unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art24d
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2021
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Rezension
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Reinhard Joachim Wabnitz
Röhl, Anja (2021): Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt Psychosozial-Verlag, Gießen. 29,90 €, ISBN 978-3-8379-3053-5
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uj 3 | 2021 139 Rezension Thema Das Werk befasst sich mit dem Schicksal von mehreren 1.000 von insgesamt ca. acht bis zwölf Millionen „Verschickungskindern“, die in den 1950-er bis 1980-er Jahren in der alten Bundesrepublik Deutschland zwecks gesundheitlicher Erholung in Kindererholungsheimen, Kinderheimen und Kinderheilstätten zumeist mehrere Wochen verbracht hatten und dabei Erfahrungen von Gewalt und Misshandlung erlitten haben, die sie teilweise über ihr ganzes Leben hinweg geprägt haben. Autorin und Entstehungshintergrund Anja Röhls Vater war der Konkret-Verleger Klaus Rainer Röhl. Dessen Freundin war zeitweise die spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhof; dazu erschien 2013 das Buch von Anja Röhl „Die Frau meines Vaters - Erinnerungen an Ulrike“ (so der Hinweis auf der Umschlagrückseite des hier zu rezensierenden Werkes). Anja Röhls Arbeitsschwerpunkte liegen allerdings in den Bereichen „Frühpädagogik“, „institutionelle Gewalt“ und „transgenerationale Weitergabe von NS-Erziehung“ (siehe ebenfalls Umschlagrückseite). Sie ist Sonderpädagogin und Autorin weiterer Werke. Die Autorin war aber auch „Verschickungskind“ und gründete mit anderen ehemaligen Verschickungskindern die „Initiative Verschickungskinder“ (www.verschickungsheime.de; dort auch mit Berichten von ca. 1.500 Betroffenen). Das hier anzuzeigende Buch behandelt ein bisher weitgehend verschwiegenes oder verdrängtes, in jedem Fall erschütterndes Kapitel im Nachkriegsdeutschland. Während das Schicksal der ehemaligen Heimkinder sowohl in den alten als auch den neuen Bundesländern als intensiv behandelt angesehen werden kann (vgl. nur den Abschlussbericht des Runden Tisches „Heimerziehung in den 50-er und 60-er Jahren“, Berlin 2010; sowie: Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR. Bericht. Berlin 2012, jeweils herausgegeben im Eigenverlag der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe/ AGJ), ist das Schicksal der sog. „Verschickungskinder“ jedenfalls einer breiteren Fachöffentlichkeit bisher unbekannt geblieben. Auch wenn diese Kinder zumeist nur einige Wochen - und nicht wie die Heimkinder Jahre - in den genannten Einrichtungen verbracht haben und wenn sicherlich auch nicht alle Kinder einen bleibenden Schaden davongetragen haben, so haben doch zumindest die von der Autorin aufgrund von mehreren 1.000 Fragebögen (189ff ) ausfindig gemachten ehemaligen „Verschickungskinder“ derart traumatische Erlebnisse hinter sich, dass man sich fragen muss, wie es dazu kommen konnte. Aufbau und Inhalt In den ersten einführenden Kapiteln nähert sich Anja Röhl dem Thema an. Dabei geht es um zumeist sehr ähnliche Erinnerungen der Betroffenen (9f ): um Erinnerungen an Angst, an quasimilitärischen Drill, an die Qualen des Aufessenmüssens, an stundenlanges Sitzen vor dem vollen Teller; um Erinnerungen an gewalttätige Essenseinfütterungen, an den Zwang, Erbrochenes noch einmal aufessen zu müssen; um Verbote, auf die Toilette zu gehen; um immer wiederkehrende Bestrafungen, wie etwa das Wegsperren in Gitterbetten, Waschräumen, Besenkammern in Kellern; es geht um Erinnerungen an Schläge ins Gesicht, Prügel mit Holzstöcken, an das Lächerlichmachen vor der Gruppe, an Demütigungen, Drohungen, an brüllendes Ausschimpfen, an strenge, lieblose und gefahrvolle Behandlungen durch „Tanten“ und Kur- Röhl, Anja (2021): Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt Psychosozial-Verlag, Gießen. 