unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art12d
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Gelungener SGB VIII-Reformentwurf vorgelegt
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Rolf Diener
Im vorliegenden Artikel wird der Reformentwurf des SGB VIII vor dem Hintergrund der praktischen Erfahrungen des Jugendamtes der Stadt Bremen beleuchtet und eingeordnet.
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59 unsere jugend, 73. Jg., S. 59 - 65 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art12d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Rolf Diener Jg. 1962; Diplom-Sozialarbeiter, Leiter des Jugendamtes im Amt für Soziale Dienste Bremen Gelungener SGB VIII- Reformentwurf vorgelegt Im vorliegenden Artikel wird der Reformentwurf des SGB VIII vor dem Hintergrund der praktischen Erfahrungen des Jugendamtes der Stadt Bremen beleuchtet und eingeordnet. Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen ist Ergebnis eines umfangreichen, konstruktiven Dialogprozesses und wird aus Sicht eines kommunalen Jugendamtes als großer Schritt hin zu einer modernen, inklusiven, beteiligungsorientierten, präventiven und sozialräumlich organisierten Kinder- und Jugendhilfe gesehen. Er greift die wichtigsten fachlichen Entwicklungen insbesondere in den Bereichen Inklusion, Kinderschutz, Heimaufsicht, Beteiligung und Partizipation sowie präventive Arbeit im Sozialraum auf. Der Entwurf in seiner Gesamtheit und insbesondere der Weg in Richtung einer inklusiven Lösung der Angebote aller Leistungen für Kinder und Jugendliche in der Hand des Jugendamtes wird sehr begrüßt. Auch wenn auf Grundlage der deutlichen, relativ einheitlichen fachlichen Positionierungen ein noch ambitionierterer Schritt und eine kürzere Umsetzungsfrist wünschenswert gewesen wären, sollte jetzt alle Energie darin gesetzt werden, den Entwurf noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden. Inklusion Der Gesetzentwurf stellt einen wichtigen und vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) überfälligen Meilenstein hin zu einer inklusiven Jugendhilfe dar. Zur Zusammenführung aller Leistungen für Kinder und Jugendliche unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe und damit im kommunalen Jugendamt hat es im Vorfeld einen intensiven fachlichen Diskurs zwischen der Eingliederungs- und Jugendhilfe gegeben, in dem sich beide Unterstützungssysteme in ihren Grundhaltungen und Verständnissen stark angenähert haben. Für junge Menschen gilt der Leitsatz „Kinder sind in erster Linie Kinder“, d. h. auch Kinder und Jugendliche mit Einschränkungen und Handicaps sind in erster Linie Kinder und Jugendliche, die sich zu eigenverantwortlichen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) entwickeln wollen und sollen. Hierbei sollen sie durch die Jugendhilfe in ihrer individuellen, sozialen Entwicklung geför- 60 uj 2 | 2021 Gelungener SGB VIII-Reformentwurf vorgelegt dert und ihre Eltern bei der Erziehung beraten und unterstützt werden. Grundlage war der neue Behinderungsbegriff; dass sich der Teilhabebedarf eines Menschen aus der Wechselwirkung zwischen persönlichen Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren ergibt (§ 2 Abs. 1 BTHG) und damit stets vom persönlichen, sozialräumlichen Umfeld mit definiert wird. Behinderungen von jungen Menschen bedeuten in vielen Fallkonstellationen eine zusätzliche erzieherische Herausforderung für die Eltern. Daher ist die Zusammenführung der Leistungen im SGB VIII folgerichtig. Schon in der heutigen Praxis kann Familien nur schwer erklärt werden, warum ein geringes Steigen oder Sinken des IQ über oder