unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art29d
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MIKADO
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Thomas Köhler-Saretzki
Volker Biermann
Alexandra Roszak
Miriam Müller
Damit Hilfen für die spezielle Risikogruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern erfolgreich gelingen können, ist es von zentraler Bedeutung, dass Fachleute und Einrichtungen eng zusammenarbeiten. So sind in jüngerer Zeit in Deutschland etliche Initiativen entstanden. Eines dieser Angebote ist das lebensphasenbegleitende und themenübergreifende Gruppenprojekt MIKADO in Köln.
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179 unsere jugend, 73. Jg., S. 179 - 188 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art29d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Thomas Köhler-Saretzki Jg. 1971; Leiter der Familienberatung der CSH, Köln-Mülheim MIKADO Ein Gruppenangebot für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern in Köln Damit Hilfen für die spezielle Risikogruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern erfolgreich gelingen können, ist es von zentraler Bedeutung, dass Fachleute und Einrichtungen eng zusammenarbeiten. So sind in jüngerer Zeit in Deutschland etliche Initiativen entstanden. Eines dieser Angebote ist das lebensphasenbegleitende und themenübergreifende Gruppenprojekt MIKADO in Köln. 1. Einleitung In den letzten Jahren ist das Thema Kinder psychisch und suchtkranker Eltern zwar zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit und der Politik geraten, trotzdem ist die Versorgungslage in vielen Kommunen nach wie vor unzureichend und das Angebot hinkt dem Bedarf noch immer hinterher. In Deutschland haben ca. 5 bis 6 Mio. Kinder einen Vater oder eine Mutter mit einer psychischen und/ oder Suchterkrankung (Lenz/ Wiegand-Grefe 2017). Eine elterliche Erkrankung bringt viele Folgewirkungen für die Familien und die Kinder mit sich und ist mit einem hohen Risiko für Beeinträchtigungen der Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder verbunden. Volker Biermann Jg. 1960; Fachbereichsleiter Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, SKM Köln Alexandra Roszak Jg. 1979; Stellv. Leitung der Familienberatung der CSH, Köln-Mülheim Miriam Müller Jg. 1989; Gruppenleitung/ Organisation MIKADO/ StandUp beim SKM Köln 180 uj 4 | 2021 MIKADO-Gruppen für Kinder belasteter Eltern In Köln wurde im Rahmen des Projektes Chance for Kids des Diözesancaritasverbandes Köln deshalb eine Kooperation zwischen dem Sozialdienst katholischer Männer Köln e. V. als einem Träger der Suchthilfe und der Christlichen Sozialhilfe Köln e. V. als einem Jugendhilfeträger mit einer Familienberatungsstelle initiiert. Ein Ergebnis dieser Kooperation ist das lebensphasenbegleitende, multiprofessionell besetzte Gruppenangebot MIKADO für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern. Das Konzept dieser Kindergruppe verbindet die Expertise der verschiedenen Fachkompetenzen der Jugend- und Suchthilfe zu einem für das Wohl und die Entwicklung der Kinder effektiven und nachhaltigen Angebot. Im Folgenden soll, nach einem Überblick über die allgemeine Situation Kinder psychisch und suchtkranker Eltern, das Gruppenangebot dargestellt und hinsichtlich seiner Praxisrelevanz beleuchtet werden. 