jonny Kiphard, Thilo Irmischer und Friedhelm Schilling eine wichtige Rolle (Knab 1984). Kiphard galt als der Erfinder der psychomotorischen Übungsbehandlung. Friedhelm Schilling hatte durch die 470 uj 11+12 | 2021 Ressourcenorientierte Pädagogik in der Jugendhilfe Etablierung des Studienganges „Motologie“ in Marburg die Psychomotorik bzw. die Motologie universitätsfähig gemacht. Es gelang, eine erste Fachtagung zum Thema „Motopädagogik in der Heimerziehung“ im Jugendhilfezentrum St. Josephshaus Klein-Zimmern zu veranstalten. Es zeigte sich aber in der Folge, dass das Ressourcenkonzept auch für den Bereich der Musikpädagogik (Knab/ Macsenaere 2004), die wie die Bewegungspädagogik ebenfalls bereits zu Beginn der 20. Jahrhunderts in vielen Einrichtungen praktiziert wurde (s. Abb. 2), umsetzbar war. Abb. 1: Die Kreiserziehungsanstalt zu Mühlheim a. M. - Zöglinge beim Turnen Abb. 2: Gemeinsamer Ausflug der Blechmusik St. Josephshaus Klein-Zimmern Strukturen innerhalb der Bigband ➤ Jazzcombo ➤ Bläsercombo ➤ Integration von Jugendlichen aus Chor und Popband 4. Workshop Beginn der Arbeit mit Popbands, die nur aus Jugendlichen bestehen. Später ergänzt durch Bläser der Bigband. Strukturen innerhalb des Chores Großer und kleiner Chor mit Solisten, dessen Mitglieder in Bigband und Popband mitwirken. Begleitung durch Bigband und einzelne Bläser. Rhythmusgruppe der Bigband begleitet den Chor. 3. Workshop Gründung des Chores. 1. Workshop Gründung der Bigband. Abb. 3: Chronologische Entwicklung der BGH-Bigband 471 uj 11+12 | 2021 Ressourcenorientierte Pädagogik in der Jugendhilfe Als Beispiel für ein besonders gelungenes musikpädagogisches Projekt soll das Zitat aus einer kurzen Zusammenfassung des Musikpädagogen Norbert Plein zur 14-jährigen musikpädagogischen Arbeit der Bundesjugendhilfe- Bigband und des Bundesjugendhilfe-Chores dienen (Macsenaere/ Knab 2014): Chronologische Entwicklung Der Arbeitskreis Bundesjugendhilfe-Bigband, -Chor und -Popband, im Folgenden kurz BGH- Musikprojekt genannt, hat seinen Ursprung im ersten Workshop „Rock, Pop und Jazz in der Jugendhilfe - Transfer eines Modells in den pädagogischen Alltag“, der am 12. und 13. 9. 1990 im St. Josephshaus Klein-Zimmern stattfand. Unter den 29 TeilnehmerInnen gab es 12 Kollegen, die in der Jugendhilfe tätig sind und über genügend musikalische Vorkenntnisse verfügten, um auf einem relativ hohen Niveau arbeiten zu können: Die BGH-Bigband war geboren. Abbildung 3 verdeutlicht die weitere Entwicklung und gibt einen Überblick über die heutige Struktur des BGH-Musikprojektes. Schließlich hat dann die Kunstpädagogik (Esser/ Knab 2020), wenn auch mit erheblicher Verspätung, als ressourcenorientiertes Arbeitsfeld an Bedeutung gewonnen, wie die Arbeiten in den 90er Jahren unter Anleitung der Kunstpädagogin Ursula Goretzka im Jugendhaus Altes Kloster Marienberg zeigen. Aber auch hier gibt es in den 40er Jahren ein Beispiel für kunstpädagogische Vorläufer im Raphaelshaus in Dormagen, in dem der Künstler und Pädagoge Theodor Dörres im Jahre 1941 seine Tätigkeit begann. Er arbeitete besonders im sakralen Raum und förderte gleichzeitig viele Kinder und Jugendliche des Heimes. Als herausragendes Beispiel seiner Tätigkeit gilt der „Hütejunge Rudi Euterer“, der nach mündlicher Überlieferung ein Gedenken darstellt an einen halbjüdischen Jungen, der von der Gestapo entdeckt und in ein Vernichtungslager transportiert wurde (Emsbach 2017). Zum Begriff „Ressource“ Die Entwicklung in der stationären Erziehungshilfe