unter die Schwelle 70 den Wechsel in ein anderes Unterstützungssystem mit anderen Leistungsanbietern, gesetzlichen Grundlagen, Heranziehungsbedingungen, örtlichen Zuständigkeitsregelungen etc. bedeutet, wo sich doch an den konkreten Bedarfen des Kindes und der Eltern nur Unwesentliches ändert. Der vorliegende Gesetzesentwurf nimmt die Ergebnisse der o. g. Debatten der Jugend- und Eingliederungshilfe hervorragend auf. Als grundlegender Leitgedanke findet die Inklusion in vielen Teilbereichen wie der Jugendarbeit (§ 11 Abs. 1 SGB VIII-E), Tagesbetreuung (§ 22 Abs. 2 SGB VIII-E) sowie bei der Jugendhilfeplanung Berücksichtigung. Vor dem Hintergrund des in der UN-BRK und UN-Kinderrechtskonvention verankerten „Normalitätsprinzips“ und der Inklusion als gesellschaftlichem und politischem Ziel ist so viel Normalität in den Lebenswelten und Sozialräumen (z. B. Kita/ Schule) anzustreben wie möglich. Daher gilt es, zur Umsetzung einer umfassenden Teilhabe in erster Linie Regeleinrichtungen zu stärken und in Einzelfällen lediglich dort zusätzlich erforderliche Unterstützungen zur Erreichung einer umfassenden Teilhabe zu organisieren, wo die Stärkung der Regelsysteme nicht ausreicht. In der weiteren Konkretisierung bis zur vollständigen Umsetzung des Zeitplans 2028 wird es daher darum gehen, flexible, auf die Bedarfe im Einzelfall im jeweiligen Sozialraum zuzuschneidende Unterstützungsformen zu entwickeln. Vor dem Hintergrund des breiten fachlichen Konsenses wäre allerdings eine ambitioniertere Zeitplanung als der vorgelegte dreistufige Rahmen bis 2028 mit dem Zwischenschritt der Einführung von Verfahrenslosten (2024) angemessen gewesen. Bremen (und viele andere Jugendämter) kann hier auf jahrelange erfolgreiche Erfahrungen der Dienstleistungen für junge Menschen < 18/ 21 Jahren unter dem Dach des Jugendamtes zurückblicken. Auch wenn nachvollziehbar ist, dass in einigen Bundesländern strukturelle Veränderungen erforderlich sind, wäre aus Sicht des Jugendamtes Bremen zu begrüßen, wenn die positiven Erfahrungen einer inklusiven Struktur schneller weiterentwickelt werden könnten. Dies könnte über vom Bund unterstützte Modellprojekte beschleunigt werden, in denen einzelne Stufen oder Teile, z. B. die Verfahrenslotsen, schneller umgesetzt werden und deren Erfahrungen in die Präzisierung der nächsten Schritte einfließen könnten. Prävention im Sozialraum Im Gesetzesentwurf wird der sozialräumliche Ansatz durchaus gestärkt, u. a. über die Familienförderung im § 16 SGB VIII-E („Dabei soll die Entwicklung vernetzter, kooperativer und sozialraumorientierter Angebotsstrukturen unterstützt werden“), die Möglichkeit des niedrigschwelligen Zugangs auch ohne eigene Hilfeplanung (§ 36 a SGB VIII-E) und die Stärkung der Verantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe zur Planung und Bereitstellung von niedrigschwelligen ambulanten, sozialräumlichen Angeboten im Rahmen der Jugendhilfeplanung (§ 80 Abs. 3 i. V. m. § 36 a Abs. 2 SGB VIII-E). Auf Basis der mehrjährigen Erfahrungen mit ressourcen-, lösungs- und sozialraumorientierten Ansätzen und der Ausweitung sozialräum- 61 uj 2 | 2021 Gelungener SGB VIII-Reformentwurf vorgelegt licher, präventiver Angebote in einigen Kommunen (u. a. in Bremen mit dem Modellprojekt ESPQ [Erziehungshilfe, Soziale Prävention und Quartiersentwicklung] und der flächendeckenden Umsetzung im Rahmen der Jugendamtsweiterentwicklung [JuWe]) wäre aber eine noch stärkere, breitere Verankerung wünschenswert gewesen. Die in Teilen wissenschaftlich begleiteten (Modell-)Projekte (u. a. in Bremen, Nordfriesland, Hamburg, Stuttgart, Graz) haben sich in Bezug auf die