unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art35d
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Fucking Disabled
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Katharina Urbann
Den Einstieg in diesen Artikel möchten wir gerne mit einem Gedankenexperiment starten: Was löst es in Ihnen aus, wenn Sie mitbekommen, dass ein Mädchen* oder eine Frau* mit einer körperlichen Behinderung wiederholt unbeholfen masturbiert? Eventuell finden Sie die Bilder, die in Ihrem Kopf entstehen, etwas verstörend, und Sie fühlen sich, wie viele andere auch, überfordert. Genau bei diesen Tabus und (mentalen) Barrieren möchte dieser Artikel anknüpfen, um einen Beitrag zur Enttabuisierung und Sensibilisierung für die sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen* und Frauen* mit Behinderung zu leisten.
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216 unsere jugend, 73. Jg., S. 216 - 221 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art35d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Fucking Disabled Intersektionale Perspektive in der sexuellen Bildung mit Mädchen * und Frauen * mit Behinderung Den Einstieg in diesen Artikel möchten wir gerne mit einem Gedankenexperiment starten: Was löst es in Ihnen aus, wenn Sie mitbekommen, dass ein Mädchen* oder eine Frau* mit einer körperlichen Behinderung wiederholt unbeholfen masturbiert? Eventuell finden Sie die Bilder, die in Ihrem Kopf entstehen, etwas verstörend, und Sie fühlen sich, wie viele andere auch, überfordert. Genau bei diesen Tabus und (mentalen) Barrieren möchte dieser Artikel anknüpfen, um einen Beitrag zur Enttabuisierung und Sensibilisierung für die sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen* und Frauen* mit Behinderung zu leisten. von Dr.’in Katharina Urbann Jg. 1987; Sonderpädagogin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln im Bereich Pädagogik und Rehabilitation von Menschen mit Hörbehinderung, gemeinsam mit Esther Lißeck im Zentrum für inklusive Bildung und Beratung (ZiBB) zum Thema sexuelle.bildung.(hör)behinderung aktiv „Fucking disabled“ − so hieß eine provokante Theaterperformance von David von Westphalen aus dem Jahre 2018. In „Fucking disabled“ werden normative Vorstellungen von Schönheit, Lust und Begegnung − alles Themen sexueller Bildung − herausgefordert. Daher passt der Titel der Theaterperformance unserer Einschätzung nach gut zu diesem Artikel, da sowohl die Performance als auch dieser Beitrag die Tabuisierung der Sexualität von Mädchen* und Frauen* mit Behinderung kritisieren. Denn selbst wenn die rechtliche Basis zur sexuellen Selbstbestimmung von Mädchen* und Frauen* mit Behinderung in der UN-Behindertenrechtskonvention sowie in den sexuellen Menschenrechten verankert ist, so ist es bis zur vollständigen Umsetzung noch ein langer Weg. Barrieren für Mädchen* und Frauen* mit Behinderung Aus einem sozialen Blickwinkel betrachtet werden Menschen behindert. Entsprechend lautet § 2 des Sozialgesetzbuchs IX: „Menschen mit Be- Esther Lißeck Jg. 1969; Diplom-Sozialpädagogin (FH), Freiberufliche Sexualpädagogin, Trainerin für Selbstbehauptung und Selbstverteidigung für Mädchen und Frauen, Mitarbeiterin in einer Beratungsstelle für Menschen mit Hörbehinderung in Münster, gemeinsam mit Katharina Urbann im ZiBB zum Thema sexuelle.bildung.(hör)behinderung. aktiv 217 uj 5 | 2021 Sexuelle Bildung und Behinderung hinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.