eJournals unsere jugend 73/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art37d
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„Aus Liebe?“ Der Weg in die Zwangsprostitution durch „Loverboys*“

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2021
Franka Margot Asselborn
In diesem Beitrag sollen Fachkräfte nicht nur informiert, sondern ermutigt werden, sich der „Loverboy*-Problematik“ anzunehmen, um die ihnen anvertrauten jungen Menschen zu befähigen, für sich wachsam zu sein, und um zu wissen, wo spezialisierte Präventions- und Unterstützungsangebote zu finden sind.
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228 unsere jugend, 73. Jg., S. 228 - 231 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art37d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Aus Liebe? “ Der Weg in die Zwangsprostitution durch „Loverboys * “ Praxisbezogene Implikationen für Fachkräfte in der professionellen Arbeit mit jungen Menschen In diesem Beitrag sollen Fachkräfte nicht nur informiert, sondern ermutigt werden, sich der „Loverboy*-Problematik“ anzunehmen, um die ihnen anvertrauten jungen Menschen zu befähigen, für sich wachsam zu sein, und um zu wissen, wo spezialisierte Präventions- und Unterstützungsangebote zu finden sind. von Franka Margot Asselborn Jg. 1990; Rehabilitationspädagogin (M. A.) in der Online-Beratung für junge Opfer sexuellen Missbrauchs, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Ausbildung (A/ TP), Hauptthemen: Junge Menschen in Haft, Sexarbeit/ Prostitution, Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung, sexualisierte Gewalt und sexuelle Bildung Einführung Im Jahr 2019 gaben 19 % der 427 Opfer von Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung an, durch die „Loverboy*-Methode“ in ihre Zwangslage geraten zu sein (BKA 2019, 10/ 12f ). Die Betroffenenzahl ist nach polizeilichen Schätzungen wie auch im Bereich der Sexualdelikte und im Feld der Prostitution bedeutend höher (ebd., 34); auch die wissenschaftliche Datenlage zum Thema ist dünn (Baier/ Hirzel/ Hättich 2019, 689). Prostitution/ Sexarbeit wird anhaltend tabuisiert: Die BZgA-Jugendsexualitätsstudie belegt eine Vernachlässigung des Themas Prostitution in der schulischen sexuellen Bildung, wobei 20 % der Befragten einen Wissenswunsch danach äußern (Bode/ Heßling 2015, 72). Die hohen Zahlen von (Zwangs-)Prostitutionserfahrungen bei jungen Menschen im Jugendvollzug unterstreichen die Relevanz des Themas in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der schulischen Bildung auch außerhalb von Haft (Asselborn 2020; Verlinden/ Asselborn/ Kaplan i. D.). Strategien von „Loverboys*“ und ihre Folgen Die sogenannte „Loverboy*(s)-Methode/ -Masche“ bezeichnet Strategien von meist jungen Männern*, eine Liebesbeziehung zu Mädchen* oder jungen Frauen* vorzutäuschen, d. h. eine emotionale Abhängigkeit herbeizuführen und sie gefügig zu machen, mit der Absicht, sie zur Prostitution zu zwingen, um sich an den Einkünften zu bereichern (MHKBG NRW 2018, 10). Die- 229 uj 5 | 2021 In die Zwangsprostitution durch „Loverboys*“ se Handlungsweisen finden sich in unterschiedlichsten Lebenslagen und in allen gesellschaftlichen Schichten (Bubenitschek/ Kannemann/ Wegel 2011, 537). Juristisch gilt die Masche nicht als Straftatbestand, sondern erscheint als Modus Operandi, d. h. als Anbahnungsstrategie der Täter*innen in unterschiedlichen Deliktfeldern (Hermanns 2019, 1f ). Das Phänomen gliedert sich in drei Phasen: 1. Die Kontaktaufnahme mit potenziellen Opfern findet hauptsächlich in sozialen Netzwerken, aber auch im öffentlichen Raum, in Schulen, ggf. auch im nahen sozialen Umfeld statt (Bubenitschek/ Kannemann/ Wegel 2011, 538f ). 