Familien sowie monetär als erfolgreich erwiesen. Eine noch deutlichere Verankerung der Finanzierungsmöglichkeiten für sozialräumliche fallübergreifende und -unspezifische Angebote würde eine solidere Basis für die Absicherung der positiven Erfahrungen bieten. Entsprechende Angebote können zwar auf jetziger Gesetzesbasis umgesetzt werden, sind aber in vielen Kommunen von der Kassenlage oder Durchsetzungsfähigkeit der Jugendämter bei der Mittelverteilung abhängig. Die auf entsprechende Empfehlungen der Arbeitsgruppe Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern zurückgehende Verlagerung der Betreuung und Versorgung von Kindern in Notsituationen im neuen § 28 a SGB VIII-E soll einen flexibleren, einfacheren Zugang ermöglichen. Dies wird begrüßt. Allerdings leuchtet nicht ein, warum der Querverweis auf die (professionell begleiteten) ehrenamtlichen Kräfte sich lediglich auf den Bereich der Betreuung und Versorgung von Kindern in Notsituationen (§ 28 a SGB VIII-E) bezieht. In Bremen und anderen Modellprojekten konnten ermunternde Erfahrungen mit dem Einsatz von durch Fachkräfte begleiteten ehrenamtlichen, semiprofessionellen Kräften gesammelt werden. Auf der fallbezogenen Ebene stellt die ausdrücklich erwähnte Kombinationsmöglichkeit unterschiedlicher Hilfearten (§ 27 Abs. 2 SGB VIII-E) eine Klarstellung dar, die die grundsätzlich schon vorhandenen Möglichkeiten für differenzierte, flexible Unterstützungsleistungen weiter stärkt. Kinder- und Jugendschutz Die Weiterentwicklung des Betriebserlaubnisverfahrens nach 45ff SGB VIII inkl. der Aufnahme der Erziehungsstellen in die Betriebserlaubnispflicht stellen notwendige, erforderliche Anpassungen an die fachlichen Erfordernisse dar. Insbesondere die Informationspflicht zwischen belegenden örtlichen Jugendämtern und betriebserlaubniserteilenden überörtlichen Trägern wird als erforderlich angesehen. Hier hat es in der Praxis immer wieder Unsicherheiten darüber gegeben, welche Informationen beispielsweise über die Beschäftigung ungeeigneten Personals weitergegeben werden dürfen. Bremen musste in den letzten Jahren zwei Insolvenzen von Jugendhilfeträgern mit entsprechenden Folgewirkungen erleben. Vor diesem Hintergrund ist die Einfügung des Nachweises einer ordnungsgemäßen Buch- und Aktenführung und entsprechenden Aufbewahrungsfristen zu begrüßen (§ 45 Abs. 3, S. 1 Nr. 3 SGB VIII-E). Das Ziel der Verbesserung der Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen deckt sich mit der Einschätzung fachlicher Bedarfe und wird daher im Grundsatz unterstützt. Allerdings wird die Veränderung im Rahmen des § 4 KKG-E als falsches Signal für die Praxis bewertet. Auch wenn dem Jugendamt eine zentrale Rolle im Prozess der Gefährdungseinschätzung zukommt, sollte eine Gefährdungsmeldung an das Jugendamt erst erfolgen, wenn eigene fachliche Handlungsoptionen ausgereizt sind. Berufsgeheimnisträger sollten weiterhin zunächst selbst mit dem Kind/ Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken. Die eigene Handlungsverantwortung der Berufsgeheimnisträger ist ein wichtiger Erfolgsbaustein für ein wirksames Kinderschutzsystem in gemeinsamer Verant- 62 uj 2 | 2021 Gelungener SGB VIII-Reformentwurf vorgelegt wortung über die Institutions- und Professionsgrenzen hinweg. Nicht umsonst lautet der Leitsatz hier in Bremen: „Wir schützen Kinder gemeinsam gern.