2. Kinder psychisch und suchtkranker Eltern: Aktueller Stand Die Probleme, Belastungen und Beeinträchtigungen im Alltag der betroffenen Kinder standen in der Vergangenheit nur hin und wieder im Zentrum des wissenschaftlichen und vor allem auch Praxisinteresses. Inzwischen hat sich die Situation allerdings grundlegend geändert und das Thema psychisch und suchtkranke Eltern und die Folgen für das Familiensystem und die Kinder hat in die Fachöffentlichkeit, die Forschung, die Gesundheitspolitik und auch in die Jugendhilfe Einzug gehalten. Die in den letzten Jahren verstärkt durchgeführten praxisorientierten Forschungsaktivitäten haben wichtige Ansatzpunkte und Ideen für Resilienz fördernde Interventionen, wie z. B. Gruppenprogramme, geliefert. Wie erleben aber die Kinder und Jugendlichen ihren Alltag mit einem psychisch bzw. suchtkranken Elternteil? Was bedeutet es für sie, welche Auswirkungen hat es und was stärkt sie? Die folgende Ausführung soll exemplarisch einige typische Themen und Auswirkungen in den Familien, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, beleuchten. 2.1 Häufung von psychosozialen Belastungen und erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen In Familien mit mindestens einem psychisch erkrankten Elternteil sind fast alle wichtigen psychosozialen Belastungen, die das Erkrankungsrisiko für psychische Störungen bei Kindern erhöhen, überrepräsentiert. Psychische Erkrankungen stellen somit ein wichtiges Kernmerkmal dar, durch das die Entwicklung eines Kindes entscheidend beeinflusst wird. Neben sozioökonomischen Aspekten wie Armut, unzureichenden Wohnverhältnissen und sozialer Randständigkeit finden sich bei den Eltern häufig ein niedriger Ausbildungsstand bzw. Berufsstatus und Arbeitslosigkeit (Greiner et al. 2019). Die Kinder werden konfrontiert mit vermehrten familiären Belastungen und Konflikten bei gleichzeitig geringerem emotionalen Rückhalt und sind bedroht von einer zweibis fünffach erhöhten Wahrscheinlichkeit für Vernachlässigung, Misshandlung und sexualisierte Gewalt (Lenz 2019). Die elterliche Belastung v. a. durch die Aufgaben und Pflichten der Elternrolle ist höher, die Bindungssicherheit der Kinder niedriger und die Lebensqualität der Kinder wird von den Eltern geringer eingeschätzt (Köhler-Saretzki 2020). Diese Belastungen begünstigen neben der genetischen Vulnerabilität die Entwicklung einer eigenen psychischen Erkrankung. Die Wahrscheinlichkeit ist gegenüber der Normalbevölkerung etwa um das Vierfache erhöht (Greiner et al. 2019). Für die Risikoerhöhung spielen da- 181 uj 4 | 2021 MIKADO-Gruppen für Kinder belasteter Eltern rüber hinaus Faktoren wie der Erkrankungstyp, der Schweregrad der elterlichen Erkrankung und das Ersterkrankungsalter eine entscheidende Rolle (Lenz/ Wiegand-Grefe 2017). Die klinischen Manifestationen können sehr unterschiedlich sein. Es gibt grundsätzlich keine spezifischen psychischen Störungen, die charakteristisch für Kinder psychisch kranker Eltern sind (Köhler-Saretzki et al. 2018). Es zeigen sich aber Hinweise, dass in Familien mit geringem sozioökonomischen Status die Kinder vermehrt von Störungen des Sozialverhaltens mit einem ungünstigen Krankheitsverlauf betroffen sind, v. a. wenn die Störung bereits in der frühen Kindheit beginnt. Bei mehr als 50 % der Achtjährigen bestand die Störung des Sozialverhaltens auch noch 17 Jahre später (Ihle/ Esser 2002). Überhaupt erweisen sich psychische Erkrankungen als zäh und beharrlich. Bei über der Hälfte der Kinder mit psychischen Auffälligkeiten bestehen sie über zwei Jahre, bei ca. 30 % über sechs Jahre hinaus (Steffen et al. 2019), mit einer unklaren Zahl an langfristig chronifizierten Verläufen, abhängig vom sozioökonomischen Status und damit den Ressourcen der Familie. Diese Angst vor einer eigenen, langjährigen Erkrankung beschäftigt die Kinder in den