“ Barrieren existieren auf verschiedenen Ebenen: Beispielsweise räumlich durch Orte, die nicht rollstuhlgerecht sind. Auf https: / / wheelmap.org/ sind Orte markiert, die besonders oder gar nicht rollstuhlgerecht sind. Oder kommunikativ, indem öffentliche Veranstaltungen nicht von Gebärdensprachdolmetscher*innen begleitet werden oder kognitiv verzerrt durch Vorurteile und ableistische Diskriminierungen, die häufig verharmlosend als Mythen bezeichnet werden, beispielsweise dass Mädchen* und Frauen* mit Behinderung hyper- oder asexuell seien (Michielsen/ Brockschmidt 2021). Aufgrund dieser und weiterer Barrieren, denen Mädchen* und Frauen* mit Behinderung in ihrem Alltag ausgeliefert sind, sind sie in einem erhöhten Maße von Dritten abhängig. Sie stehen in einem unfreiwilligen Macht- und Abhängigkeitsverhältnis gegenüber Menschen, die z. B. sehen, hören oder laufen können und damit gemeinhin nicht als „behindert“ gelten. Anhand der genannten Beispiele wird deutlich, dass Barrieren, mit denen ein Mensch konfrontiert wird, ganz unterschiedlicher Art sind. Es gibt demnach nicht DAS Mädchen* oder DIE Frau* mit Behinderung, genauso wenig wie es DIE Sexualität gibt − also kann es demnach auch nicht DAS sexuelle Bildungsangebot für Mädchen* und Frauen* mit Behinderung geben. Jedes Mädchen* und jede Frau* mit Behinderung ist eine individuelle Persönlichkeit mit individuellen Erfahrungen und Bedürfnissen, die in der sexuellen Bildung berücksichtigt werden müssen. Gleichzeitig teilen Mädchen* und Frauen* mit Behinderung in bzw. aufgrund vorherrschender Macht- und Herrschaftsverhältnisse mehrdimensionale, sogenannte intersektionale, diskriminierende Erfahrungen (Michielsen/ Brockschmidt 2021). Beispielsweise ist die Betroffenheit von sexualisierter Gewalt von Mädchen* und Frauen* ohne Behinderung höher als die von Jungen* und Männern* ohne Behinderung (BMFSFJ 2005; Häuser et al. 2011). Ebenso sind Mädchen* und Frauen* mit Behinderung in einem noch höheren Maße von sexualisierter, physischer, psychischer und struktureller Gewalt betroffen als Mädchen* und Frauen* ohne Behinderung (Schröttle et al. 2013). Jedoch gibt es für Mädchen* und Frauen* mit Behinderung, im Gegensatz zu Mädchen* und Frauen* ohne Behinderung, kaum bedarfsgerechte Anlaufstellen, adäquate Beratungs- und Hilfsangebote (Lißeck/ Urbann 2017). Die intersektionalen diskriminierenden Erfahrungen potenzieren sich zudem etwa dann, wenn neben anderen Marginalisierungskategorien wie Armut, (soziale) Herkunft oder Bildung beispielsweise ein Mädchen* oder eine Frau* mit Behinderung in einer heteronormativ geprägten Gesellschaft als LSBTIQ* (lesbisch, schwul, bisexuell, trans*-, inter* oder queer) identifiziert oder/ und eine BIPoC (Black, Indigenous Person of Color) ist. Relevanz von sexueller Bildung für Mädchen* und Frauen* mit Behinderung Der intersektionalen Diskriminierung von Mädchen* und Frauen* mit Behinderung begegnet die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, indem sie einen umfassenden Diskriminierungsschutz und das Selbstbestimmungsrecht festlegt sowie eine inklusive Gesellschaft fordert. Entsprechend heißt es in Artikel 6: „Die Vertragsstaaten anerkennen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind und (…) treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der Förderung und der Stärkung der Autonomie der Frauen, um zu garantieren, dass sie die in diesem Übereinkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen können.