“ Die Rückmeldeverpflichtung in §4 Abs. 4 KKG-E sollte so präzisiert und klargestellt werden, dass Art und Umfang der Rückmeldung in der fachlichen Einschätzung und Verantwortung des Jugendamtes liegen, um nicht falsche Erwartungen zu wecken. In sensiblen Kinderschutzverfahren müssen Einzelfallentscheidungen getroffen werden, um den Schutz des Kindes sicherzustellen. Daher sollte zwischen einer „Eingangs“-Rückmeldung und im Bedarfsfall ggf. erforderlichen differenzierten Einbeziehung in ein Schutzkonzept in der Federführung des Jugendamtes unterschieden werden. Die bei ÄrztInnen bereits vorhandene Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt wird dadurch, dass ihnen die Kooperationstätigkeit nicht vergütet wird, in der Praxis gebremst. Vor diesem Hintergrund sind die im neuen § 73 c SGB V-E vorgesehenen Kooperationsvereinbarungen zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und kommunalen Spitzenverbänden über die Zusammenarbeit von VertragsärztInnen mit Jugendämtern eine wichtige Weiterentwicklung. Allerdings irritiert die Beschränkung auf Kindeswohlgefährdungen, da die Kooperation in der jugendamtlichen Praxis im Einzelfall sowie strukturell breiter angelegt ist. In Bremen gibt es seit Jahren dezentrale Netzwerke des Jugendamtes mit den KinderärztInnen bzw. diese sind in multiprofessionelle dezentrale Kinderschutznetzwerke eingebunden. Auch in Einzelfällen gibt es gute Kooperation deutlich unterhalb der Schwelle einer Kindeswohlgefährdung. Es wird befürchtet, dass vermehrt Stigmatisierungen auftreten und im ungünstigsten Fall Konstellationen vorschnell als Kindeswohlgefährdungen deklariert werden. Auslandsmaßnahmen Der wesentlich präzisere, die Qualität der Angebote sichernde Rahmen im neuen § 38 SGB VIII-E unter verpflichtender Beachtung der „Brüssel- Verordnungen“ (ursprünglich Brüssel-II a) und des Haager Kinderschutzübereinkommens wird vor dem Hintergrund der geführten Auseinandersetzungen über Sinn und Notwendigkeit von Maßnahmen im Ausland begrüßt. Die Erfahrung im Jugendamt Bremen zeigt, dass in einer begrenzten Zahl an Fällen Auslandsmaßnahmen eine sinnvolle, erforderliche Angebotsform sind, die häufig bei jungen Menschen, die schon viele Scheiterns- und Abbrucherfahrungen erleben mussten, zu Fortschritten bei der Persönlichkeitsentwicklung führen. Zu den aus Sicht des Jugendamtes Bremen zu unterstützenden qualitätssichernden Elementen zählen vor allem die verpflichtende Fortschreibung der Hilfeplanung vor Ort im Ausland und die Betriebserlaubnis des durchführenden Trägers für eine Einrichtung im Inland. Bremen und andere Jugendämter wenden die meisten bzw. ähnliche Qualitätskriterien bereits an. Die noch fehlende gesetzliche Regelung führt in Einzelfällen immer wieder zu nicht qualitätsgesicherten und -überprüften Angeboten und in der Folge zu skandalisierenden, in den öffentlichen Medien geführten Debatten, die diese ansonsten erfolgreiche, erforderliche Maßnahmeform in Misskredit bringen. Unterbringung außerhalb der eigenen Familie Zu begrüßen ist die Stärkung der Rolle der leiblichen Eltern unabhängig von der Personensorgeberechtigung und der explizite Anspruch auf Beratung, Unterstützung und Förderung der Beziehung zu ihrem Kind (§ 37 SGB VIII-E) inklusive der Förderung der Zusammenarbeit mit Pflege- und in den stationären Einrichtungen verantwortlichen Personen. Für die Praxis wird eine beratungsintensive Herausforderung darstellen, dies auch in Konstellationen mit unklarer oder nicht vorhandener Rückkehrperspekti- 63 uj 2 | 2021 Gelungener SGB VIII-Reformentwurf vorgelegt ve unter Wahrung der Interessen und des Willens der Kinder umzusetzen, denn die leiblichen Eltern bleiben für die Kinder stets auch Eltern. In diesem Zusammenhang ist die Prüfung der Einbeziehung der nichtsorgeberechtigten Elternteile in die Hilfeplanung in Abhängigkeit der Interessen (besser wäre hier gewesen, zusätzlich den Willen aufzunehmen) des