unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art03d
11
2021
731
Interview mit einem jungen Volljährigen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe über Beteiligung
11
2021
Nadine Schildt
Im Spätsommer 2020 trafen wir uns mit Max, 19 Jahre, um mehr darüber zu erfahren, was er unter Partizipation versteht und wie er im Alltag seiner Wohngruppe Partizipation erlebt. Im Gesprächsverlauf wurde deutlich, dass für Max, der seit zehn Jahren in einer Wohngruppe lebt, besonders das Thema Beteiligung in der Hilfe- und Übergangsplanung eine wichtige Rolle spielt.
4_073_2021_1_0004
11 unsere jugend, 73. Jg., S. 11 - 14 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art03d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Max S. Jg. 2000 Nadine Schildt Jg. 1984; B. A. Sozialpädagogin/ M. A. Sozialmanagerin, IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe - Fachbereichsleitung Hilfen zur Erziehung & öffentliche Verwaltung Interview mit einem jungen Volljährigen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe über Beteiligung „Ich habe halt gesagt, was ich gerne hätte, wie es mit mir weitergehen soll, und das wurde eigentlich vom Jugendamt gepflegt ignoriert.“ Im Spätsommer 2020 trafen wir uns mit Max, 19 Jahre, um mehr darüber zu erfahren, was er unter Partizipation versteht und wie er im Alltag seiner Wohngruppe Partizipation erlebt. Im Gesprächsverlauf wurde deutlich, dass für Max, der seit zehn Jahren in einer Wohngruppe lebt, besonders das Thema Beteiligung in der Hilfe- und Übergangsplanung eine wichtige Rolle spielt. I: Wie lange lebst du jetzt in der Wohngruppe? M: Ich bin jetzt seit 2010 hier in der Einrichtung, also seitdem ich zehn Jahre alt bin. I: Was bedeutet für dich der Begriff Partizipation? Was verbindest du damit? Kannst du mit dem Begriff etwas anfangen? M: Äh. Das ist doch so zusammenarbeiten, im Prinzip, oder? I: Ja, Zusammenarbeit, Beteiligung von jungen Menschen. Also Mitsprache in vielen Dingen. M: Also das hat sich in den ganzen zehn Jahren um einiges verändert. I: Spannend. Erzähl mal, wie war das, als du eingezogen bist? Da warst du zehn. Wie hast du dich da beteiligt gefühlt? Wo durftest du mitbestimmen? Durftest du überhaupt mitbestimmen? M: Damals durfte man so gut wie gar nicht mitbestimmen. I: Das heißt? Hast du ein Beispiel? M: Der komplette Tag war im Prinzip von den Pädagogen vorgegeben und getaktet damals. I: Und gab es so etwas wie Gruppenbesprechungen oder Gruppensitzungen? M: Nein, nur unter den Pädagogen, aber nicht mit den Jugendlichen. 12 uj 1 | 2021 Beteiligung aus Sicht eines jungen Volljährigen I: Hättest du dir damals etwas anderes gewünscht? M: Damals gab es noch eine Mittagsruhe - nach dem Mittagessen bis ca. 16 Uhr. Da musste man auf dem Zimmer sein. Das hätte ich persönlich lieber anders gehabt. Dadurch hat man viel Zeit verloren, vor allem, wenn man keine Hausaufgaben hatte, weil man dann auch nicht aus dem Zimmer durfte. I: Was hast du in deinem Zimmer gemacht? M: Größtenteils gelangweilt, weil es damals mit den Handys auch noch nicht so locker war. Man hatte nichts mehr zu tun. Das war hier damals doof geregelt, um ehrlich zu sein. Aber das hat sich in den zehn Jahren geändert. Die Mittagsruhe wurde z. B. komplett entfernt. Alle zwei Wochen haben wir ein Gruppenforum, wo die Jugendlichen mit dem diensthabenden Pädagogen zusammensitzen und Sachen besprechen, die uns hier an der Gruppe stören, die wir gern geändert haben wollen. I: Wie ist deine Empfindung? Läuft es gut? Bist du damit zufrieden? M: [Überlegt] Ja, schon. Oft hängen wir hier und reden über total belanglose Sachen, obwohl manche wichtige Themen haben. Ich habe das Gefühl, dass die Jüngeren damit gar nichts anfangen können und eigentlich von dem Gruppenforum nur genervt sind und dass sie gar