eJournals unsere jugend 73/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art15d
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2021
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Kein Platz für „Systemsprenger“ im neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz?

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André Neupert
Seit 2015 setzt sich die Initiative MOMO – The voice of disconnected youth für die Verbesserung der Lebenssituation von „Systemsprengern“ ein. In diesem Beitrag soll der Referentenentwurf des KJSG bewertet und die weiteren, notwendigen Weiterentwicklungsbedarfe gezeigt werden, um diesen jungen Menschen besser und vor allem schneller helfen zu können.
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80 unsere jugend, 73. Jg., S. 80 - 86 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art15d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kein Platz für „Systemsprenger“ im neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz? Eine Bewertung mit Hinblick auf die Bedarfe von entkoppelten jungen Menschen Seit 2015 setzt sich die Initiative MOMO - The voice of disconnected youth für die Verbesserung der Lebenssituation von „Systemsprengern“ ein. In diesem Beitrag soll der Referentenentwurf des KJSG bewertet und die weiteren, notwendigen Weiterentwicklungsbedarfe gezeigt werden, um diesen jungen Menschen besser und vor allem schneller helfen zu können. von Dipl.-Pol. André Neupert Projektleiter von MOMO - The voice of disconnected youth Berlin/ KARUNA e.V. 1. Einleitung Die sogenannten entkoppelten jungen Menschen dürfte es in Deutschland eigentlich gar nicht geben. Dennoch sehen sich obdach- und wohnungslose junge Menschen einer Vielzahl von Hürden und Hindernissen im Kinder- und Jugendhilfesystem sowie im Übergang in andere Unterstützungssysteme ausgesetzt. Aus eigenen Erfahrungen haben die MOMOs, wie sie sich selbst nennen, viele dieser strukturellen und systemischen Fehler identifiziert und entsprechende Verbesserungsvorschläge in Richtung der verantwortlichen PolitikerInnen auf Landes- und Bundesebene getragen. Durch mittlerweile sechs Bundeskonferenzen der Straßenkinder in Deutschland, an denen insgesamt etwa 500 betroffene junge Menschen, aber auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey teilgenommen haben, wurde versucht, das Problem der Jugendobdachlosigkeit in die Öffentlichkeit und die politische Debatte zu bringen. Letztlich mündete die Arbeit der letzten Jahre im Beteiligungsprozess Mitreden - Mitgestalten des Bundesfamilienministeriums und dem auch daraus entstandenen Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen - Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG). Die Jugendhilfe funktioniert für viele junge Menschen gut, allerdings versagt das System bei den entkoppelten jungen Menschen, weshalb sie nicht selten als „Systemsprenger“ bezeichnet werden. Diese jungen Menschen, die aus dem System fallen oder ihm fernbleiben, so zu bezeichnen, entspricht einer einseitigen Schuldzuweisung, die weder Rücksicht auf die prekäre soziale sowie psychische Situation der Betroffenen nimmt noch lösungsorientiert ist. Vielmehr müsste das System so ausgestaltet 81 uj 2 | 2021 Kein Platz für „Systemsprenger“ im neuen KJSG? werden, dass es in der Lage ist, gerade diese Menschen mit besonderem Hilfebedarf aufzufangen und zu unterstützen. Vorab sollen daher die Problemlagen von den Betroffenen skizziert werden, um anschließend eine Bewertung des Referentenentwurfs vorzunehmen. 2. Wie kommt es zur Entkopplung vom Jugendhilfesystem? 