jungen Menschen zu begrüßen, soweit dadurch der Hilfezweck nicht gefährdet wird. Zu begrüßen sind die Stärkung der Beratung und Unterstützung von Pflegepersonen in einem eigenen neuen § 37 a SGBVIII-E, die Einführung des eigenen § 37 b SGB VIII-E zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in Familienpflege und die Ausweitung der Entwicklung von strukturellen Schutzkonzepten im Rahmen der Qualitätsentwicklung auf die Familienpflege (§ 37 b Abs. 1 i. V. m. § 79 a, S. 2 AGB VIII-E). Ebenfalls positiv bewertet wird die im neuen § 37 c SGB VIII-E systematisch verankerte Perspektivklärung. Phasen der Unsicherheiten für den jungen Menschen sollten auf das notwendige Maß reduziert werden. Eine Rückkehroption auch nach längeren außerfamiliären Hilfeverläufen sollte dennoch möglich sein, wenn es das Wohl des Kindes erlaubt und eine Rückkehr dem altersangemessen geäußerten Willen des jungen Menschen entspricht. Letzterer sollte dabei handlungsleitend sein. Die Erfahrung zeigt, dass gerade in der Zeit der Identitätsfindung/ -krisen in der Pubertät ein Wille zur Rückkehr in das Herkunftssystem entstehen kann, dem unter entsprechenden Rahmenbedingungen und mit notwendiger Unterstützung für den jungen Menschen und die Eltern stattgegeben werden sollte. Die Neuregelungen zur Dauerverbleibensanordnung (§ 1632 BGB-E) inkl. des Rahmens für eine Aufhebung (§ 1696 BGB-E) stellen angesichts der zuvor teils ideologisch und politisch geführten Debatten einen guten Kompromiss dar. In der Praxis wird es darum gehen, Lösungen im Interesse der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu entwickeln. Weitere Qualifizierung der Hilfeplanung Auch in weiteren Aspekten der Qualifizierung der Hilfeplanung wird die aktuelle fachliche Debatte aufgenommen. Neben der stärkeren Beteiligung anderer Institutionen und Fachkräfte und der Qualifizierung der Beteiligung der Personensorgeberechtigten und jungen Menschen (§ 36 Abs. 1, S. 2 SGB VIII-E) ist insbesondere die stärkere Berücksichtigung der Geschwisterbeziehungen in der Hilfeplanung hervorzuheben. Gerade in Konstellationen, in denen Kinder aus ihren Herkunftsfamilien herausgenommen werden müssen, stellen Geschwisterbeziehungen meistens eine unterstützende, Halt gebende Ressource dar. Dies muss m. E. auch in Inobhutnahmesituationen berücksichtigt werden. Dass in der Praxis ein entsprechender Bedarf vorhanden ist, zeigt sich etwa darin, dass eine am Rande von Bremen in 2020 eröffnete Inhobhutnahmeeinrichtung für Geschwister die Nachfrage schon nicht mehr decken kann. Äußerst kritisch eingeschätzt werden die verpflichtende Vorlage des Hilfeplans im familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren sowie die Vorlage auf Anforderung in weiteren Verfahren (§ 50 SGB VIII-E), da sie den Sinn und Zweck des Hilfeplanverfahrens konterkarieren. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses und der Hilfeplanbeziehung zwischen Ratsuchenden und Jugendamt stellen so schon eine Herausforderung dar und würden bei einem „Durchreichen“ der Informationen an das Familiengericht weiter gefährdet. Außerdem liegt der Hilfeplan zu dem Zeitpunkt des familiengerichtlichen Verfahrens oft noch nicht vor bzw. wird unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Beratungen im familiengerichtlichen Verfahren erstellt. Hier hat es im Prozess „Mitreden - Mitgestalten“ mehrheitlich eine andere Positionierung gegeben. Die Informations- und Kommunikationsdefizite zwischen Jugendamt und Familiengerichten müssen auf anderen Wegen behoben werden. Es sollte eher auf struktureller Ebene die Kooperation weiterentwickelt werden, z. B. über (verpflichtende) gemeinsame Fortbildungen oder fest vereinbarte Kooperationsgremien. 