hat inzwischen dazu geführt, dass Ressourcenorientierung als allgemein anerkannt Abb. 4: Wandmalerei, Gemeinschaftsprojekt „Altes Kloster Marienberg“, 1996 Abb. 5: Hütejunge Rudi Euterer, Raphaelshaus Dormagen 472 uj 11+12 | 2021 Ressourcenorientierte Pädagogik in der Jugendhilfe in den pädagogischen Arbeitsfeldern gesehen wird, gleichzeitig besteht aber keineswegs ein einheitliches Verständnis darüber, was Ressourcen sind und wie sie zu verstehen sind. Klemenz (2003, 19) unternahm als einer der ersten einen weit ausholenden Versuch, Ressourcen aus psychotherapeutischer Sicht zu definieren: „Unter Ressourcen werden die positiven Potentiale und Bedingungen verstanden, die dem Patienten zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse und zur Verfolgung von Identitätszielen verfügbar sind und die er als Kraftquellen auch in den therapeutischen Prozess einbringen könnte. Dazu gehören etwa motivationale Bereitschaften, Ziele, Wünsche, Interessen, Überzeugungen, Werthaltungen, Geschmack, Einstellungen, Wissen, Bildung, Fähigkeiten, Gewohnheiten, Interaktionsstile, physische Merkmale wie Aussehen, Kraft, Ausdauer, finanzielle Möglichkeiten, sowie zwischenmenschliche Beziehungen“. Für die Mehrheit der Fachleute können Ressourcen in personenbezogene und umgebungsbezogene Ressourcen unterschieden werden. Die Spannweite der Merkmale, die darunter gefasst werden können, reicht von der hohen Intelligenz und körperlichen Gesundheit eines Kindes bis zur familiären Unterstützung und einem positiven Gemeindeklima. Möbius (2010) unterscheidet 1. materielle, 2. soziale und 3. individuelle Ressourcen. Während er unter materiellen Ressourcen z. B. finanzielle Unterstützung, Gehalt oder Wohnraum versteht, sind soziale Ressourcen z. B. soziale Netzwerke und professionelle Unterstützungssysteme. Hierzu kann man z. B. Kontakte und Beziehungen auf verwandtschaftlicher oder freundschaftlicher Ebene zählen. Individuelle Ressourcen sind für ihn u. a. persönliche Kompetenzen und Talente wie z. B. Interessen oder Fähigkeiten. Nach Petermann und Schmidt (2006, 2009) gelten Ressourcen als „aktuell verfügbare - also nicht anderweitig gebundene, nicht mehr oder noch nicht verfügbare - Potenziale, die die Entwicklung unterstützen“ (2006, S. 119). Sie verweisen hier auf die 2003 eingeführte Achse V (= aktuelles Funktionsniveau eines Kindes) der multiaxialen Klassifikation psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters (Remschmidt/ Schmidt 2003). Erste Schritte der Inventarisierung und Diagnostik von Ressourcen Wie Ressourcen inventarisiert bzw. dokumentiert werden können, war nun die sich anschließende Fragestellung. Auch hier war der klinische Bereich zunächst richtungsweisend mit der Entwicklung des Berner Ressourceninventars, mit dem eine personenbezogene (hier PatientInnenressourcen) Inventarisierung ermöglicht wird. Trösken und Grawe (2003) sehen die zentralen Ressourcen der menschlichen Entwicklung in folgenden Bereichen: soziale Kompetenz; soziale Einbettung; familiäre Einbettung; emotionale Offenheit; Optimismus, Glück, Sinnerleben; Handlungskompetenz; Fähigkeit zur Bewältigung alltäglicher Belastungen; Fähigkeit zum autonomen Denken und Handeln; Motivation zur Selbstreflexion; Motivation zum Lernen; Offenheit in der Kommunikation; Phantasie und Kreativität; intellektuelle Begabung; Hobbys und Interessen; Akzeptanz eigener Bedürfnisse und Veränderungsmotivation. Das Ressourcenkonzept wurde somit ein fester Bestandteil in der Psychotherapieforschung. Die Ressourcenaktivierung als ein allgemeiner Wirkfaktor in der Psychotherapie war damit in der fachlichen Diskussion angekommen (Flückinger/ Wusten 2008). 