2.1 Erstversorgung und Wohnfähigkeit Bereits in der Erstversorgung gibt es Probleme. So sind definitiv zu wenig Notunterkünfte speziell für junge Menschen (in Berlin zusammengenommen mit den Kindernotdiensten vielleicht 200 Plätze) vorhanden. Hamburg als ein weiterer Hotspot der Szene hat noch nicht einmal eine einzige Notschlafstelle speziell für junge Menschen. Zudem sind viele an Kontingente geknüpft (bspw. U18 - 12 Nächte im Monat; Ü18 - 6 Nächte im Monat) oder es gibt bei voller Belegung ein Losverfahren, wer tatsächlich dort übernachten darf. Oftmals bleiben deshalb aus der Not heraus nur Erwachsenenunterkünfte, die mit Mehrbettzimmern völlig ungeeignet für die teils schwer traumatisierten jungen Menschen sind. Strukturell hakt es in diesem Zusammenhang besonders am Stufenmodell hin zu einer eigenen Wohnung. Dieses hat sich für die Gruppe der Entkoppelten als wesentliche Stolperfalle erwiesen. Die drohenden Sanktionen auf jeder Stufe, lange Bearbeitungszeiten und die zu langwierige Gewährung von Leistungen sowie die für diese jungen Menschen definitiv zu hochschwelligen Bedingungen des Einstiegs führen nach zwei- oder dreimaligem Scheitern leider viel zu oft dazu, dass sich die jungen Menschen enttäuscht vom Hilfesystem abwenden. Bereits hier droht somit der (endgültige) Vertrauensverlust in das System. Stattdessen müsste dafür gesorgt werden, dass sie so schnell und unbürokratisch wie möglich von der Straße kommen. Die gängige Praxis, über das Stufenmodell in eigenen Wohnraum zu kommen, dauert in etwa fünf Jahre, manchmal sogar länger. Es dauert Jahre, eine „Wohnfähigkeit“ zu beweisen. In diesem System wird es jungen Menschen, die wegen sexuellem Missbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung das eigene Zuhause verlassen haben, zugemutet, sich über Jahre an Bedingungen (kein Drogenkonsum, Schulverweigerung etc.) geknüpfte Unterkünfte zu suchen. Es muss anders gehen. Für die steigende Anzahl dieser jungen Menschen sind andere Lösungen gefragt. Sie brauchen vor allem eine eigene Wohnung, in der bei Bedarf eine Betreuung zur Verfügung gestellt wird. Nichts anderes als Housing First für Jugendliche und junge Erwachsene. Die Jugendlichen gleich in sicherem Wohnraum unterzubringen, ist psychologisch gesünder und nachhaltiger. Denn was brauchen sie denn, wenn sie direkt von der Straße kommen? Einen Rückzugsraum, den sie abschließen können, den sie nicht mit erwachsenen Alkoholkranken teilen müssen, den sie nicht wieder am Morgen oder nach Ausschöpfung des Kontingentes verlassen müssen, der ihnen das Gefühl von physischer Sicherheit gibt. Es würde zudem Kosten sparen, die Betroffenen nicht durch all diese Stufen über Jahre gehen zu lassen. Die Erfolgsquote bei Housing First, i. S. v. die Wohnung beim ersten Versuch zu halten, liegt bei etwa 90 %. Im Stufenmodell ist es genau umgekehrt. Dies zeigen Beispiele aus anderen Ländern oder aber auch aus Essen (z. B. sehr erfolgreich die Werkstattsolidarität; haben mittlerweile 140 Wohnungen angemietet, der/ die jüngste BewohnerIn ist 14 oder 15; bisher haben nur vier Jugendliche die Wohnung nicht beim ersten Versuch halten können (Werkstatt Solidarität Essen 2020). Bei diesem Vorgehen geht der Mietvertrag zudem mit der Volljährigkeit an die Betroffenen über, sodass sie sich nicht auf dem sich zuspitzenden Wohnungsmarkt der Konkurrenz stellen müssen, gegen die sie ohnehin nahezu chancenlos sind. 82 uj 2 | 2021 Kein Platz für „Systemsprenger“ im neuen KJSG? Es ist zudem völlig unklar, wie viele Betroffene es überhaupt gibt. Es ist