64 uj 2 | 2021 Gelungener SGB VIII-Reformentwurf vorgelegt Care Leaver/ Übergangsmanagement Der Rahmen für die Arbeit mit jungen Volljährigen wird im Gesetzesentwurf an unterschiedlichen Stellen deutlich qualifiziert. Mit der Verstärkung des Hilfeanspruchs für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII-E) und der Nachbetreuung im § 41 a SGB VIII-E kann die Annäherung der bundesweit unterschiedlichen Gewährungspraxis perspektivisch erreicht werden. Bremen gehört zu den Jugendämtern, die überdurchschnittlich viele Hilfen nach § 41 SGB VIII gewähren. Hier wird der fachliche, konzeptionelle Weiterentwicklungsbedarf eher in der Differenzierung der Hilfen mit Optionen der degressiven Hilfegewährung, des „Ausschleichens“ oder „Gutschein“-Modellen gesehen. Die Kostenheranziehung von 25 % für junge Menschen in stationären Einrichtungen (§ 94 Abs. 6 SGB VIII-E) stellt vor dem Hintergrund der divergierenden Positionen einen guten Kompromiss dar. Nach meiner fachlichen Bewertung hätte ein gänzlicher Verzicht auf eine Kostenheranziehung einen negativen pädagogischen Effekt, gerade mit der Perspektive einer angestrebten Verselbstständigung im eigenen Wohnraum. Der Zuständigkeitsübergang in andere Sozialleistungssysteme für junge Menschen, die auch nach der Begleitung in der Jugendhilfe einen Unterstützungsbedarf haben, ist häufig eine Sollbruchstelle, an der es zu arbeitsintensiven, konfliktträchtigen Übergängen kommt. Oft kommt ein Übergang nicht zustande oder es kommt zu Abbrüchen mit für die i. d. R. jungen Erwachsenen negativen Folgen. Vor diesem Hintergrund ist die Einführung des § 36 b SGB VIII-E mit verpflichtender rechtzeitiger Planung und der als spätestens ein halbes Jahr vor dem geplanten Zuständigkeitsübergang definierten gemeinsamen Konferenz zu begrüßen. Hilfreich wäre eine ebenso gesetzlich normierte Verpflichtung bei anderen Sozialleistungsträgern. In der von einigen Fachleuten kritisch und kostensteigernd bewerteten „Coming-Back-Option“ (§ 41 Abs. 1, S. 3 SGB VIII-E: „Eine Beendigung der Hilfe schließt die erneute Gewährung oder Fortsetzung einer Hilfe…nicht aus“) werden Chancen gesehen. Hier sehe ich eher die positive Wirkung, dass alle Beteiligten (das Case Management im Jugendamt, der Träger, aber auch der junge Mensch) optimistischer und mutiger Verselbstständigungsschritte gehen können, wenn es möglich ist, in Teilbereichen erneute Unterstützung zu erhalten. In der Praxis wird immer wieder beobachtet, dass junge Menschen auch dann in stationären Angeboten verbleiben, wenn schon wesentliche Entwicklungsschritte vollzogen sind, aber dieVerselbstständigung noch nicht in allen Lebensbereichen funktioniert. Nicht unerwähnt lassen möchte ich meine Freude darüber, dass − anders als in einigen der ersten Entwürfe der alten Legislaturperiode bei Unterstützungsleistungen für junge Menschen − keine Sonderregelungen für unbegleitete minderjährige AusländerInnen mehr vorgesehen sind und die befürchtete Zwei-Klassen- Jugendhilfe somit ausgeblieben ist. Partizipation/ Beteiligung Die in § 4 a SGB VIII-E neu eingeführte Aufforderung zur Zusammenarbeit mit selbstorganisierten Zusammenschlüssen inkl. der Legaldefinition in Abs. 1 sowie die Anregung und Förderung dieser Zusammenschlüsse greift fachliche Debatten zur Stärkung der Subjektstellung von Kindern und Jugendlichen auf. Er wird inkl. der Möglichkeit, diese als beratende Mitglieder im JHA zu beteiligen, begrüßt. Gerade im Bereich der Care Leaver können hier neue fachliche Impulse der Betroffenen erwartet werden. Eine als ebenso erforderlich bewertete Erweiterung ist der eigenständige Beratungsanspruch von Kindern und Jugendlichen unabhängig vom Vorliegen einer Not- und Konfliktlage (§ 8 Abs. 3 SGB VIII-E), auch ohne Kenntnis oder Beteiligung der Personensorgeberechtigten. 