eJournals unsere jugend 73/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art07d
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Gesellschaftliche Modernisierung der Jugend- und Heimerziehung und die Ausbildung sozialpädagogischer Fachkräfte

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Matthias Moch
„Du kannst Dir nicht vorstellen, wie dumm ich mir vorkomme, wenn ich meinen Kindern etwas über Verpflichtung erzähle. Es ist für sie eine ganz abstrakte Tugend, die sehen sie nirgendwo.“ Dieses Zitat des amerikanischen Soziologen Richard Sennett aus seinem Buch „Der flexible Mensch“ (1998, S. 29) kann als Leitlinie für die folgenden Gedanken gelten. Angesprochen ist damit ein generelles Grundproblem sozialpädagogischer Arbeit, nämlich die oftmals sehr große Diskrepanz zwischen offizieller Programmatik und alltäglich erlebbarer Praxis der Unterstützung und Förderung junger Menschen. Denn die Arbeit von Fachkräften mit jungen Menschen ist vielfach eingebettet in übergreifende gesellschaftliche Problemlagen, in besonderer Weise in die Lebenslagen junger Menschen. Der Auftrag, den sozialpädagogische Institutionen anzunehmen haben, liegt in der Frage, wie sich – im Wissen um diese Dinge – der alltägliche Austausch zwischen ErzieherInnen und jungen Menschen konkret gestaltet. Der Erfolg aller öffentlich verantworteten Erziehung angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit, der Effizienz und den Kompetenzen, welche die Fachkräfte auf allen Ebenen in die Gestaltung der Lebenssituationen junger Menschen einbringen können.
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28 unsere jugend, 73. Jg., S. 28 - 31 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art07d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Gesellschaftliche Modernisierung der Jugend- und Heimerziehung und die Ausbildung sozialpädagogischer Fachkräfte „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie dumm ich mir vorkomme, wenn ich meinen Kindern etwas über Verpflichtung erzähle. Es ist für sie eine ganz abstrakte Tugend, die sehen sie nirgendwo.“ Dieses Zitat des amerikanischen Soziologen Richard Sennett aus seinem Buch „Der flexible Mensch“ (1998, S. 29) kann als Leitlinie für die folgenden Gedanken gelten. Angesprochen ist damit ein generelles Grundproblem sozialpädagogischer Arbeit, nämlich die oftmals sehr große Diskrepanz zwischen offizieller Programmatik und alltäglich erlebbarer Praxis der Unterstützung und Förderung junger Menschen. Denn die Arbeit von Fachkräften mit jungen Menschen ist vielfach eingebettet in übergreifende gesellschaftliche Problemlagen, in besonderer Weise in die Lebenslagen junger Menschen. Der Auftrag, den sozialpädagogische Institutionen anzunehmen haben, liegt in der Frage, wie sich - im Wissen um diese Dinge - der alltägliche Austausch zwischen ErzieherInnen und jungen Menschen konkret gestaltet. Der Erfolg aller öffentlich verantworteten Erziehung angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit, der Effizienz und den Kompetenzen, welche die Fachkräfte auf allen Ebenen in die Gestaltung der Lebenssituationen junger Menschen einbringen können. von Prof. Dr. Matthias Moch Jg. 1954; Studium der Psychologie (Uni Marburg), Promotion in Erziehungswissenschaften (Uni Tübingen), seit 2004 Studiengangsleitung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart, Fakultät Sozialwesen. Forschungsschwerpunkte: Lebensweltorientierte Erziehungshilfen, Kompetenzentwicklung in Sozialer Arbeit, Kinderschutzfragen Heutige Jugend- und Heimerziehung - Entwicklung von Ansprüchen Diversität achten - Individualität fördern Alle pädagogischen Institutionen laufen Gefahr, personenübergreifende Standards für die Bewältigung von Alltagssituationen zu entwickeln. Und in der Tat sind sie darauf an- 29 uj 1 | 2021 Modernisierung der Heimerziehung gewiesen, das Tagesgeschehen von Gruppen effektiv zu organisieren. Jedoch stellt sich die Frage, inwieweit der/ die einzelne Jugendliche als individuelle Person mit eigener Geschichte, eigenen Vorhaben, individuellen Fähigkeiten und Plänen wahrgenommen wird. Warum dies eine besondere Anforderung an die Jugend- und Heimerziehung ist, liegt auf der Hand: Das alltägliche Leben in einer Gruppe ist heutzutage außergewöhnlich und das Familienleben höchst individuell organisiert. Welche Ansprüche kann da eine