nicht merken, dass man hier auch irgendwie mitarbeiten kann. I: Hast du bestimmte Themen im Kopf, die ihr dort regelmäßig besprecht? M: Den Dienstplan z. B. Wir haben in unserer Gruppe festgelegte Ämter, z. B. Tisch abräumen oder Müll herausbringen. Das wird regelmäßig geändert. Vor allem, wenn gerade jemand aus der Gruppe rausgegangen ist oder neu reinkommt. I: D. h., ihr dürft bei den Ämtern mitbestimmen? M: Ja. Und wir bekommen auch vom Jugendamt 10 Euro pro Person zugesichert, die wir für irgendeinen Ausflug oder für Besorgungen ausgeben können. I: Also für Ausflüge oder Lebensmittel? M: Lebensmittel gehen auch, aber meistens so Sachen wie ein Ventilator oder DVD-Player oder solche Anschaffungen. I: Also für die Gruppen? M: Ja. I: Gibt es weitere Bereiche, bei denen du denkst, dass ihr da mitbestimmen oder entscheiden dürft? M: Hm. Sonst an sich eigentlich nicht so wirklich, weil sonst alles vom Team oder den diensthabenden Pädagogen geregelt wird. I: Gibt es Bereiche, in denen du gern mehr mitbestimmen würdest? M: Um ehrlich zu sein, nicht wirklich. I: Also ist es für dich so ok und du fühlst dich gut… M: Ja. So lange es die Möglichkeit geben wird, irgendwann mal unsere Themen anzusprechen, bin ich eigentlich zufrieden. I: Und alle zwei Wochen findet das Gruppenforum statt? Und es ist frei, was ihr da reden dürft? M: Ja. Wir dürfen im Prinzip ansprechen, was wir wollen. Nur hat man nicht allzu oft Sachen, die man als Jugendlicher von sich selbst auch sagt, weil man den Alltag mit Schule, Hausaufgaben, Freunde vollgestopft hat. I: Jetzt gerade bist du ja in einer besonderen Situation. Du musst bald ausziehen. Die Betonung liegt auf „muss“. Hast du das Gefühl, bei der Hilfeplanung ausreichend beteiligt worden zu sein? Sprich, wie es bei dir im Leben weitergeht. 13 uj 1 | 2021 Beteiligung aus Sicht eines jungen Volljährigen M: Äh. Geht so. Ich habe halt gesagt, was ich gerne hätte, wie es mit mir weitergehen soll, und das wurde eigentlich vom Jugendamt gepflegt ignoriert. I: Sag doch bitte nochmal kurz, in welcher Situation du dich aktuell befindest. M: Ich mache jetzt gerade Abitur, bin in der 13. Klasse, und würde eigentlich gern die Schule zu Ende machen. Das Problem ist, dass das Jugendamt gesagt hat, dass ich jetzt im November raus muss. Bevor ich dann meine Schule fertig habe, müsste ich mich um den ganzen Wohnungskram und all so etwas kümmern. I: Und warum musst du ausziehen? M: Weil das Jugendamt sagt, ich wäre jetzt zu alt und die Sachen, die ich jetzt machen müsste, müsste ich so oder so auch später machen und es wäre so ziemlich egal, wann ich das mache. Denen wäre es früher lieber als zu spät. I: Hast du gesagt, dass du dich für den Schritt noch nicht bereit fühlst? M: Ja. I: Und wie hat das Jugendamt reagiert? M: Da gab es keine wirkliche Reaktion. Meine Jugendamtsmitarbeiterin meinte nur, dass es nicht mehr in ihrer Hand liegen würde und es vom Ressourcenmanager oder so etwas abgesegnet wurde, dass ich rausfliege. I: Haben sie dir gesagt, was du dagegen tun kannst, sodass du vielleicht noch bleiben kannst? M: Nein. Dazu haben sie nichts gesagt. Die haben nur gesagt: „Dann musst du raus. Wir zahlen dann nicht mehr für dich.“ Ende im Gelände. I: D. h., du konntest nicht mitbestimmen, was weiter passiert? M: Nein. I: Da wurde für dich entschieden, was gut für dich ist? M: Ich konnte vor ein paar Monaten nur Vorschläge machen, aber im Endeffekt haben die entschieden. I: Was ist aus deinen Vorschlägen geworden? M: Die wurden gepflegt ignoriert. I: Es kam keine Reaktion mehr? M: Nein. Die meinen nur, dass die ganzen Argumente, die ich benutzt habe, in einem halben Jahr auch noch da wären. Die Sache ist, dass es eben nicht so wäre, weil ich dann die ganzen Abi-Klausuren schon hinter mir hätte. I: D. h., du hast Argumente