dringend notwendig, eine statistische Erfassung von obdach- und wohnungslosen (jungen) Menschen zu erheben. Vorbildhaft kann hier das Vorgehen von NRW sein, das eine Wohnungsnotfallstatistik führt. Es kursieren Zahlen, genauer gesagt Schätzungen, zwischen 37.000 und 100.000 Betroffenen in Deutschland. Vermutlich ist die Dunkelziffer aufgrund von Couchsurfern wesentlich höher. Um überhaupt einen Bedarf festlegen zu können, wird eine Wohnungslosennotfallstatistik gebraucht; die große Schwankung der Schätzungen macht die Dringlichkeit, endlich empirisch belegte Zahlen zu haben, deutlich. Die Zahlen bzw. Schätzungen verdeutlichen aber auch, dass das Jugendhilfesystem keine Antworten und Lösungen zu bieten hat. 2.2 Probleme im Zusammenhang mit dem öffentlichen Träger der Jugendhilfe Eine weitere Schwierigkeit bei entkoppelten jungen Menschen ist, dass sie eine höchst mobile Zielgruppe sind. Sie ändern ihren Aufenthaltsort ständig und suchen beim Weglaufen vor allem die Anonymität der Großstädte. Meist kommen sie dort an und werden, wenn sie Hilfe bei den Jugendämtern suchen, mit örtlichen Zuständigkeiten konfrontiert. Innerhalb der Großstädte ist es praktisch die gleiche Situation mit den Zuständigen unterschiedlicher Bezirke. Dann beginnt eine Verantwortungs- und Zuständigkeitsschieberei zwischen Ämtern, z. B. vom Jugendamt zum Jobcenter, vom Jugendamt eines Bezirks/ Bundeslandes ins nächste. Auch hier besteht die Gefahr, dass sich die jungen Menschen enttäuscht vom Hilfesystem abwenden und damit eine Verfestigung des Zustands der Obdach- oder Wohnungslosigkeit verstärkt wird. Daher bedarf es eines bundesweit einheitlichen Vorgehens bei wohnungs- und obdachlosen jungen Menschen und eine konsequente schnelle Hilfegewährung, auch wenn sie aus einem anderen Bundesland kommen. Dies könnte über Ausführungsvorschriften und Kooperationsgebote erreicht werden. Dies ist zum einen bezogen auf die örtlichen Zuständigkeiten nach § 86 SGB VIII als auch zum anderen auf ein rechtskreisübergreifendes Vorgehen und Kooperationsgebote der unterschiedlichen Sozialleistungssysteme (SGB II, III, V, VIII, IX, XII). Um die Mechanismen von Entkopplung zu verstehen, ist es unvermeidlich, den Träger der öffentlichen Jugendhilfe in den Fokus zu nehmen. Das Jugendamt ist in den Augen fast aller jungen Menschen, die an den Bundeskonferenzen der Straßenkinder teilgenommen haben, ein „Feindbild“. Oftmals werden beispielsweise Hilfeleistungen geplant und beschlossen, die nicht wirklich von den Jugendlichen und jungen Menschen mitgetragen werden. Dies hat aus Sicht vieler HilfeempfängerInnen vor allem damit zu tun, dass es keine richtige Mitbestimmung im Hilfeplan bezüglich des Werdegangs, des Ortes oder der Wahl der Einrichtung gibt. Aus unterschiedlichen Gründen kann von einer tatsächlichen Mitbestimmung nicht die Rede sein. Erstens gibt es eine nummerische Asymmetrie im Hilfeplangespräch, wonach manchmal vier bis fünf Erwachsene (JugendamtsmitarbeiterInnen, Betreuende aus den Einrichtungen der freien Jugendhilfe, Elternteile/ VormünderInnen) einem jungen Menschen gegenübersitzen. Zudem sind die Jugendlichen oft kognitiv nicht in der Lage, auf Augenhöhe zu agieren und entsprechende Wünsche durchsetzen zu können. Was erschwerend hinzu kommt, ist dass viele ihre Rechte und Ansprüche nicht in ausreichendem Maß kennen, um vom Wunsch- und Wahlrecht entsprechend Gebrauch machen zu können. Selbstbestimmung und Beteiligung können als wesentlicher Faktor des Erfolgs von Hilfeverläufen nicht genug betont werden. Sie müssen als sozialpädagogischer