“ 218 uj 5 | 2021 Sexuelle Bildung und Behinderung Dazu zählt selbstredend auch das Recht auf Sexualität. Die Grundauffassung, dass alle Menschen sexuelle Wesen sind und ein Recht auf Sexualität haben, wurde in den sexuellen Menschenrechten verankert. Dort heißt es in § 1: „Sexualität ist ein wesentlicher Teil der Persönlichkeit jedes Menschen. Aus diesem Grund müssen positive Rahmenbedingungen geschaffen werden, innerhalb derer jeder Mensch alle sexuellen Rechte als Teil seiner Entwicklung in Anspruch nehmen kann“ (International Planned Parenthood 2008). Auf dem Papier klingen diese Rechte vielversprechend. Ein Blick in die Praxis zeigt jedoch, dass zur wirklichen Umsetzung dieser Rechte noch ein weiter Weg zu gehen ist. Denn trotz ihrer formalen Rechte erleben Mädchen* und Frauen* mit Behinderung intersektionale Diskriminierung und werden nicht ausreichend als sexuelle Wesen wahrgenommen. Vorurteile und ableistische Diskriminierungen führen dazu, dass Menschen mit Behinderung weniger Freiheit im Ausleben ihrer sexuellen Rechte gestattet wird. In einer repräsentativen Studie aus Deutschland gaben beispielsweise fast alle Frauen* mit Behinderung, die nicht in einer Einrichtung leben, an, sexuelle Erfahrungen gemacht zu haben - jedoch nur ca. ein Drittel der Frauen* mit einer geistigen Behinderung, die in einer Einrichtung leben. Sowohl bei den Frauen* mit Behinderung, die in einem Haushalt, als auch bei den Frauen* mit Behinderung, die in einer Einrichtung leben, gaben zu 17 % an (blinde und körperbehinderte Frauen* sogar zu 25 %), sterilisiert worden zu sein (Schröttle et al. 2013). Zum Vergleich: Im bundesweiten Durchschnitt sind dagegen nur 2 % „nicht-behinderte“ Frauen sterilisiert (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2018). Neben der Sterilisations-Quote sind auch die Quoten zu Schwangerschaftsabbrüchen und Einnahme von Kontrazeptiva (80 %) und damit auch der Kinderlosigkeit enorm hoch (Schröttle et al. 2013). Vor dem Hintergrund dieser Zahlen schlussfolgern die Autor*innen: „Offensichtlich scheinen Familiengründungen bei Frauen mit sogenannten geistigen Behinderungen in Einrichtungen weder vorgesehen noch gewünscht zu sein, geschweige denn gefördert zu werden“ (Schröttle et al. 2013). Allgemein sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Unterstützung einer Familiengründung für Frauen* mit Behinderung absolut unzureichend, sodass viele Frauen* mit Behinderung oftmals die von außen (mit)bestimmte Entscheidung treffen, keine Kinder zu bekommen (Puschke 2017). Ausgehend von dem Verständnis, dass Sexualität weit mehr umfasst als ,nur‘ Sex im Sinne des Geschlechtsverkehrs, sondern auch den Wunsch nach Kindern und das Sammeln sexueller Erfahrungen mit anderen Menschen, ist Sexualität als ein Grundbedürfnis zu verstehen, welches mit der Realisierung von individuellen Bedürfnissen verbunden ist. Sexuelle Bildung ist daher notwendig, um Mädchen* und Frauen* mit Behinderung während des Prozesses ihrer individuellen Identitätsfindung als sexuelles Wesen zu begleiten. Gestaltung sexueller Bildung mit Mädchen* und Frauen* mit Behinderung Die Realisierung der sexuellen Rechte von Mädchen* und Frauen* mit Behinderung stellt eine große Herausforderung auf