473 uj 11+12 | 2021 Ressourcenorientierte Pädagogik in der Jugendhilfe Schulbereich: Lehrereinschätzliste Für den Schulbereich entwickelten Petermann und Schmidt (2006) eine Lehrereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten. Dieses Verfahren, das als besonders ökonomisch gilt, erfasst personenbezogene Ressourcen von SchülerInnen der Altersgruppe von 6 bis 19 Jahre. Es handelt sich dabei um zehn Bereiche (faktorenanalytisch bestätigt), zum einen um den Bereich „Sozialverhalten“ (z. B. Kooperation, Selbstkontrolle, Einfühlungsvermögen und Hilfsbereitschaft), zum anderen um den Bereich „Lernverhalten“ (z. B. Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer und Selbstständigkeit beim Lernen). Die Mehrheit der AutorInnen schlägt vor, sich in der Ressourcendiagnostik nicht nur auf ein Verfahren zu stützen, sondern Selbst- und Fremdbeurteilung miteinzubeziehen (Klemenz 2003). Als ressourcenorientiert wird eine Intervention dann definiert, wenn sie neben der Symptomreduzierung auch der Kompetenzentwicklung eine zentrale, vergleichbare Rolle einräumt (Petermann/ Schmidt 2006). Diagnostik Erst in den 1990er Jahren legten Schiepeck und Honermann (1997, zit. nach Klemenz 2003) einen Ressourcenfragebogen vor, in dem der/ die Befragte nach einer standardisierten Instruktion aufgefordert wird, eine offene Aufzählung seiner/ ihrer Ressourcen vorzunehmen. Auch als Nebenprodukt der Erforschung von Risikofaktoren wurden Ressourcen im Rahmen von Interviews eruiert, z. B. in der Risikokinderstudie in Mannheim (Laucht/ Esser/ Schmidt 1999). In der Folge der Jugendhilfe-Effekte-Studie (Schmidt et al. 2002) haben Schneider und Pickartz (2004) ein Verfahren zur Erfassung von Ressourcen entwickelt. Sie untersuchten 39 Personen und 56 umgebungsbezogene Merkmale oder Mechanismen, denen nach aktuellem Forschungsstand eine protektive Wirkung zugeschrieben werden kann. Dieses Instrument ist geeignet zur Fremdbeurteilung von Kindern bzw. Jugendlichen durch Eltern bzw. pädagogische MitarbeiterInnen. Impulse durch Forschungsrichtungen Es waren mehrere Forschungsrichtungen, die dem Ressourcenkonzept wichtige Impulse verliehen haben: die Resilienzforschung, die Copingforschung und die Psychotherapieforschung. Die Resilienzforschung Die Resilienzforschung befasst sich mit der Fragestellung, warum Personen, obwohl sie starken Belastungen ausgesetzt sind, gesund bleiben bzw. nur vorübergehend minimal geschädigt werden. Demgegenüber stehen Personen, die bei gleicher Belastung schwer erkranken. Werner und Smith (1982) haben diese psychische Widerstandsfähigkeit in der Kuauaistudie erstmalig nachgewiesen. In einer über 30 Jahre laufenden Langzeitstudie wurden auf der Insel Kauai die Lebensläufe von 700 Kindern begleitet. Die Entwicklung eines Teiles der Kinder verlief aufgrund großer familiärer Belastungen negativ, ein anderer Teil entwickelte sich trotz gleicher Belastungen erstaunlich positiv. Es konnten in den Lebensläufen dieser Kinder protektive Faktoren, also schützende Faktoren gefunden werden, z. B. zusätzliche Pflegepersonen, die die Belastungen minderten oder nahezu vollständig auffingen. Die Copingforschung Mit Bewältigung bzw. „Coping“ bezeichnet Lazarus alle „efforts, both actionoriented and intrapsychic, to manage, (that is, master, tolerate, reduce, minimize) environmental and internal demands, and conflicts among them, with tax or exceed person's resources“ (Lazarus 1979, 219). 