und integraler Teil der eigentlichen Hilfe verstanden werden. Auch die Beteiligung bei der Ausgestaltung der Hilfen 83 uj 2 | 2021 Kein Platz für „Systemsprenger“ im neuen KJSG? wirkt sich positiv auf den Hilfeverlauf aus. Insofern ist ein Höchstmaß an Beteiligung und auch eine Zustimmung der geäußerten Wünsche, sofern sie nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind, für junge Menschen und deren Hilfeverlauf von entscheidender Bedeutung. Zurzeit sind hundert Fälle pro MitarbeiterIn beispielsweise in Berlin keine Seltenheit. So können sie kaum ihren Aufgaben, beispielsweise Kindeswohlgefährdungen zu erkennen, effektiv nachkommen. Die Beratungsleistungen werden teilweise nur noch für drei Wochen angeboten (Berlin Bezirk Tempelhof-Schöneberg), was sich direkt auf die Situation der Leistungsberechtigten auswirkt. Aus Sicht der Jugendlichen wäre zudem eine Art „Wahlrecht“ in Bezug auf MitarbeiterInnen des Jugendamts wichtig. Manchmal passt es beispielsweise zwischenmenschlich einfach nicht. Oder die MitarbeiterInnen des Jugendamts haben ohne Absicht eine so einschüchternde Wirkung auf einen jungen Menschen, dass die Darlegung der bestehenden Probleme oder eines etwaigen Traumas aus der Biografie nicht ohne Weiteres möglich ist. Wichtig ist vor allem eine Kontinuität in der Beziehung zu den SachbearbeiterInnen. Es kostet Unmengen an Überwindung, die eigene Geschichte immer wieder vor Unbekannten zu wiederholen, daher sollte es nach Möglichkeit überhaupt keine Wechsel der SachbearbeiterInnen geben. Kaum ein junger Mensch, selbst mit stabilem sozioökonomischen und familiären Hintergrund, ist heutzutage mit 18 Jahren in der Lage, selbstständig und eigenverantwortlich das Leben auf die Reihe zu bekommen. Aber gerade von ohnehin schon benachteiligten jungen Menschen aus staatlich finanzierter Fürsorge wird erwartet, gerade das zu können. Das Erreichen des 18. Lebensjahres stellt mehr eine juristische Grenze dar, als dass entwicklungspsychologisch von einem Alter ausgegangen werden kann, das Selbstständigkeit garantiert. Hinzu muss bedacht werden, dass gerade entkoppelte junge Menschen aufgrund von Traumata oder fehlender erzieherischer Stabilität oftmals verzögert in ihrer Entwicklung sind. Die bisher gültige Soll-Formulierung in § 41 SGB VIII lässt EntscheiderInnen in den Jugendämtern die Möglichkeit, die jungen Menschen viel zu früh aus der Jugendhilfe rauszunehmen. Als weiteres Problem in der Praxis hat sich das Fehlen eines geregelten Übergangsmanagements von einem System zum anderen herausgestellt. Zudem bedarf es unbedingt einer Coming-back-Option für junge Menschen, die unbedingt aus der Jugendhilfe wollten und nach einiger Zeit merken, dass sie eigentlich doch noch Jugendhilfe benötigen. 2.3 Angebotsstrukturen in der Kinder- und Jugendhilfe - Geschlossene Unterbringung als Lösung, wenn junge Menschen sich „entziehen“? Die Abschaffung der geschlossenen Unterbringung und freiheitsentziehender Maßnahmen in der Jugendhilfe war schon immer eine der Kernforderungen von MOMO und ist es noch immer. Die Ereignisse in Einrichtungen wie der Haasenburg GmbH oder den Friesenhof-Mädchenheimen (offiziell Barbara Janssen GmbH) als bekannte Spitzen des Eisbergs, ebenso die vielen persönlichen Berichte von Jugendlichen bei den Bundeskonferenzen der Straßenkinder, zeugen von schweren Menschenrechtsverletzungen und dies in staatlich finanzierter Fürsorge. Erst kürzlich gab es wieder Berichte aus einem Heim in Jänschwalde in Brandenburg (Joswig/ Kutter 2019). Solche „Methoden der Pädagogik“ sind inakzeptabel, sie