geliefert, was du kannst oder was du nicht kannst? M: Ja. Wobei mir die Pädagogen eigentlich noch helfen sollten. I: Du hast also eher Sachen genannt, die du nicht kannst, warum du bleiben musst/ willst? Hast du dich dabei gut unterstützt gefühlt? Oder hättest du dir da mehr gewünscht? M: Ich hätte mir eigentlich mehr Unterstützung gewünscht. I: Dass man dir hilft, weiter in der Hilfe zu bleiben? M: Ja. Ich hatte mir eigentlich die Hoffnung gemacht, dass mir die Pädagogen bei Ausbildungssuche und Verträgen und all so etwas helfen können, und diese Hilfe wird mir jetzt größtenteils genommen. Die können mir noch bei Mietverträgen oder so etwas vielleicht helfen. Aber alles andere muss ich dann selbst machen, weil ich ab den nächsten Sommerferien auf mich allein gestellt bin. I: Hat dir das Jugendamt Nachbetreuung zugesichert? 14 uj 1 | 2021 Beteiligung aus Sicht eines jungen Volljährigen M: Ja, die man hat mir schon zugesichert. Das Problem ist, die haben höchstwahrscheinlich noch gar nichts in die Wege geleitet. Die haben eigentlich gesagt, dass ich den vor ca. einer Woche schon kennenlernen sollte. Aber es hat sich niemand zurückgemeldet. Gar nichts. I: Wer wird dich weiterbetreuen, weißt du das? M: Das weiß ich nicht, um ehrlich zu sein. I: Okay, d. h., du hast wenig Informationen? M: Ja. Die haben nur gesagt, dass ich jemand bekommen werde, aber haben keinen Namen genannt und nicht genau, wann ich diese Person kennenlernen würde. Nur hätte ich die laut deren Zeitfenster vor ungefähr einer Woche kennenlernen müssen. I: Haben sie dir gesagt, um was sich die Person mit dir kümmert? M: Ähm. Diese Person soll mir dann halt dabei helfen. Bei so Ausbildung, Verträgen und all so was. I: Und das hast du in deiner Zeit in der Wohngruppe nicht gelernt? M: Nein, weil das Problem ist, die Pädagogen haben in diesen zehn Jahren auch immer viel weniger Zeit für uns Jugendliche bekommen, weil sie größtenteils von der Verwaltung und all so was zu Büroleuten umgearbeitet werden und nicht mehr zu Erziehern. I: Hast du eine Idee, wie man das verändern könnte? M: Indem man nicht die ganze Zeit die Arbeit, die eigentlich im Früher wer anders erledigt hat - das damals auch da geklappt hat - auf die Pädagogen abwälzt. An sich haben diese ganzen Sachen vor zehn Jahren gut funktioniert, dass alles handschriftlich gemacht wird. Das ging für die Pädagogen viel schneller. Jetzt hocken die nur noch im Büro und haben höchstens ein, zwei Stunden Zeit für alle Jugendlichen im Haus. Früher konnte man sich den ganzen Tag an die Pädagogen richten. I: Gibt es etwas, über das wir noch nicht gesprochen haben, was dir noch wichtig ist oder was du loswerden möchtest? M: Überlegt. Also nicht, was mich an der Einrichtung stört oder so etwas. Nur eine Sache, die mich an den Jugendämtern stört: Nämlich dass die Jugendämter alle kreuz und quer und nicht wirklich miteinander arbeiten und es keine einheitliche Regelung für so etwas wie z. B. meinen Fall gibt. Im Vergleich zu mir und [Name 1] ist das Jugendamt [Stadt 1] viel großzügiger und würde [Name 1] noch viel länger hier lassen, nur [Name 1] will jetzt im September, in diesem Monat, raus. I: Und das ist nicht fair? M: Nun ja. Man denkt, dass [Name 1] nicht mal wirklich - im Vergleich - so Stresssituationen wie ich hat, weil ich habe jetzt noch meine ganze Schullaufbahn. Dann finde ich das schon unfair. I: Das kann ich gut nachvollziehen. M: Weil ich könnte die Unterstützung gebrauchen und bekomme sie nicht und [Name 1] wird sie zur Verfügung gestellt und [Name 1] nimmt sie nicht wahr. I: Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, den du da gerade erwähnst. M: Da fände ich es fairer, dass denen, die die Unterstützung brauchen, sie auch zugestanden wird, und dass es nicht von Jugendamt zu Jugendamt spontan entschieden wird.