Familien mit zunehmendem Alter. Allerdings gelingt es ihnen in der Regel nicht, diese Angst klar und eindeutig zu formulieren. Dafür braucht es eine sichere, verlässliche und vertraute Beziehung zu den Fachkräften, die über einen längeren Zeitraum aufgebaut werden muss. 2.2 Interaktions- und Bindungsbeeinträchtigungen Psychisch kranke Eltern können aufgrund der eigenen hohen Belastung und Bedürftigkeit den Signalen ihrer Kinder meist weniger gut folgen und angemessen reagieren. Es fehlt sowohl an kontinuierlicher positiver Zuwendung, Geborgenheit und Sicherheit als auch an anregendem sprachlichen Austausch mit Blickkontakt, Lächeln sowie ausreichender Förderung des Selbstwerts durch positive Rückmeldungen (Deneke 2016). Häufig reagieren die Eltern überängstlich und erlauben ihren Kindern nicht, sich expansiv ausreichend auszuagieren. Der Umgang mit dem Kind sowie die Interaktionen und die Beziehung kann im gesamten Entwicklungsverlauf durch die elterliche Erkrankung beeinträchtigt sein. Die Kinder müssen oft früh lernen, dass Zuneigung nur möglich ist, wenn man sich diese verdient. Sie entwickeln häufiger unsichere und desorganisierte Bindungsmuster (Brisch 2019; Köhler-Saretzki 2020). 2.3 Scham, Schuld und soziale Isolation Kinder psychisch kranker Eltern sind häufig desorientiert, geängstigt und verwirrt, weil sie das Verhalten ihrer Eltern nicht einordnen und verstehen können. Häufig wird beschrieben, dass sie davon überzeugt sind, dass sie an der Situation der Eltern schuld sind. Auch besteht meist innerhalb und außerhalb der Familie ein entweder offen ausgesprochenes oder häufiger sogar noch implizites Kommunikationsverbot. Die Kinder dürfen mit niemandem über die Familienprobleme sprechen, da sie sonst ihre Eltern verraten würden, wenn sie sich an Personen außerhalb der Familie wenden. Das Problem wird tabuisiert. Dies hat zur Folge, dass sie sich sehr allein gelassen und isoliert fühlen. Zusätzlich schämen sich vor allem die älteren Kinder häufig für ihre Eltern, was die sozialen Rückzugstendenzen noch verstärkt. 182 uj 4 | 2021 MIKADO-Gruppen für Kinder belasteter Eltern 2.4 Parentifizierung Vor allem in der mittleren Kindheit und im Jugendalter äußern sich die krankheitsbedingten Einschränkungen dahingehend, dass dem Kind erwachsenentypische und elternspezifische Aufgaben und emotionale Verantwortungen innerhalb der Familie übertragen werden. Dieses Phänomen der Parentifizierung findet man in nahezu allen Familien mit psychisch und suchtkranken Eltern (Lenz/ Wiegand-Grefe 2017). Das Kind wird in die elterlichen Probleme einbezogen und es findet keine oder nur eine diffuse generationale Abgrenzung statt. Die Kinder übernehmen eine (ver)sorgende Funktion. Sie werden zu GefährtInnen und HauptlieferantInnen für Ermunterung und Trost. Sie sorgen für die emotionale Stabilisierung des Familiensystems, müssen häufig zwischen den Elternteilen vermitteln und geraten so in Loyalitätskonflikte (Köhler-Saretzki et al. 2018). Zusätzlich ist wegen der krankheitstypischen Einschränkungen häufig die Identifikation und Vorbildfunktion des Kindes mit den Eltern beeinträchtigt. 