verschiedenen Ebenen dar: ➤ auf familiärer Ebene, ➤ auf institutioneller Ebene und ➤ auf individueller Ebene. Aufgrund der starken Abhängigkeiten, die teilweise ein Leben lang bestehen, gestaltet sich der Ablösungsprozess für Mädchen* und Frauen* mit Behinderung, aber auch für ihre Eltern, oft schwierig (Ortland 2008). Der Einbezug von Eltern und Bezugspersonen ist bei der sexualpädagogischen Arbeit dahingehend essenziell, als dass 1) durch gezielte Informationsvermittlung und Gespräche mit Eltern Verunsicherungen beseitigt werden können, 2) durch den sinnvollen Einbezug von Eltern und Bezugspersonen Mädchen* und Frauen* mit Behinderung in ihrer Emanzipation und Autonomie gegenüber ihrem 219 uj 5 | 2021 Sexuelle Bildung und Behinderung Familien-Setting gestärkt werden können. Eine gute Begleitung hierbei kann darin bestehen, wenn Eltern vor dem Hintergrund ihrer meist von Sorgen und Fürsorge geprägten Lebensumstände auf Verständnis stoßen und ihre Bedenken sowie Ängste ernst genommen werden. Gleichzeitig kann es hilfreich sein, Möglichkeiten und Wege aufzuzeigen, die ein autonomes und selbstbestimmtes Leben der Tochter ermöglichen. Ein Reflexionsprozess kann beispielsweise durch folgende Fragen angeregt werden: ➤ „Welche Gedanken und Gefühle haben Sie, wenn Sie sich vorstellen, dass Ihre Tochter in einer eigenen Wohnung lebt? “ ➤ „Was wünschen Sie sich für das Liebesleben Ihrer Tochter? “ ➤ „Was wünschen Sie sich für Ihr eigenes Leben, losgelöst von der Lebenssituation Ihrer Tochter? “ Die Selbstfürsorge der Eltern zu stärken, kann schließlich auch den Ablöseprozess unterstützen und somit ein selbstbestimmtes Leben der Tochter fördern. Auf institutioneller Ebene können die „Leitlinien gelingender sexueller Selbstbestimmung in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe“ als Wegweiser dienen (Jennessen/ Ortland/ Römisch o. J.). Um ein „Höchstmaß an sexueller Selbstbestimmung“ (Ortland 2016, 152) für die BewohnerInnen zu erreichen, sollen bei der Entwicklung eines Konzepts alle Beteiligten in den Blick genommen und einbezogen werden, allen voran Bewohner*innen, ebenso wie Nachtwachen und Praktikant*innen. Nur so kann sexuelle Selbstbestimmung ein selbstverständlicher Bestandteil der Einrichtungskultur werden. Das bedeutet, dass auf allen Hierarchieebenen eine positive und reflektierte Grundhaltung bezüglich sexueller Selbstbestimmung vorhanden ist, welche die Arbeit und das Leben in der Einrichtung trägt (Ortland 2016). Die Kooperation mit regionalen Fachberatungsstellen kann hilfreich sein, da sie Veränderungsprozesse professionell unterstützen können und Mädchen* und Frauen* zudem weitere adäquate Anlaufstellen kennenlernen. Aufgrund des Macht- und Abhängigkeitsverhältnisses, in dem sich Mädchen* und Frauen* mit Behinderung gegenüber Menschen ohne Behinderung befinden, spielen Fortbildungen für Fachkräfte, welche mit Mädchen* und Frauen* mit Behinderung arbeiten, bei der Realisierung der sexuellen Selbstbestimmung eine zentrale Rolle (Bosch 2013; Ortland 2008). Die in den Fortbildungen erworbenen Handlungskompetenzen sind elementar, um den vielfältigen Themen und Anforderungen, mit denen sie im Kontext Sexualität bzw. sexueller Selbstbestimmung von Mädchen* und Frauen* mit Behinderung konfrontiert werden, mit einem hohen Maße an Fachwissen, Selbstreflexionsvermögen und kommunikativer Kompetenz begegnen zu können. Voraussetzung