474 uj 11+12 | 2021 Ressourcenorientierte Pädagogik in der Jugendhilfe Hierbei geht Lazarus davon aus, dass die Steuerung und Interpretation der Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt auf kognitiven Faktoren, d. h. auf Bewertungsprozessen des Individuums, beruht. Es gibt nach Lazarus zwei Arten von Bewertungen, die „primary appraisel“ und die „secondary appraisel“. Die beiden Prozesse unterscheiden sich insofern inhaltlich, als die primäre Bewertung feststellt, welche Bedrohung von einem Ereignis ausgeht, während die sekundäre Bewertung die eigenen Bewältigungsressourcen und Möglichkeiten insofern erfasst, ob sie für das Ereignis angemessen sind. Beide Bewertungen beeinflussen sich gegenseitig. Die Psychotherapieforschung In neueren Therapievergleichsstudien bei Erwachsenen zeigt sich, dass eine Beschränkung auf eine Störungsperspektive im diagnostischen und therapeutischen Prozess problematisch zu sehen ist. Dabei werden offenbar gesunde Anteile der KlientInnen vernachlässigt, die große Bedeutung für den therapeutischen Verlauf haben. In Meta-Analysen zu Therapiestudien konnten Grawe et al. (1994) feststellen, dass Therapieeffekte umso eher ermöglicht wurden, je besser neben den Störungen auch die Ressourcen der PatientInnen erfasst und gefördert wurden. Ressourcen sind nach Meinung Graves die Grundlage für eine bessere Bearbeitung der Defizite und tragen zur Verbesserung des Wohlbefindens bei. Der im zweiten Teil dieses Beitrages zusammengefasste Ergebnisdatenbericht einer Online-Befragung zu sport-/ bewegungspädagogischen, musik- und kunstpädagogischen Angeboten in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe entwickelte sich aufgrund zahlreicher Beobachtungen vieler PädagogInnen im Heimerziehungsalltag über viele Jahre. So konnte z. B. immer wieder festgestellt werden, dass eine ganze Reihe von Kindern und Jugendlichen, die die klassischen Störungen und Defizite verhaltensgestörter Klientel zeigten, im sportlichen Bereich aber, was etwa die motorischen Grundeigenschaften wie Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer oder Koordination betraf, erstaunliche Leistungen erbrachten und damit Ressourcen aufweisen konnten, die sie mindestens auf einem vergleichbaren Niveau mit dem Durchschnitt ihres Jahrganges erscheinen ließ. Ähnliche Beobachtungen, wenn auch nicht in demselben Umfang, konnten im Bereich der musikpädagogischen und der kunstpädagogischen Förderung gemacht werden. Schließlich entwickelte sich der Gedanke, diese Erfahrungen mit einer Befragung zu dieser personenbezogenen Ressourcen-Trias in einer Vielzahl von stationären Einrichtungen empirisch zu belegen. Von der Praxis zur Praxisforschung: Erste Praxisforschung zur ressourcenorientierten Pädagogik - Ergebnisdatenbericht Im Laufe der 70er und 80er Jahre wurde das ressourcenorientierte Bewegungsangebot, angeregt durch das St. Josepshaus Klein- Zimmern, im gesamten Jugendhilfebereich Hessens systematisch erweitert durch die konsequente Förderung des Landesjugendamtes Hessen und des Hessischen Sozialministeriums. „Um eine größere fachliche Kompetenz in der Sportakrobatik und in ,motopädagogischer Akrobatik‘ zu erlangen, initiierte das St. Josephshaus 1985 in Zusammenarbeit mit dem Landesjugendamt Hessen (Herr Vogler) und unter der Leitung des Bundestrainers für Sportakrobatik, E. Novkov, eine Weiterbildung mit dem Ziel, die Fachübungsleiterlizenz für Sportakrobatik zu erwerben“ (Rusch 1991, 158). 