3. Hilfen für Kinder psychisch/ suchtkranker Eltern: Das Gruppenprogramm MIKADO Das Prinzip von Präventions- und Interventionsansätzen für die Risikogruppe der Kinder psychisch und suchtkranker Eltern besteht darin, die psychosozialen Belastungen zu reduzieren und individuelle und soziale Schutzfaktoren zu stärken, um eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen. Eine wichtige Komponente dabei bilden spezielle Hilfen, die an die jeweilige Situation der Familie angepasst sein und nach genauer Indikationsstellung erfolgen sollten. Hierzu zählen psychiatrische und psychotherapeutische Hilfestellungen ebenso wie sozialpädagogische Hilfen, zum Beispiel sozialpädagogische Familienhilfe oder spezielle Angebote wie Gruppen für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern. Ein solches Gruppenangebot ist MIKADO, das sich an Kinder psychisch und suchtkranker Eltern im Alter von 7 bis 12 Jahren richtet. In Kooperation von SKM Köln und CSH Köln findet das Gruppenangebot MIKADO an drei Standorten, wöchentlich mit einem zeitlichen Umfang von anderthalb Stunden, bei einer maximalen Gruppengröße von 8 Kindern statt. Begleitet wird die Gruppe von je einer Fachkraft der beiden Träger. Die Finanzierung des Gruppenangebots erfolgt durch das Jugendamt der Stadt Köln. 3.1 Bindungs- und Beziehungsarbeit „Bleib mit mir in Beziehung und halte es aus, wenn ich klein bin und trotze, frech und unverschämt bin, mich zurückziehe oder rebelliere.“ Die Beziehungsarbeit bildet den pädagogischen Kern der Arbeit. Da die Kinder im Alltag häufig die Erfahrung machen müssen, dass ihre Eltern aufgrund ihrer Erkrankung nicht immer feinfühlig und adäquat auf sie eingehen können, kann daraus für sie die Überzeugung erwachsen, dass Erwachsene in Beziehungen nicht verlässlich sind und keinen ausreichenden Schutz, Trost und Sicherheit bieten. Nun ist aus der Resilienzforschung bekannt, dass eine sichere Bindung zu einem Erwachsenen außerhalb der Kernfamilie einen entscheidenden Ressourcenfaktor in der Entwicklung eines Kindes darstellt. Deshalb ist es den Gruppenleitungen von MIKADO ein besonderes Anliegen, ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit für die Kinder zu 183 uj 4 | 2021 MIKADO-Gruppen für Kinder belasteter Eltern bieten. Dies beinhaltet ein sogenanntes konsequentes Beziehungsangebot. D. h., es wird besondere Aufmerksamkeit darauf gelegt, den Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass sie willkommen und angenommen sind, unabhängig von ihrem Verhalten und ihrer gezeigten Stimmungslage. Nicht selten zeigen sich bei den Kindern Verhaltensauffälligkeiten, motorische Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten und ein hohes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ebenso wie sozialer Rückzug und Probleme in der Beziehungsgestaltung mit anderen Kindern. Hier gilt es, im pädagogischen Alltag der Gruppe immer wieder das Verhalten konsequent zu begrenzen, ohne dass die Kinder sich in ihrer Persönlichkeit abgelehnt fühlen. Die Gruppenleitungen versuchen, meist mit Unterstützung der anderen Kinder, die Stärken und positiven Eigenschaften der Kinder in den Mittelpunkt zu rücken, sodass die Verhaltensauffälligkeiten an Schärfe verlieren. 3.2 Feste Strukturen, Abläufe und Rituale „Es ist wichtig für mich, Möglichkeiten der Entlastung zu schaffen. Manchmal trage ich nämlich eine riesige Last mit mir herum.“ Neben dem konsequenten Bindungsangebot vermittelt die MIKADO-Gruppe durch ihre Strukturen, Regeln und Rituale ein Gefühl von (emotionaler) Sicherheit. So wird z. B. besonders auf feste Abläufe geachtet, wie auf die Abschiedsrunde am Ende einer Sitzung, in der die Kinder die Möglichkeit haben, sich zu ihrer Befindlichkeit zu äußern und Feedback zu geben. Die Gruppenregeln und -abläufe werden immer wieder partizipativ mit den Kindern gemeinsam entwickelt und angepasst. Darüber hinaus werden alle Geburtstage der Kinder und alle Feste wie Weihnachten, Karneval, Ostern etc. gemeinsam gefeiert. Insbesondere in Zeiten der Corona-Pandemie galt es daher, kreativ zu werden. Als keine Gruppenstunden stattfinden konnten, wurden Osterpäckchen gepackt und verschickt. Mit den Kindern und Eltern wurde telefoniert, es fanden Videokonferenzen und Spaziergänge statt. Spiele, die zum festen Bestandteil des Gruppengeschehens gehörten, wurden Corona-konform angepasst, um lieb gewonnene Gewohnheiten so gut wie möglich zu erhalten. 