29,90 €, ISBN 978-3-8379- 3053-5 140 uj 3 | 2021 Rezension ärzte usw. Es sind Erinnerungen von Kindern, die zumeist zwischen drei und elf Jahre alt waren. Die Erinnerungen schmerzen die meisten der von der Autorin befragten Betroffenen noch heute, wie fast alle geschrieben haben. Im nächsten Kapitel („Ein Blick in die Literatur. Kinderverschickung - bisher kein Forschungsgegenstand“) wird auf die wenigen bislang vorliegenden Publikationen verwiesen sowie darauf, dass einzelne Ereignisse - sofern sie bekannt geworden sind - von den Medien nicht aufgegriffen wurden. Das nächste Kapitel beinhaltet den Versuch einer „kritischen Annäherung“ an die Thematik. Der mit über 160 Seiten weitaus umfangreichste Teil („Kindererholungsheime“; 41- 202) widmet sich sehr ausführlich den Berichten über einzelne Kinderheilstätten auf den Nordseeinseln Norderney, Föhr und Borkum, über das Kinderheim-Heilbad Bad Salz-Detfurth sowie über andere Einrichtungen in Bad Rothenfelde, Bad Sachsa, Berchtesgaden und Scheidegg. Hier werden im Wesentlichen sehr ausführlich die persönlichen Erfahrungen derjenigen Betroffenen wiedergegeben, welche die von der Autorin versandten Fragebögen ausgefüllt und um eigene Schilderungen ergänzt haben. Kurz gefasst: Es handelt sich um 150 Seiten Beschreibungen von traumatisierenden Erfahrungen von Gewalt, Vernachlässigung und Erniedrigung, wie man sie sich kaum vorstellen möchte - und vielmehr die Frage stellen muss, wie dies alles geschehen konnte; und warum solche Dinge erst jetzt bekannt werden und sie nicht längst einer auch strafrechtlichen Bewertung zugeführt worden sind. Auf über 90 Seiten begibt sich die Autorin deshalb sodann auf eine daran anknüpfende „Ursachensuche“ (203 - 292). Anja Röhl arbeitet dabei insbesondere neun „Ursachenstränge“ heraus, denen sie im Einzelnen detailliert und überzeugend nachgeht: biografische Prägung des Personals in den Einrichtungen während des Nationalsozialismus; Prägung durch NS- Schwesternschaft und Pflegeberufe; strafende Pädagogik; „Totale Institution“; NS-Geschichte der Kinderheilkunde; Balneologie sowie Klimaheilkunde und -therapie; medizinische Forschungen; Ökonomie und Rendite; Sadismus. In ihrer Schlussbemerkung („Für eine empathische Pädagogik“; 293 - 295) übt die Autorin zu Recht harte Kritik auch an den zuständigen oder mitverantwortlichen Institutionen: den Kindererholungsheimen, Kinderheilstätten und Kinderkliniken, den Jugendämtern und den Trägern von Einrichtungen, insbesondere den Wohlfahrtsorganisationen und den christlichen Kirchen, aber auch an der Pharmaindustrie, der „Gesundheitsindustrie“ und anderen Verantwortlichen, die sich bisher einer Aufarbeitung dieser erschreckenden Thematik weitgehend entzogen haben. Anja Röhl unterstreicht nochmals, wie tief das Gift der NS-Gedankenwelt auch in die deutsche Medizin und Kinderpflege eingedrungen war und wie lange es noch nach 1945 nachgewirkt hat. Die Autorin schließt mit dem Hinweis: „Ich wünsche mir, dass dieses Buch vielen Menschen Mut macht, sich für eine Aufarbeitung stark zu machen und Kraft daraus zu ziehen, dass sie nicht allein waren. Eine Aufarbeitung wird auch immer damit verbunden sein, sich für eine humanistische, einfühlsame Erziehung einzusetzen, in der eine strafende Pädagogik keine Chance mehr hat.“ Fazit Dem kann man sich nur anschließen und wünschen, dass das Werk von Anja Röhl weite Verbreitung findet. Der Landtag Nordrhein-Westfalen sowie die Jugend- und Familienministerinnen und -minister haben sich im Jahr 2020 (offenbar erstmals) mit der Thematik befasst, wie meine Internet-Recherche ergeben hat. Auch eine Aufarbeitung der Situation in der ehemaligen DDR erscheint sicherlich dringend erforderlich. Prof. Dr. jur. Dr. phil. Reinhard Joachim Wabnitz E-Mail: Reinhard.wabnitz@hs-rm.de DOI 10.2378/ uj2021.art24d