stehen direkt dem Kindeswohl entgegen, kommen aber zur Anwendung, wenn das Jugendamt nicht mehr weiter weiß. Sie erinnern vielmehr an das, was in Heimen in den 50er und 60er Jahren, Stichwort „schwarze Pädagogik“, 84 uj 2 | 2021 Kein Platz für „Systemsprenger“ im neuen KJSG? passiert ist. Es ist davon auszugehen, dass junge Menschen unter dem Deckmantel der „Intensivpädagogik“ weiterhin in Heimformen mit Zwangscharakter zu leiden haben und ihre Rechte massiv verletzt und/ oder eingeschränkt werden. Diese Formen der „Erziehung“ außerhalb der Familie stehen dem Recht auf eine gewaltfreie Erziehung entgegen, das jedes Kind und jede/ r Jugendliche hat. Wenn die Eltern oder Erziehungsberechtigten das nicht gewährleisten können, obliegt es dem Staat, für eine gewaltfreie Erziehung zu sorgen. Dies ist in Einrichtungen, in denen die geschlossene Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen, Fixierungen oder Einschluss und medikamentöse Sedierungen zur Anwendung kommen, nicht gewährleistet. In Bezug auf die entkoppelten jungen Menschen ist es leider häufig der Fall, dass solche „Einrichtungen“ genutzt werden, wenn es vermeintlich keine anderen Lösungen mehr gibt. Die Argumentationsgrundlage ist in diesen Fällen, dass sich die jungen Menschen durch die Methodik des Einsperrens pädagogischen „Maßnahmen“ nicht mehr entziehen könnten. Es bedarf aber im Gegenteil individueller Lösungen und Hilfsmaßnahmen für diese jungen Menschen, die sie selbst mittragen und befürworten. 3. Das KJSG im Hinblick auf entkoppelte junge Menschen Im Referentenentwurf zur Reform des SGB VIII des BMFSFJ lassen sich einige begrüßenswerte Veränderungen bzw. Verbesserungen der Jugendhilfe finden, die zur Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen beitragen werden. Insgesamt muss angemerkt werden, dass all die Verbesserungen in der Praxis nur durch eine entsprechende personelle und finanzielle Ausstattung sowohl der freien als auch der öffentlichen Träger der Jugendhilfe umgesetzt werden können. 3.1 Selbstvertretungsorganisationen Insbesondere die Förderung selbstorganisierter Zusammenschlüsse zur Unterstützung, Begleitung und Förderung von AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe (§ 4 a SGB VIII-neu) bedeutet meiner Ansicht nach einen wichtigen Schritt für eine notwendige, neue BeteiligungsundVertretungsstruktur im Jugendhilfesystem. Die Soll-Formulierung des § 4 a (3) lässt jedoch befürchten, dass Anregung und Förderung solcher Zusammenschlüsse, wie MOMO - The voice of disconnected youth einer ist, durch den öffentlichen Träger der Jugendhilfe vom Wohlwollen einzelner EntscheidungsträgerInnen und letztlich von den finanziellen Ressourcen der jeweiligen regionalen Jugendämter abhängig sein wird. Hier hätte eine Muss-Formulierung eine dauerhafte Legitimation und einen besseren Stand von Selbstvertretungsorganisationen in der Kinder- und Jugendhilfe bedeutet. Ebenso würde eine Förderung durch den überörtlichen Träger des öffentlichen Trägers finanzielle Abhängigkeiten verringern und die Bildung von selbstorganisierten Zusammenschlüssen fördern. Es ist als positiv zu bewerten, dass diese Selbstvertretungen künftig in den Landesjugendhilfeausschüssen (§ 71), wenn auch leider nur beratendes, Mitglied werden sollen. Es ist von hoher Bedeutung, dass Selbstvertretungen stimmberechtigte Mitglieder in den Landesjugendhilfeausschüssen sind, wenn es mit wirklicher Partizipation ernst gemeint ist. Auch die Beteiligung von selbstorganisierten Zusammenschlüssen an den Arbeitsgemeinschaften nach § 78, in denen darauf hingewirkt werden soll, dass geplante Maßnahmen aufeinander abgestimmt, sich gegenseitig ergänzend und in den Lebens- und Wohnbereichen von jungen Menschen und Familien ihren Bedürfnissen, Wünschen und Interessen entsprechend zusammenwirken, kann sich auf eine bessere Beteiligung positiv auswirken. 