3.3 Arbeit an Gefühlen „Manchmal bin ich enttäuscht, traurig und wütend. Bestätige mir, dass alle Gefühle in Ordnung sind, und hilf mir, sie zu verarbeiten.“ Das Erkennen und der Umgang mit den eigenen Gefühlen ist ein wichtiger pädagogischer Bestandteil der MIKADO-Gruppe. Mithilfe von verschiedenen pädagogischen Interventionen werden die Wahrnehmung und der Umgang mit den eigenen Gefühlen thematisiert. Der Einstieg wird z. B. immer durch die Befindlichkeitsrunde mit kindlich aufbereiteten Emotionskarten gestaltet. Dabei hat jedes Kind die Möglichkeit, diejenige Karte auszuwählen, die seinem aktuellen Empfinden am ehesten entspricht. Es hat sich gezeigt, dass es den Kindern über diese Methode leichter fällt, ihre Emotionen zu benennen und darüber sprechen zu können. Die Kinder sind in ihrem Alltag häufig mit ambivalenten Gefühlen konfrontiert und konnten meist nicht erlernen, Emotionen differenziert wahrzunehmen, adäquat auszudrücken und effektiv zu verarbeiten. In den Familien sind die Kinder häufig gezwungen, besonders auf die Befindlichkeiten ihrer psychisch belasteten Eltern achten zu müssen, um die allgemeine Stimmungslage und Atmosphäre besser einschätzen und damit kontrollieren zu können. Raum für eigene Gefühle bleibt da kaum. Darüber hinaus erfahren die Kinder häufig nicht, dass die Erwachsenen ihre Emotionen spiegeln und bei der Bewältigung unterstützen. 184 uj 4 | 2021 MIKADO-Gruppen für Kinder belasteter Eltern 3.4 Arbeit an Verantwortung „Ich bin ein Kind, kein (Ersatz-)Partner.“ Kinder sucht- und psychisch kranker Eltern werden bewusst oder unbewusst häufig in die Rolle gedrängt, Aufgaben im Haushalt oder auch bei der Versorgung jüngerer Geschwisterkinder übernehmen zu müssen. Noch belastender ist es, für die emotionale Befindlichkeit eines Elternteils oder den Zusammenhalt des familiären Systems verantwortlich zu sein. In der Gruppe erfahren die Kinder, wie es sich anfühlt, Verantwortung abgeben zu können und versorgt zu werden. Zu Beginn der Stunde wird der Raum vorbereitet, es gibt kleine Snacks und das gemeinsame Essen ist fester Bestandteil der Gruppe. Verantwortung abzugeben und sich um nichts kümmern zu müssen stellt für die Kinder eine neue Situation dar. Häufig versuchen sie, das Gruppengeschehen zu kontrollieren und Verantwortung zu übernehmen. Hier gilt es zu begrenzen und von der gefühlten Verantwortung zu entlasten und den Kindern dabei zu helfen, die daraus zunächst entstehende Verunsicherung auszuhalten und zu überwinden. Auch wenn die Verantwortung immer in Händen der Gruppenleitungen liegt, haben die Kinder aber die Möglichkeit, ihre Ideen und Wünsche einzubringen und so das Gruppengeschehen mitzugestalten. An dieser Stelle lassen sich vor allem in der Interaktion mit anderen Kindern das Verhalten und die Interaktionsfähigkeit Einzelner gut beobachten. In der Gruppe kommt es immer wieder zu Situationen, in denen es zu Differenzen untereinander kommt, beispielsweise bei der weiteren Gestaltung des Gruppengeschehens oder wer nun zuerst von zu Hause erzählen darf. Gemeinsam und mit Unterstützung der Gruppenleitung können verschiedene Konfliktlösungsstrategien erprobt werden. 3.5 Psychoedukation „Sag mir, wie sich die Erkrankung meiner Mutter auf mich, meinen Alltag und unsere Familie auswirkt.