65 uj 2 | 2021 Gelungener SGB VIII-Reformentwurf vorgelegt Ombudsstellen In Bremen existiert seit einigen Jahren eine unabhängige Ombudsstelle. Auch wenn hier für den Träger der öffentlichen Jugendhilfe kritische und anstrengende Debatten entstehen, ist die Einrichtung der Ombudsstelle (§ 9 a SGB VIII-E) in der Gesamtsicht positiv zu bewerten. Um eine breite Wirkung in den unterschiedlichen Systemen erzeugen zu können, hat sich in Bremen die Einrichtung eines begleitenden Beirates unter Beteiligung des Jugendamtes, der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, der örtlichen Hochschule und einer familiengerichtlichen Perspektive als hilfreich erwiesen. Die Einführung externer Beschwerdemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in Einrichtungen stärkt die individuelle Stellung und ist eine richtige Umsetzung der fachlichen Debatten (§ 45 SGB VIII-E). Der neu eingefügte § 10 a SGB VIII-E wird begrüßt. Er verpflichtet die Jugendämter, junge Menschen und Eltern in „einer für sie wahrnehmbaren Form“ zu beteiligen und stellt in erster Linie eine fachliche Herausforderung dar, die Beratung in einem AdressatInnen-gerechten Format und bei < 18-Jährigen altersangemessen durchzuführen. Personalausstattung der Jugendämter Die Umsetzung der Gesetzesreform bedeutet für die kommunalen Jugendämter einen deutlichen personellen Mehraufwand, u. a. aufgrund der an unterschiedlichen Stellen verstärkten Beratungsverpflichtungen, dem Einführen der Verfahrenslotsen sowie der Umsetzung der inklusiven Lösung. Neben einem quantitativen Aufwuchs entstehen zusätzliche Qualifizierungs- und Fortbildungsbedarfe. Diese quantitativen und qualitativen Anforderungen müssen bei der weiteren Entwicklung berücksichtigt und entsprechende Personalaufwüchse ermöglicht werden. Die Berechnung der Bedarfe sollte nicht auf eine reine Fallzahlrelation reduziert werden, da bereits viele Tätigkeiten im Sozialdienst jenseits kostenrelevanter Fälle erfolgen, z. B. die umfassende Beratung von Familien im Vorfeld einer möglichen Hilfe oder fallübergreifender, fallunspezifischer oder sozialräumlicher Arbeitsanteile. Ein Teil der qualitativen Verbesserungen des Gesetzes erfolgt, ohne dass die Fallzahlen für kostenpflichtige Hilfen steigen. Daher sollte die Berechnung der Personalbedarfe auf der Basis prozessorientierter Personalbemessungssysteme erfolgen, die die komplette Arbeit des ASD in den Jugendämtern abbilden. Finanzielle Folgewirkungen Die mit der SGB VIII-Reform und der inklusiven Lösung angestrebten Qualitätsverbesserungen können nicht ohne zusätzliche finanzielle Ressourcen umgesetzt werden. Die Kostenfolgenschätzung des Referentenentwurfes erscheint allerdings deutlich zu niedrig, siehe hierzu die entsprechende Stellungnahme des Deutschen Städtetages. Zur erfolgreichen Umsetzung der Gesetzesreform wird daher erforderlich sein, dass der Bund sich in einem angemessenen Rahmen an den finanziellen Mehraufwendungen beteiligt. Perspektivisch bin ich allerdings davon überzeugt, dass sich höhere Investitionen insbesondere in der Beratung oder im präventiven und sozialräumlichen Bereich mittel- und langfristig bei den Kosten der Kinder- und Jugendhilfe und langfristig in noch größerem Maße volkswirtschaftlich rechnen werden. Rolf Diener Amt für Soziale Dienste Bremen Breitenweg 29-33 28195 Bremen Tel. (04 21) 2 61-1 68 62 E-Mail: Rolf.Diener@afsd.bremen.de