2. Während des Aufbaus einer Abhängigkeitsbeziehung werden die Betroffenen* durch Komplimente, Aufmerksamkeiten und Versprechungen manipuliert, bis sie sich verlieben (ebd.). 3. Der Einstieg und die Aufrechterhaltung der Ausbeutung erfolgen bspw. durch die Ausnutzung sexueller Unerfahrenheit der Mädchen*. Es folgen oft Erpressungen durch Foto- oder Videomaterial der sexuellen Handlungen. Gängig ist auch die Vortäuschung finanzieller Not, bei der die Prostitution als einzige, sinnvollste Lösung dargestellt wird. Im Beziehungsverlauf nehmen Druck, Drohungen, Erpressungen sowie die Ausübung von physischer Gewalt (z. B. Vergewaltigung) zu. Die Drohung, der Familie Gewalt anzutun, oder die tatsächliche -anwendung ist ein häufiges Mittel, Ausbeutung aufrechtzuerhalten (Bubenitschek/ Kannemann/ Wegel 2011, 537ff ). Auch die Verabreichung von Drogen kann zum Fortbestand der Zwangslage führen (Krenzel 2019, 2). Manche Betroffene verweilen in sozialer Isolation, können ihren „Arbeitsplatz“ (bei Volljährigkeit u. U. legalisiert durch einen Prostituiertenausweis und rechtmäßiger Gewerbeanmeldung) nicht verlassen, müssen sich einen Haushalt mit dem Täter* teilen und bei der Rekrutierung anderer Mädchen* helfen (BKA 2021, 5). Die „Loverboy*-Strategie“ führt häufig zu keiner, verminderter oder falscher polizeilicher Aussagebereitschaft seitens Betroffener, was das tatsächliche Ausmaß der Problematik verdeckt (Hermanns 2019, 4). Betroffene aus dem Ausland sind besonders gefährdet (MHKBG NRW 2018, 9ff ). Die seelischen, sozialen und gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen können schwerwiegend und langwierig sein. Bspw. berichten betroffene Frauen* und Mädchen* von traumatischen Erfahrungen durch (sexuelle) Gewalt seitens des/ der Täter*in, bzw. durch eine Bindungsperson, ggf. auch durch Freier*innen, von Vertrauensverlust, Loyalitätskonflikten, Scham-, Schuld- und Angstgefühlen sowie von sozialer Isolation. Manche Betroffene entwickeln auch schwere psychische Erkrankungen (bspw. PTBS) und/ oder Suchterkrankungen (Norak/ Kraus 2018). Die gesellschaftliche Tabuisierung von Prostitution insgesamt (Weitzer 2010, 2f ), insbesondere bei Minderjährigen, sowie die Folgen von Abhängigkeitsdynamiken erschweren die Präventionsarbeit, die Inanspruchnahme von Hilfe und die strafrechtliche Ahndung innerhalb unseres prostitutionsliberalen Systems (BKA 2019, 34). Das Genfer Komitee der CEDAW mahnt das Fehlen einer umfassenden statistischen Erfassung von und Strategie gegen Menschenhandel an und beklagt das Fehlen strukturierter, flächendeckender Hilfesysteme für die Opfer sexueller Ausbeutung in Deutschland (UN 2017, 10f ). Praxisbezogene Implikationen Es stellen sich folgende Fragen für die pädagogische Praxis: 1. Wie erkenne ich betroffene Mädchen* und junge Frauen*? 2. Welche spezialisierten Unterstützungsangebote gibt es? und 3. Welche spezifischen Präventionsangebote kann ich als Fachkraft nutzen? Zu 1. Die Erkennung von Betroffenen in einer Zwangslage ist in vielen Fällen nicht eindeutig. Einige Beratungsstellen und Betroffeneninitiativen stellen Erkennungsmerkmale und Soforthilfetipps zur Verfügung (www.liebe-ohne-zwang. de/ betroffene). Da es sich um Adoleszenz oder anders begründete Veränderungen handeln kann, ist der Austausch mit spezialisierten Fachkräften (Bsp.: www.hilfetelefon.de) oder Betroffeneninitiativen (Bsp.: www.die-elterninitiative.de) im Zweifel hilfreich. 