475 uj 11+12 | 2021 Ressourcenorientierte Pädagogik in der Jugendhilfe Die erste Fachtagung „Motopädagogik in der Heimerziehung“ und Beiträge zur Theorie und Praxis der Bewegungserziehung im Heim für Verhaltensgestörte hatten gezeigt, dass zwar erste Ist-Stand-Daten über Bewegungspädagogik im Heim existierten, aber keine Ergebnisse dafür vorlagen, in welcher Weise und in welchem Ausmaß Motopädagogik wirkt (Knab 1985). Eine Arbeitsgruppe „Motopädagogik im Heim“ unter der Leitung der Professoren von Krampen und von Eye unternahm 1985 im St. Josephshaus Klein-Zimmern den Versuch, die Experimentalform eines Diagnoseinventars für Heimjugendliche zu entwickeln. Der Fragebogen für Jugendliche im Heim (FJH) und Einschätzungen durch die Erziehenden belegten zwar eindeutig die Beliebtheit motopädagogischer Angebote bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ließen im Kontrollgruppenvergleich aber keine eindeutigen Aussagen über die Veränderbarkeit von dissozialem Verhalten zu (Knab et al. 1985). Spätestens seit den 90er Jahren wurden sodann in der stationären Kinder- und Jugendhilfe Bewegungs-, Musik- und Kunstpädagogik als ressourcenorientierte Arbeitsfelder allgemein anerkannt und in der Form entwickelt, dass die Stärken der Klientel mit gut zu beobachtendem Erfolg gefördert werden können (Knab 1986, 1999). Mängel, z. B. Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Störungen, zu erfassen, sie zu diagnostizieren und in der Folge abzubauen, wurde nun zu einer langsamen, aber stetigen Neuorientierung bei den PädagogInnen. Auch im öffentlichen Bewusstsein wurden die KlientInnen nicht mehr in erster Linie als „Mängelwesen“ (Nestmann 1996, 359 - 376) angesehen, deren Defizite zu beseitigen bzw. zu reduzieren waren. In den folgenden Jahren setzte daher nun geradezu ein „Paradigmenwechsel“ ein. Diese Entwicklung hat in vielen Einrichtungen dazu geführt, dass Ressourcenorientierung als unbedingt notwendig in den pädagogischen Arbeitsfeldern angesehen wird. Um die generelle Bedeutung und praktische Umsetzung der ressourcenorientierten Pädagogik im stationären Bereich der Erziehungshilfe empirisch fundiert analysieren zu können, führte der Förderverein European-Charity-University e.V. (ECU) in Kooperation mit dem Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz (IKJ) im Jahr 2013 eine schriftliche Befragung von stationären Erziehungshilfeeinrichtungen durch. Die Untersuchung wurde ehrenamtlich geplant und durchgeführt (Klein/ Knab 2015). Insgesamt wurden 292 Einrichtungen aus dem Bereich der stationären Erziehungshilfe angeschrieben. Davon hat ein erfreulich hoher Anteil von 26 % (= 75 Einrichtungen) an der Befragung teilgenommen und Angaben zur Klientel, Prozessqualität und Ergebnisqualität ihrer ressourcenorientierten pädagogischen Angebote gemacht. Der überwiegende Anteil der Klientel ressourcenpädagogischer Fördermaßnahmen in den beteiligten Einrichtungen befindet sich im Jugendalter zwischen 14 und 18 Jahren. Die Verteilung deckt sich dabei weitestgehend mit der allgemeinen Altersverteilung von Kindern und Jugendlichen in stationären Jugendhilfemaßnahmen nach § 34 SGB VIII (Klein/ Knab 2015). Insofern kann die vorliegende Untersuchungsstichprobe auch im Hinblick auf das Merkmal „Alter“ als repräsentativ für die stationäre Jugendhilfe insgesamt gesehen werden. Fast alle Einrichtungen, die an der Untersuchung teilgenommen haben, machen sportbzw. bewegungspädagogische Angebote (s. Abb. 6). Die Häufigkeitsangaben zu musik- und kunstpädagogischen Angeboten liegen beide auf ähnlichem Niveau. Im überwiegenden Teil der Einrichtungen, die sport- / bewegungspädagogische Angebote machen, ist die ressourcenpädagogische Förderung als ein Bestandteil der Einrichtungskonzeption schriftlich fixiert und bleibt in seiner Durchführung somit nicht mehr allein der Beliebigkeit oder den persönlichen Interessen der pädagogischen Mitarbeitenden vorbehalten. 