dafür ist eine Bereitschaft, die eigene sexuelle Sozialisation sowie Privilegien zu reflektieren, die im Zuge von intersektionalen diskriminierenden Erfahrungen, die Mädchen* und Frauen* mit Behinderung erleben, relevant sind. Durch einen solchen Reflexionsprozess wird es möglich, die sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen* und Frauen* mit Behinderung sensibel, reflektiert und enttabuisiert zu begleiten. Denn der Umgang mit den Bedürfnissen und dem sexuellen Verhalten der Mädchen* und Frauen* mit Behinderung kann in der Praxis für Fachkräfte sowohl emotional und fachlich als auch ethisch herausfordernd sein. Folgende Fragen zeigen beispielhaft, wie solche Reflexionsprozesse initiiert werden können. ➤ „Stellen Sie sich vor, eine junge Rollstuhlfahrerin bittet Sie, sie dabei zu unterstützen, eine Sexualassistenz zu organisieren? “ ➤ „Welche Gedanken und Gefühle haben Sie, wenn eine junge Frau* mit einer Lernbehinderung häufig wechselnde Sexpartner*innen hat? “ ➤ „Welche Empfindungen haben Sie, wenn Ihnen eine junge Frau* mit einer geistigen Behinderung von ihrem Kinderwunsch berichtet und sie deshalb die Pille absetzen möchte? “ ➤ Und: „Was würden Sie denken, wenn es sich bei den genannten Beispielen um Jungen* und Männer* handeln würde? “ 220 uj 5 | 2021 Sexuelle Bildung und Behinderung Fortbildungsmöglichkeiten für Fachkräfte zum Themenschwerpunkt „Sexualität und Behinderung“ bieten beispielsweise das Institut für Sexualpädagogik (www.isp-sexualpädagogik. org), das Bildungsinstitut InForm der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. (www.informlebenshilfe.de) und für den Personenkreis Menschen mit Hörbehinderung das ZiBB − Zentrum für inklusive Bildung und Beratung e. V. (www.zibb-beratung.de) an. Neben bekannten Themen der sexuellen Bildung wie Körperaufklärung, sexuelle Vielfalt und Verhütung umfasst sexuelle Bildung mit Mädchen* und Frauen* mit Behinderung behinderungsspezifische Aspekte, da nur so sexuelle Bildung tatsächlich sensibel und passend sein kann. Vor dem Hintergrund der Barrieren und intersektionalen Diskriminierungserfahrungen der Mädchen* und Frauen* mit Behinderung sollten bei der sexuellen Bildung mit Mädchen* und Frauen* mit Behinderung insbesondere folgende Themen berücksichtigt werden: ➤ Vermittlung von Wissen über ihre sexuellen Rechte ➤ Unterstützung und Ermöglichung positiver Körpererfahrungen ➤ Dekonstruktion normativer Schönheitsideale ➤ Stärkung des (sexuellen) Selbstbewusstseins und der (sexuellen) Selbstwirksamkeit ➤ Bereitstellen von Informationen über Möglichkeiten der Sexualbegleitung und Sexualassistenz ➤ Auseinandersetzung mit einem möglichen Kinderwunsch ➤ Informationen über sexualisierte Gewalt und Hilfsmöglichkeiten. Demnach genügt es nicht, gängige Materialien und Programme beispielsweise in Leichter Sprache oder Deutscher Gebärdensprache anzubieten. Vielmehr ist ein Wissen über und eine Sensibilität für die Lebenswirklichkeit von Mädchen* und Frauen* mit Behinderung notwendig. Mädchen* und Frauen* mit Körperbehinderung beispielsweise können in ihrer sexuellen Entwicklung und Entfaltung eingeschränkt sein, da sie eventuell ohne Hilfsmittel ihren eigenen Körper nicht erkunden können oder ihnen Körpererfahrungen lediglich aus dem Kontext der Pflege bekannt sind. Aufgrund vielfältiger therapeutischer Maßnahmen erleben sich viele Mädchen* und Frauen* mit