“ Wie bereits beschrieben, haben Kinder psychisch und suchtkranker Eltern ein erhöhtes eigenes Erkrankungsrisiko. Viele Kinder haben daher Angst, dasselbe zu kriegen wie ihre Eltern (Köhler-Saretzki/ Roszak 2019). Zudem können sie das Verhalten ihrer Eltern nicht einschätzen und verstehen, was ihre gesamte Lebenssituation noch bedrohlicher erscheinen lassen kann. Daher gehört es zum festen Bestandteil von MIKADO, Informationen über die verschiedenen Krankheitsbilder in altersgerechter Form zu vermitteln, zum Beispiel mit Handpuppen oder Kinderbüchern. Auch wird intensiv und immer wieder erarbeitet, wie sie sich gut schützen können. Ein offener und ungezwungener Umgang mit diesen Themen, den die Kinder in anderen Settings (Schule, Freunde, Familie) oft nicht kennen, soll sowohl einer potenziellen Stigmatisierung als auch einer Tabuisierung entgegenwirken, mit denen viele betroffene Kinder gelernt haben zu leben. Die beschriebene Offenheit beginnt schon im Erstgespräch, in dem die Gruppenleitungen mit den Kindern und Eltern genau besprechen, warum das Kind an der Gruppe teilnehmen soll. Daher können auch nur Kinder aufgenommen werden, die bereits über die Erkrankung informiert sind. Wenn Eltern dies aber noch nicht gelungen ist, unterstützen die Gruppenleitungen bei einer altersadäquaten Aufklärung über die Erkrankung. Die Kinder müssen die Erlaubnis von ihren Eltern erhalten, in der Gruppe frei und offen über ihre Probleme und Sorgen sprechen zu dürfen. Mit den Kindern wird immer wieder erarbeitet, dass eine psychische oder Sucht- 185 uj 4 | 2021 MIKADO-Gruppen für Kinder belasteter Eltern erkrankung kein Grund ist, sich schämen zu müssen, und vor allem, dass sie keinerlei Schuld am Gesundheitszustand ihrer Eltern tragen. Dieses Lernen wird unterstützt durch den offenen Austausch mit den anderen Kindern der Gruppe, die ähnliche Erfahrungen in ihrem Alltag machen. 3.6 Elternarbeit „Meine Eltern sind anders, meine Eltern sind komisch, ich bin anders, ich bin komisch.“ Die enge Zusammenarbeit mit den Eltern ist ein wichtiger Bestandteil von MIKADO. Neben der Auseinandersetzung mit der eigenen Erkrankung benötigen psychisch und suchtkranke Eltern besondere Unterstützung in der Wahrnehmung der kindlichen Bedürfnisse sowie der Auswirkungen ihrer Erkrankung auf die Kinder. Im Rahmen von MIKADO finden deshalb regelmäßige Elterngespräche statt, in denen dies thematisiert wird. Die Gespräche zeigen oft, dass die kindlichen Belastungen bedingt durch die Erkrankung der Eltern häufig unterschätzt werden. Daher wird an praktischen Beispielen aus dem Familienalltag die Belastung der Kinder gemeinsam reflektiert. So können sich Eltern die Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes besser erklären und können diese in Verbindung mit ihrer eigenen Erkrankung bringen. Die Eltern erfahren Unterstützung sowohl in allgemeinen Erziehungsfragen als auch im speziellen Umgang mit ihrer Erkrankung und den Kindern. Bei Bedarf (z. B. Schulden oder manifestiertem Paarkonflikt) erfolgt eine Vermittlung in weiterführende Hilfen, sowohl trägerintern als auch extern. Der Weg in die eigene Familienberatungsstelle, Schuldnerberatung oder Suchtberatungsstelle ist dabei extrem kurz und niedrigschwellig und hat sich als äußerst effektiv und hilfreich für die KlientInnen herausgestellt. Auch ist eine Begleitung zu anderen Beratungsdiensten, zum Jugendamt oder eine Teilnahme an Hilfeplangesprächen bei Bedarf möglich. 3.7 Umgang mit Notfällen „Helft mir, wenn zu Hause alles zusammenbricht. Ich muss wissen, wer sich um mich kümmert, und will keine Angst haben müssen.