Gruppe überhaupt noch an den Einzelnen stellen? Welche Maßstäbe können hier angelegt werden? Gewiss bietet die Gruppe vieles: Schutz, Verpflegung, Hilfe bei Schwierigkeiten, sozialen Austausch, ein Zuhause. Und doch ist jeder und jede dem sozialen Vergleich mit einer Umgebung ausgesetzt, in welcher das Eigene der Person, das Profil, das Ausscheren und Nichtangepasst-Sein einen zunehmend hohen Stellenwert hat. Strukturen flexibel gestalten Herausforderungen an Erziehungshilfen sind schon deshalb vielfältig, weil sich Rahmenbedingungen und Lebensformen ständig ändern. Wenn neue Bedarfe entstehen, unerwartete Probleme aufkommen und veränderte Zielgruppen in den Blick genommen werden müssen, stellen sich immer auch strukturelle Fragen, die dem/ der TrägerIn, aber auch den Fachkräften ein erhebliches Maß an Flexibilität abverlangen. Für die stationäre Jugendhilfe bedeutet dies in erster Linie, dass weiterhin differenzierte Wohnformen entwickelt und erprobt werden. Die Integration von Familien in stationäre und teilstationäre Betreuungsformen stellt ebenfalls eine besondere Herausforderung dar. Zudem müssen Institutionen für Kinder, Jugendliche und Familien zukünftig verstärkt gemeindenahe Dienste sowie differenzierte Einzelmaßnahmen umfassen. Interdisziplinäre Synergien nutzen Viele Problemlagen heutiger Heimerziehung sind so gelagert, dass sie nur durch die Zusammenarbeit mehrerer Disziplinen angegangen und bewältigt werden können. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die Hintergründe der Probleme komplex und damit die Zuständigkeiten vielfältig sind. Zum anderen spielt aber auch das vertiefte Wissen über die Schwierigkeiten eine Rolle. Mehr und mehr vordringlich sind psychiatrisch auffällige Entwicklungsverläufe junger Menschen, denen nach medizinischem Modell Krankheitswert zukommt. Einen weiteren Kooperationskontext bildet die Zusammenarbeit mit Justizorganen. Eine zentrale Grundlage sozialpädagogischer Arbeit ist der soziale Austausch, wobei moderne Kommunikation immer häufiger mittels digitaler Medien erfolgt. Überhaupt sind die Lebenswelten junger Menschen, ihre soziale Einbettung und ihr Informationsstatus ganz entscheidend von der Nutzung digitaler Medien geprägt. Der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, das Bereitstellen von Wissen, der Transfer zwischen Kenntnissen und Lebenspraxis - dies sind elementare pädagogische Aufgaben, die in Kooperation mit Schulen erfolgen. Ausbildung der Fachkräfte Praxisintegration Praxisintegrierende Ausbildung hat in Deutschland eine lange Tradition und ist in allen Branchen verbreitet. In Bezug auf die Aus- und Fortbildung stellt Praxisintegration nicht nur ein Übungsfeld dar, sondern bietet vielfache Gelegenheit zur fachlichen Reflexion. Im Unterschied zur Unterweisung in einem technischen Beruf ist Praxisintegration in der Sozialen Arbeit durch die Besonderheit einer „Lernkaskade“ gekennzeichnet: Zunächst sollen die Lernenden zu eigenen Entwicklungen und Lernprozessen angeregt und gefördert werden. Sodann 30 uj 1 | 2021 Modernisierung der Heimerziehung sollen sie junge Menschen in deren Entwicklung anleiten und fördern. Ähnliche Prozesse finden also auf unterschiedlichen Ebenen statt. Das bedeutet, dass im Lehrbetrieb prinzipiell dieselben Vorgänge wie in der erzieherischen Praxis in der Einrichtung ablaufen, wenngleich mit unterschiedlichen Ansprüchen an die Beteiligten. So gesehen ist die Trennung von Theorie und Praxis eine künstliche. Denn Lehre ist ja selbst Praxis! Fallreflexion Im erzieherischen Alltag geschieht es immer wieder, dass Dinge anders als geplant laufen. Praxisintegration bietet die einzigartige Möglichkeit, das praktische Erleben als Reflexionsfolie für diese Diskrepanz zu nutzen. Angehende Fachkräfte können daher direkt „am Fall“ ihre eigenen Denkmuster, Absichten und „blinden Flecke“ in reflexiver Weise in Augenschein nehmen. Dabei ist es keineswegs die Alltagsroutine, die besonders lehrreich ist, sondern vielmehr die vielen Überraschungen und (leider) auch Enttäuschungen, die der pädagogische Alltag bereithält. Überall dort, wo Handlungsergebnisse von den Erwartungen abweichen, bietet sich eine Lernchance. Die Lernenden brauchen dabei aktive Unterstützung, indem sie dazu ermutigt werden, alternative Handlungsweisen zu entwickeln, zu erproben und diese mit der anleitenden Fachperson