85 uj 2 | 2021 Kein Platz für „Systemsprenger“ im neuen KJSG? 3.2 Heimaufsicht und Ombudsstellen Ausdrücklich zu begrüßen sind die veränderten und verbesserten Möglichkeiten der Aufsicht von Einrichtungen. Vor allem die Möglichkeit der Heimaufsicht, zukünftig jederzeit und unangekündigt Kontrollen vorzunehmen. Um diese Möglichkeit effizient nutzen zu können, bedarf es aber einer entsprechenden personellen Ausstattung der Heimaufsicht. Positiv hervorzuheben ist auch, dass die Anforderungen an die Erteilung einer Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung erhöht werden sollen. Aus Sicht von MOMO wäre es wichtig, Selbstvertretungsorganisationen, einrichtungsinterne und -externe Beschwerdestellen sowie Ombudsstellen in das Verfahren der Betriebserlaubnis miteinzubeziehen, um dem Schutz von jungen Menschen schon zum Zeitpunkt der Erteilung einer Betriebserlaubnis einen entsprechenden Stellenwert zuzusichern. Die verbindliche Schaffung von Ombudsstellen (§ 9 a SGB VIII-neu) ist sehr erfreulich und eine sehr wichtige Verbesserung für die Stärkung der Rechte von jungen Menschen. An diesem Punkt muss angemerkt werden, dass im Zuge der Schaffung in der Praxis dafür gesorgt werden muss, dass die Ombudsstellen für die jungen Menschen zum einen jederzeit und niedrigschwellig erreichbar (digitale Lösungen) sein müssen, um ihrer Aufgabe, der Beratung sowie Vermittlung und Klärung von Konflikten, entsprechend nachkommen zu können. Zum anderen müssen sie entsprechend personell ausgestattet sein, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. In diesem Zusammenhang ist die explizite Betonung im Referentenentwurf zu begrüßen, dass diese Stellen unabhängig arbeiten und fachlich nicht weisungsgebunden sind. Sinnvoll wäre es, die Ombudsstellen in die Kontrolle von Einrichtungen miteinzubeziehen, da sie als unabhängige und nicht weisungsgebundene Organisationen die Heimaufsicht ergänzen könnten. 3.3 Kostenheranziehung und Hilfe für junge Volljährige sowie Übergangsmanagement Die Absenkung der Kostenheranziehung im SGB VIII von 75 % auf 25 % ist ein Schritt in die richtige Richtung. Viele junge Menschen in der Jugendhilfe sind im Vergleich zu anderen gleichaltrigen Menschen aus stabilen familiären und sozioökonomischen Kontexten in vielen Bereichen benachteiligt. Daher wäre anstatt einer Kostenbeteiligung eine „Starthilfe“ nach Beendigung der Jugendhilfe sinnvoller, um eine gewisse Chancengleichheit zum Start in ein selbstständiges Leben zu ermöglichen. MOMO begrüßt auch, dass die Voraussetzungen der Hilfe für junge Volljährige (§ 41) präzisiert und der Verbindlichkeitsgrad der Hilfegewährung erhöht werden sollen. Leider ist es momentan viel zu oft der Fall, dass junge Menschen zu früh aus Leistungen entlassen werden. In diesem Zusammenhang stellt die Möglichkeit, eine Hilfe für junge Volljährige auch nach ihrer Beendigung wieder fortzuführen oder gegebenenfalls in anderer Form erneut gewährt werden zu können (Coming-back- Option), eine wesentliche Verbesserung dar. Durch diese beiden Veränderungen ist zu hoffen, dass eine Hilfe-, Betreuungs- und Beziehungskontinuität erreicht werden kann, die der Entwicklung der jungen Menschen zuträglich sein wird. Zudem ist das im Referentenentwurf festgehaltene bessere Übergangsmanagement von Jugendhilfe in andere soziale Sicherungssysteme absolut notwendig. Insbesondere der neue § 36 b SGB VIII erzeugt Hoffnung, dass durch die verbindlich vorgeschriebenen zeitlichen Vorgaben von einem Jahr vor Zuständigkeitsübergang bzw. spätestens sechs Monaten vor dem voraussichtlichen Zuständigkeitsübergang eine gemeinsame Konferenz zur Übergangsplanung durchzuführen ist, sodass junge Menschen den 18. Geburtstag nicht mehr als Schreckensdatum empfinden müssen. 