“ Krisensituationen zeigen sich in der MIKADO-Gruppe an unterschiedlichen Stellen. Zum einen kann es zu Krisen während der Gruppenstunde kommen. Dies kann z. B. sein, weil ein Kind durch ein bestimmtes Thema in der Schule oder in der Familie so belastet ist, dass es weint und sofort ein Gespräch allein mit einer der Gruppenleitungen braucht. Die anderen Kinder der Gruppe reagieren in diesen Situationen erfahrungsgemäß feinfühlig, versuchen zu trösten, berichten von ihren eigenen Erfahrungen und bieten Lösungsvorschläge an. Damit ein flexibles und spontanes Eingreifen oder das Anbieten eines Einzelgespräches immer möglich ist, wird die Gruppe immer von zwei festen Gruppenleitungen durchgeführt. Der Ausfall einer Gruppenleitung (z. B. Krankheit oder Urlaub) wird durch eine Vertretung kompensiert. Wenn beide Gruppenleitungen verhindert sind, muss die Gruppe entfallen, da immer mindestens eine feste Bezugsperson anwesend sein muss. Um jederzeit auf die aktuellen Problemlagen der Kinder eingehen zu können, ist den Kindern der Inhalt der Gruppenstunde im Vorfeld nicht bekannt. So soll vermieden werden, dass es zu Enttäuschungen kommt, wenn eine Unternehmung aufgrund eines Notfalls ausfallen bzw. verschoben werden muss. Da es zwischen Eltern und Kindern auf dem Weg zur Gruppenstunde zu Krisen und Notfallsituationen kommen kann, sind die PädagogInnen vor, während und nach den Gruppenstunden für die Eltern telefonisch zu erreichen. 186 uj 4 | 2021 MIKADO-Gruppen für Kinder belasteter Eltern Darüber hinaus kann es auch innerhalb der Familien zu einer Vielzahl von Krisensituationen kommen, dazu zählen unter anderem Rückfälle bei den suchtbelasteten Eltern oder akute Krankheitsphasen bei den Eltern mit psychischer Erkrankung, Klinikaufenthalte von Kindern und/ oder Eltern, Sorgerechts- und Umgangsstreitigkeiten zwischen den Eltern usw. oder auch die Corona-Pandemie in diesem Jahr. Die Eltern und die Kinder haben daher jederzeit die Möglichkeit, bei einer der beiden Gruppenleitungen zeitnah Gesprächstermine in Anspruch zu nehmen. 4. Kooperation von Suchthilfe und Familienberatung zum Schutz des Kindeswohls Grundlage aller Maßnahmen ist eine qualifizierte und effektive Behandlung der elterlichen Erkrankung. Die psychischen Auffälligkeiten der Kinder können reduziert werden, wenn die elterliche Erkrankung erfolgreich behandelt wird. Im Rahmen des Angebotes MIKADO wird dies durch die enge Vernetzung und Anbindung an die Sucht- und Familienberatungsstellen des SKM und der CSH gewährleistet. Die psychische Erkrankung der Eltern geht einher mit einer Vielzahl von Belastungsfaktoren für die betroffenen Kinder. Elterliche Überforderung kann zu Gewalt und (seelischer) Verwahrlosung führen und damit zur Gefährdung des Kindeswohls. Nicht selten sind neben MIKADO noch andere Hilfesysteme wie beispielsweise Hilfen zur Erziehung oder Maßnahmen der Jugendhilfe involviert. Ein Austausch und Zusammenarbeit der Helfersysteme untereinander ist gewünscht und mit Hinblick auf die Sicherung des Kindeswohls unerlässlich. In der Arbeit mit den Familien ist es immer wieder nötig, Risiko- und Schutzfaktoren gegenüberzustellen und die Sicherung des Kindeswohls zu überprüfen. Die MIKADO- MitarbeiterInnen sind als insoweit erfahrene Fachkräfte im Kinderschutz (InsoFa) geschult und trägerintern mit anderen InsoFas vernetzt. 