Behinderung als defizitär und korrekturbedürftig und können somit nur schwer ein positives Selbstbild entwickeln (Ortland 2008). Passend dazu lautet ein Zitat einer queeren Aktivistin mit Behinderung: „Egal wie viel ich an mir arbeite, ständig ist ein kleiner Teil in mir, der denkt ‚Ich gehöre hier nicht her, ich sollte mich schämen, ich bin nicht begehrenswert‘ - alles, was ich tue, ist wie ein schmerzhaftes Pflaster-Abreißen“ (Juerke 2020). Fazit Auch wenn die rechtliche Basis vorhanden ist, damit Mädchen* und Frauen* mit Behinderung sich als individuelle sexuelle Wesen frei entfalten können, so sind noch viele Schritte zu gehen, damit diese auf allen Ebenen tatsächlich umgesetzt wird. Um eine angemessene sexuelle Bildung zu realisieren, ist eine Enttabuisierung und Sensibilisierung sowohl im Bereich sexuelle Bildung als auch im Bereich Behinderung notwendig. Nur so kann der Facettenreichtum beider Aspekte angemessen, sensibel, enttabuisiert und nachhaltig in der Praxis umgesetzt und gelebt werden. Esther Lißeck Salzmannstr. 8 48147 Münster E-Mail: estherlisseck@zibb-beratung.de www.els-muenster.de Dr.’in Katharina Urbann Domstr. 62 50668 Köln E-Mail: katharinaurbann@zibb-beratung.de 221 uj 5 | 2021 Sexuelle Bildung und Behinderung Literatur BMFSFJ (2005): 1. Gender Datenreport. Kommentierter Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland. BMFSFJ, Berlin Bosch, E. (2013): Sexualität und Beziehungen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung. dgvt-Verlag, Tübingen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2018): Verhütungsverhalten Erwachsener. Ergebnisse der Repräsentativbefragung. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln Häuser, W., Schmutzer, G., Brähler, E., Glaemser, H. (2011): Maltreatment in childhood and adolescence. Deutsches Ärzteblatt International 8 (17), 287 - 294 International Planned Parenthood (IPPF) (2008): Sexual Rights. An IPPF Declaration. IPPF, London Jennessen, S., Ortland, B., Römisch, K. (o. J.): Leitlinien gelingender sexueller Selbstbestimmung inWohneinrichtungen der Eingliederungshilfe. In: https: / / www. forschung.sexualaufklaerung.de/ fileadmin/ filead min-forschung/ pdf/ ReWiKs-%20Leitlinien%20sexuel ler%20Selbstbestimmung-1.pdf, 14. 12. 2020 Juerke, V. (2020): „Behinderte Menschen sind sexuell − und auch queer! “ In: https: / / dieneuenorm.de/ ge sellschaft/ behinderte-menschen-sind-sexuell-undauch-queer/ , 14.12.2020 Lißeck, E., Urbann, K. (2017): Sexuelle Bildung und Prävention sexualisierter Gewalt für Menschen mit Hörbehinderung (Teil I). Das ZEICHEN 31 (107), 364 - 373 Michielsen, K., Brockschmidt, L. (2021): Barriers to sexuality education for children and young people with disabilities in the WHO European region: a scoping review. Sex Education, o. S., https: / / doi.org/ 10.1080/ 14681811.2020.1851181 Ortland, B. (2008): Behinderung und Sexualität. Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik. Kohlhammer, Stuttgart Ortland, B. (2016): Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Grundlagen und Konzepte für die Eingliederungshilfe. Kohlhammer, Stuttgart Puschke, M. (2017): Sexualität und Behinderung. Forum Sexualaufklärung 1, 10 - 13 Schröttle, M., Glammeier, S., Sellach, B., Hornberg, C., Kavemann, B., Puhe, H., Zinsmeister, J. (2013): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen in Deutschland. BMFSFJ, Berlin