86 uj 2 | 2021 Kein Platz für „Systemsprenger“ im neuen KJSG? 4. Was fehlt? Kritik am neuen KJSG Am Referentenentwurf kritisch hervorzuheben ist, dass die geschlossene Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe weiterhin möglich sein werden. Jedes Kind, jede/ r Jugendliche hat in Deutschland das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Wenn die Eltern/ Erziehungsberechtigten das nicht gewährleisten können, obliegt es dem Staat, für eine gewaltfreie Erziehung zu sorgen. In geschlossener Unterbringung und mit freiheitsentziehenden Maßnahmen kann davon kaum die Rede sein. Dass dort eine „Erziehung“, vor allem gewaltfrei, sichergestellt ist, ist zweifelhaft, da es sich um abgeschlossene Systeme handelt und Menschen- und Kinderrechte dort nicht sichergestellt sind. Die Einschränkung dieser Rechte (medikamentöse Sedierung, Fixierungen/ Begrenzung, Time-out-Räume, Verletzung des Briefgeheimnisses usw.) sind auch durch eine familiengerichtliche Anordnung nicht hinnehmbar. In Bezug auf die Gruppe von entkoppelten, obdachlosen und wohnungslosen jungen Menschen oder sogenannten „Systemsprengern“ fehlt es im Referentenentwurf weiterhin an ganz konkreten gesetzlichen Lösungen. Leider haben weder housing first als Instrument der schnellen Versorgung mit Wohnraum für diese jungen Menschen noch ein von MOMO gefordertes bundesweit einheitliches Vorgehen bei wohnungs- und obdachlosen jungen Menschen und konsequente schnelle Hilfegewährung (i. S. v. Ausführungsvorschriften und Kooperationsgeboten) Berücksichtigung im Entwurf gefunden. Hier besteht erheblicher Verbesserungsbedarf, um dem Problem der Obdach- und Wohnungslosigkeit von jungen Menschen effektiv begegnen zu können. Für diese jungen Menschen werden aufgrund ihrer heterogenen Problemlagen und den zu hohen Zugangshürden ins Hilfesystem besondere Wohnangebote in der Jugendhilfe gebraucht. Neben der expliziten Nennung und Berücksichtigung müsste daher die Möglichkeit einer schnellen Unterbringung in geeigneten Wohnraum nach dem Housing-first-Prinzip gesetzlich geregelt werden. Zusätzlich muss darauf hingewiesen werden, dass Einrichtungen der niedrigschwelligen Erstversorgung, insbesondere speziell für junge Menschen konzipierte Notschlafstellen, nicht in ausreichendem Maß vorhanden sind. Aufgrund der Corona-Pandemie ist sogar zu befürchten, dass einige der wenigen spezialisierten Einrichtungen schließen werden müssen und dass sich deshalb die ohnehin nicht ausreichend vorhandene Erstversorgungsstruktur sowie die Situation von obdach- und wohnungslosen jungen Menschen verschlechtern wird. Dipl.-Pol. André Neupert MOMO Berlin Paul-Lincke-Ufer 21 10999 Berlin E-Mail: neupert@karuna-ev.de Literatur Joswig, G., Kutter, K. (2019): Misshandlungen im Kinderheim. Hinter Milchglas. In: https: / / taz.de/ Misshand lungen-im-Kinderheim/ ! 5624827/ , 16. 11. 2020 Werkstatt Solidarität Essen (2020): Pädagogische Grundlagen: Intensivbetreutes Wohnen. In: https: / / www.werkstatt-solidaritaet-essen.de/ index.php/ paedagogische-grundlagen/ intensivbetreuteswoh nen, 16.11.2020