5. Zusammenfassung und Ausblick Die Kooperation eines Trägers für Suchthilfe und einer Familienberatungsstelle hat sich als ein tragendes Erfolgsmodell zum Wohle der Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern erwiesen. Nun existierte beim SKM Köln bereits seit vielen Jahren eine Gruppe für Kinder und eine für Jugendliche suchtkranker Eltern. Allerdings wurde auf Grundlage der oben beschriebenen Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Forschung das Gruppenangebot hinsichtlich Kinder psychisch kranker Eltern erweitert, neu konzipiert und durch die praktische Erfahrung im Tun der durchführenden Fachkräfte modifiziert. Das erste Angebot im Kölner Stadtteil Mülheim lief über drei Jahre hinweg und wurde aufgrund seines großen Erfolges inzwischen auf zwei weitere Stadtteile erweitert und durch das Jugendamt der Stadt Köln finanziert. Mit dem Gruppenprogramm MIKADO ist eine effektive lebensphasenbegleitende, themenübergreifende und langfristig kostengünstige Initiative entstanden, um diesen Themen Rechnung zu tragen. Finanziell entspricht den jährlichen Kosten für eine Gruppe mit acht Kindern eine stationäre Behandlung von zwei Kindern aufgrund einer psychischen Belastung. Wie viele stationäre Behandlungen konkret durch MIKADO oder auch andere spezifische Hilfsprogramme für die Zielgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern verhindert werden können, wäre eine interessante Forschungsfrage der Jugendhilfe für die Zukunft. 187 uj 4 | 2021 MIKADO-Gruppen für Kinder belasteter Eltern Dr. Thomas Köhler-Saretzki Alexandra Roszak Christliche Sozialhilfe Köln e.V. Knauffstr. 14 51063 Köln Tel.: (02 21) 6 47 09-31 Fax: (02 21) 6 47 09-32 E-Mail: thomas.koehler@csh-koeln.de a.roszak@csh-koeln.de www.csh-koeln.de Volker Biermann Miriam Müller SKM Köln − Sozialdienst Katholischer Männer e.V. Große Telegraphenstr. 31 50676 Köln Tel.: (02 21) 2 07 43 19 Tel: (02 21) 2 07 44 24 E-Mail: volker.biermann@skm-koeln.de miriam.mueller@skm-koeln.de www.jugend-sucht-beratung-koeln.de www.skm-koeln.de Literatur Brisch, K. H. (2019): Bindungsstörungen: Von der Bindungstheorie zur Therapie. 16. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Deneke, C. (2016): Wenn psychisch kranke Frauen Mütter werden. In: Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren e.V. (Hrsg.): Ein verrücktes Leben. Hilfen für Kinder und ihre psychisch kranken Eltern. Die Kinderschutz-Zentren, Köln Dietzel, A. (2016): Psychisch belastete Familien im Jugendamt. Was brauchen die Familien, was brauchen die Helfer(innen)? In: Bundesarbeitsgemeinschaften der Kinderschutz-Zentren e.V. (Hrsg.): Ein verrücktes Leben. Hilfen für Kinder und ihre psychisch kranken Eltern. Die Kinderschutz-Zentren, Köln Falkai, P., Wittchen, H.-U. (Hrsg.) (2015): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5. 1. Aufl. 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Dieses Buch erklärt die Entwicklung und verdeutlicht die Prinzipien der Sozialraumorientierung durch methodische Beschreibungen und praktische Hinweise zu personenbezogenen und personenübergreifenden Arbeitsweisen. Das Spektrum der Praxisbeispiele reicht von Sozialraumbegehungen und subjektiven Landkarten über Netzwerkförderung, Sozialraumanalysen, projektbezogene Netzwerkarbeit bis hin zur Sozialplanung. Ausgehend von einem ressourcenorientierten, personzentrierten und partizipativen Ansatz wird verdeutlicht, wie betroffene Menschen sich ihr Umfeld noch stärker erschließen und für die eigene Lebensführung nutzen können und wie dies durch Fach- und Leitungskräfte professionell unterstützt werden kann. Erlebnispädagogik mit dem Mountainbike a www.reinhardt-verlag.de Dieter Röh / Anna Meins Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe 2021. 235 Seiten. 11 Abb. 4 Tab. (978-3-497-03022-4) kt