230 uj 5 | 2021 In die Zwangsprostitution durch „Loverboys*“ Zu 2. Für Betroffene bietet Wissen um die „Loverboy*-Methode“ und um spezialisierte, anonyme Hilfsangebote (s. o.; analoge und digitale Beratungsangebote; KOK − Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.) einen niedrigschwelligen Zugang zu Unterstützungsangeboten. Das Projekt Liebe ohne Zwang (www.liebe-ohne-zwang.de) vom Netzwerk gegen Menschenhandel e. V. stellt online eine Liste mit Beratungsstellen im gesamten Bundesgebiet für junge Opfer von Zwangsprostitution zur Verfügung. Betroffene können anonym und kostenlos in der Online-Beratung (Bsp.: Dortmunder Mitternachtsmission e.V.; FreiJa Diakonisches Werk Freiburg) ohne Gefahr von Überwachung über ein Benutzer*innen-Konto jederzeit Nachrichten versenden bzw. Antworten lesen. Auch die Opferschutzbeauftragten der Polizei können zu Hilfen vor Ort vermitteln. Spezialisierte Fachkräfte kennen unbekanntere Modelle wie die psychosoziale Prozessbegleitung oder die anzeigenunabhängige Spurensicherung und können abwägen, ob sie im spezifischen Fall als Handlungsoption infrage kommen. Zu 3. Die Aufklärungsarbeit über die „Loverboy*-Methode“ stellt einen wichtigen Schutzfaktor dar: Wer sensibilisiert ist, kann die Methode auch erkennen, wird schneller misstrauisch, kann sich gefährlichen Situationen früher entziehen oder ist eher in der Lage, Betroffene zu sensibilisieren und zu intervenieren (GGMH e.V. 2021). Vereinzelt gibt es spezifische Präventionsangebote: Das Projekt Liebe ohne Zwang, örtliche Projekte wie FreiJa (www.freija-loverboys.de) sowie die ehemalige Kriminalkommissarin Kannemann (No Loverboys e. V.) bieten kostenlose Vorträge an. Kampagnen wie EXIT.NRW tragen das Thema in die Öffentlichkeit (s. a. Erklärvideo „Sag nein! - zu sexueller Ausbeutung und Loverboys“ MHKBG NRW). Auch existieren Projekte in Deutschland, die sich für Präventionsarbeit im Ausland engagieren (Club SOROPTIST Aalen / Ostwürttemberg; Paulus 2020). Fazit Die „Loverboy*-Methode“ hat für viele Betroffene schwerwiegende Folgen. Spezialisierte Hilfen und Präventionsangebote existieren vereinzelt und sind häufig nicht regelfinanziert. Angesichts der beziehungsgebundenen Zwangslage ist die Inanspruchnahme von Hilfen für viele junge Opfer äußerst schwierig. Künftige Jugendsexualitätsstudien könnten nach (Zwangs-)Prostitutionserfahrungen fragen und Aufschluss über das Dunkelfeld liefern. Da das Thema Zwangsprostitution durch „Loverboys*“ Verbindungen zu den Themen „sexuelle Gewalt“ und „Liebe und Partnerschaft“ aufweist, erscheint es sinnvoll, die Thematik in der schulischen sexuellen Bildung und in der Ausbildung (zukünftiger) pädagogischer Fachkräfte zu implementieren. Auch die Förderung der Mediennutzungskompetenz nimmt einen zentralen Stellenwert in der Prävention ein. Solange in Deutschland eine prostitutionsliberale Gesetzgebung Prostitution/ Sexarbeit unter Einhaltung der ProstSchG-Vorschriften ab 18 Jahren erlaubt, müssen auch Prävention, Opferhilfen sowie die strafrechtliche Ahndung von Rechtsbrecher*innen flächendeckend vorhanden und zugänglich sein, damit wenigstens im Inland möglichst alle (jungen) Menschen informiert sind und Ausbeutungsverhältnisse und Reviktimisierungs-Kreisläufe zumindest bei ihnen erst gar nicht einsetzen. Es ist äußerst bedenklich, dass die Hilfe- und Präventionsmaßnahmen in einem Bereich, der in der organisierten Kriminalität weltweit als der lukrativste gilt (BKA 2021), bisher in den Händen weniger engagierter Einzelprojekte verweilen und nicht längst zum Kanon allgemeinbildender Schulen gehören. Franka Margot Asselborn Drogenhilfe Köln e.V. Projekt KidKit Victoriastr. 