zu erörtern. Lehrreich kann eine Praxis nur dann sein, wenn eigene Vorstellungen vom Handeln bewusst zum eigenen Erleben in einer konkreten Situation in Beziehung gesetzt werden. Kernelement fachlicher Praxis Obwohl das Modell der praxisintegrierenden Ausbildung selbstverständlich erscheint, fällt es vielen Erziehungshilfeeinrichtungen schwer, sich explizit als Ausbildungszentrum zu verstehen. Alltagspraxis im Heim, in der jugendpsychiatrischen Station und in der Familienhilfe wird begleitet von hohem Druck zu schnellen und routinierten Lösungen. Im Alltagsgeschäft bleibt meist wenig Raum zum Ausprobieren neuer Konzepte und zum Heranziehen hilfreicher Theoriebausteine. Grundlegend für eine gelingende Praxisausbildung ist jedoch der Informationsstand der ausbildenden Fachkräfte selbst. Welche Konzepte bestehen in der Einrichtung im Umgang mit spezifischen Problemen? Welche Kompetenzen sollen in der Praxis vermittelt werden? Welche Schlüsselprozesse bedürfen einer spezifischen Beobachtung und Anleitung? Nach einer Erhebung der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2016 wird ErzieherInnen im Vergleich zu anderen Sozialberufen ein Höchstmaß an Innovationsbereitschaft abverlangt. Einfache Routinen kommen im ErzieherInnenalltag so gut wie nicht vor (Hans-Böckler-Stiftung 2016, 104). Allerdings - und diesen Befund bestätigend - zeigt dieselbe Studie, dass ErzieherInnen den Eindruck haben, dass die ihnen aktuell gebotenen Ausbildungsinhalte nur eingeschränkt in ihrer Praxis verwertbar seien (Hans-Böckler-Stiftung 2016, 89). Folglich sollten aktuelle Praxisanforderungen einerseits und Ausbildungsinhalte andererseits stärker verzahnt werden. Ganz besonders sind angehende Jugend- und HeimerzieherInnen jedoch darauf vorzubereiten und mit Strategien zu versorgen, wie sie sich in einem rasant verändernden Arbeitsfeld fachlich auf dem Laufenden halten können. Professionalisierung von Lehr- und Lernbezügen Der Beruf des/ der Jugend- und HeimerzieherIn zeichnet sich durch eine eigenartige Widersprüchlichkeit aus, wie sie in anderen Sozialberufen viel seltener vorliegt: Einerseits kommt den individuellen Fähigkeiten und Ressourcen zur Bewältigung alltäglicher Aufgaben ein ab- 31 uj 1 | 2021 Modernisierung der Heimerziehung solut hoher Stellenwert zu. Andererseits sind ErzieherInnen stark - und mehr als andere Berufsgruppen - auf eine verbindliche Zusammenarbeit in einem Team (Moch 2019) sowie auf Unterstützung von Vorgesetzten angewiesen (Hans-Böckler-Stiftung 2016, 106). Wie ist angesichts dieser hohen Anforderungen ein wirklich förderlicher, herausfordernder, aber auch glaubwürdiger Unterricht möglich? Hier kommt wieder der Gedanke von Richard Sennett zum Tragen: „…wie dumm ich mir manchmal vorkomme“, den FachschülerInnen etwas über (etwa) pädagogische Grundprinzipien zu erzählen. Abstrakte Unterrichtsinhalte können nur insofern an das Erleben der FachschülerInnen anschlussfähig sein, als sie tatsächlich auch in der Lehrsituation selbst erlebt werden. Das bedeutet, dass die konkreten Erfahrungen, die die AusbildungskandidatInnen in der Lehrsituation machen, prägend sind für den Umgang mit ihren Zielgruppen in der Praxis. Prof. Dr. Matthias Moch Duale Hochschule Baden-Württemberg - Stuttgart Fakultät Sozialwesen Rotebühlstr. 131 70197 Stuttgart Homepage: http: / / wwwlehre.dhbwstuttgart.de/ ~moch/ E-Mail: matthias.moch@dhbw-stuttgart.de Tel.: (07 11) 18 497 37 Literatur Hans-Böckler-Stiftung (2016): Attraktivität und Zukunftsaussichten in den Berufsfeldern Pflege und Erziehung. Eigenverlag, Düsseldorf Moch, M. (2019): Kompetentes Handeln in stationären Erziehungshilfen. Springer, Wiesbaden Sennett, R. (1998): Der Flexible Mensch - die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin-Verlag, Berlin Prüfungsvorbereitung leicht gemacht: Mit den Lernkarten von Reinhardt J. Wabnitz üben Studierende der Sozialen Arbeit die Basics einfach und effektiv. Digitale Lernkarten für die kostenlose Lernsoftware Brainyoo gibt es zu den Themen: - Kinder- und Jugendhilferecht für die soziale Arbeit (978-3-8463- 0265-1); (978-3-8463-0266-8) mit integriertem E-Book Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit - Familienrecht für die soziale Arbeit (978-3-8463-0267-5); (978-3-8463-0268-2) mit integriertem E-Book Familienrecht für die Soziale Arbeit a www.reinhardt-verlag.de