476 uj 11+12 | 2021 Ressourcenorientierte Pädagogik in der Jugendhilfe Forschungsperspektive Das hohe Interesse der PraktikerInnen an der Wirkungsforschung, das die o. a. Pilotstudie belegt, hat den Förderverein ECU in Kooperation mit dem IKJ die Planung einer weiterführenden Feldstudie in der Kinder- und Jugendhilfe in Angriff nehmen lassen. „Mit der geplanten Studie sollen folgende Zielstellungen verfolgt werden: ➤ Untersuchung der Wirksamkeit von ressourcenorientierter pädagogischer Förderung ➤ Identifizierung von Indikation und Wirkfaktoren von ressourcenorientierter pädagogischer Förderung ➤ Welche unmittelbaren Effekte auf die Kompetenz- und Verhaltensentwicklung von Kindern und Jugendlichen innerhalb der Fördereinheiten werden mithilfe der ressourcenorientierten Förderung erreicht? ➤ Welche Faktoren haben im Rahmen der ressourcenorientierten Förderung positiven oder negativen Einfluss auf die Kompetenz bzw. Verhaltensentwicklung von Kindern und Jugendlichen? ➤ Sind besonders erfolgversprechende Indikationen für die Durchführung spezifischer ressourcenorientierter Fördermaßnahmen identifizierbar? “ (Knab/ Klein 2017, 269). Die Studie soll eine Laufzeit von mindestens zwei Jahren haben und im Jahr 2022 beginnen. Die Datenerhebung soll einzelfallbezogen in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe erfolgen, die seit langer Zeit über ressourcenorientierte Förderungserfahrung verfügen (Sport-/ Bewegungspädagogik, Musikpädagogik und Kunstpädagogik). Es wird ein multiperspektivischer Ansatz im Rahmen eines Kontrollgruppendesigns angestrebt, der die Befragung der fördernden PädagogInnen sowie der geförderten Kinder und Jugendlichen miteinschließt. Ausblick Die geplante Studie versucht, eine Lücke in dem Forschungsbereich der ressourcenorientierten Pädagogik zu schließen. Beteiligen kann sich jede Einrichtung, die ressourcenorientierte Fördermaßnahmen in den Bereichen Sport- / Bewegungspädagogik, Musikpädagogik und Kunstpädagogik anbietet. Aufgrund der ehrenamtlichen Tätigkeit der eingesetzten Forscher entstehen den beteiligten Einrichtungen über den Personaleinsatz Prozent 100 80 60 40 20 0 97 72 71 Sport-/ Bewegungspädagogik Musikpädagogik Kunstpädagogik n = 75 Abb. 6: Ressourcenorientierte Angebotsstruktur der teilnehmenden Einrichtungen 477 uj 11+12 | 2021 Ressourcenorientierte Pädagogik in der Jugendhilfe zur Datenerhebung hinaus keine finanziellen Belastungen, sodass zu hoffen ist, dass das Forschungsvorhaben von einer großen Anzahl an Anbietern stationärer Erziehungshilfemaßnahmen durch eine Beteiligung unterstützt wird. PD Dr. Eckhart Knab Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ), Mainz Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Universität zu Köln E-Mail: knab@ikj-mainz.de Literatur Cohen, F., Lazarus, R. S. (1979): Coping with the stresses of illness. In: Stone, G. C., Cohen, F., Adler, N. E. (Hrsg.): Health Psychologie. A Handbook. Jossey-Bass, San Francisco, 217 - 354 Emsbach, K. (2017): Kunst im Raphaelshaus. 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