12 50668 Köln 231 uj 5 | 2021 In die Zwangsprostitution durch „Loverboys*“ Literatur Asselborn, F. (2020): Mädchen und junge Frauen des geschlossenen Jugendstrafvollzugs und ihre Erfahrungen mit Sexarbeit/ Prostitution und Zwangsprostitution. Unveröffentlichte Masterthesis, Universität zu Köln Baier, D., Hirzel, I., Hättich, A. (2019): Das Loverboy-Phänomen in der Schweiz. Kriminalistik. 11, 689 - 696 Bode, H., Heßling, A. (2015): Jugendsexualität 2015. BZgA, Köln Bubenitschek, G., Kannemann, B., Wegel, M. (2011): Die „Loverboys“-Methode. Ein neues Phänomen in der Jugendprostitution? Kriminalistik 8 - 9, 537 - 542 Bundeskriminalamt (BKA) (2019): Menschenhandel und Ausbeutung. In: https: / / www.bka.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ Publikationen/ JahresberichteUnd Lagebilder/ Menschenhandel/ menschenhandelBun deslagebild2019.html, 22. 12. 2020 Bundeskriminalamt (BKA) (2021): …Verdacht des Menschenhandels. In: https: / / www.bka.de/ DE/ IhreSicher heit/ RichtigesVerhalten/ VerdachtDesMenschenhan dels/ verdachtDesMenschenhandels_node.html, 2. 1. 2021 Gemeinsam gegen Menschenhandel e.V. (GGMH) (2021): Prävention. In: https: / / www.ggmh.de/ praevention/ , 2. 1. 2021 Hermanns, W. (2019): Entwicklung der „Loverboy-Methode“ zur Erzwingung von Prostitution in Nordrhein- Westfalen. Vorlage 17/ 1796. Stellungnahme 17/ 1657. In: https: / / www.landtag.nrw.de/ portal/ WWW/ doku mentenarchiv/ Dokument/ MMST17-1657.pdf, 20. 12. 2020 Krenzel, S. (2019): Stellungnahme zur Entwicklung der sogenannten „Loverboy-Methode“ zur Erzwingung von Prostitution in Nordrhein-Westfalen. In: https: / / landtag.nrw.de/ portal/ WWW/ dokumentenarchiv/ Dokument/ MMST17-1677.pdf, 20. 12. 2020 Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung (MHKBG) NRW (2018): Bericht des MHKBG für den Ausschuss für Gleichstellung und Frauen zum Thema: „Situation von Frauenhandel/ Menschenhandel und Prostitution in Nordrhein-Westfalen“. In: https: / / www.landtag.nrw.de/ Dokumentenservice/ portal/ WWW/ dokumentenarchiv/ Dokument/ MMV17-1354. pdf; jsessionid=F514A29D0CD9A145F0BFC338FFD 0B733, 20. 12. 2020 Norak, S., Kraus, I. (2018): Never Again! Surviving Liberalized Prostitution in Germany. Dignity. Vol. 3, Iss. 3, Art. 5., https: / / doi.org/ 10.23860/ dignity.2018.03.03.05 Paulus, M. (2020): Menschenhandel und Sexsklaverei. ProMedia, Wien United Nations (UN) (2017): Concluding observations on the combined seventh and eighth periodic reports of Germany. CEDAW/ C/ DEU/ CO/ 7-8 Verlinden, K., Asselborn, F., Kaplan, A. (i. D.): Sexarbeit/ Prostitution und Zwangsprostitution als Themen in der sexuellen Bildung - Ergebnisse einer empirischen Untersuchung über die Erfahrungen mit Prostitution und Zwangsprostitution von Mädchen und jungen Frauen des geschlossenen Jugendvollzugs. In: Vanagas, A. (Hrsg.): Sexualpädagogische (Re)Visionen. Sexualpädagogik als Diskriminierungsschutz für Schule und außerschulische Bildungsarbeit. Springer VS, Wiesbaden Weitzer, R. J. (2010): Sex for Sale. Prostitution, Pornography, and the Sex Industry. Second Edition. Routledge, London