eJournals unsere jugend73/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art42d
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2021
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Mehr als Notversorgung und Beratung: Nachhaltige Hilfsangebote für wohnungslose oder obdachlose Jugendliche

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2021
Sarah Beierle
Carolin Hoch
In Deutschland leben schätzungsweise 37.000 junge Menschen im Alter bis einschließlich 26 Jahren immer wieder auf der Straße und haben kein festes Dach über dem Kopf. Die meisten verfügen über langjährige Erfahrungen in der Jugendhilfe. Wer sind diese jungen Menschen, die sich weitgehend vom Hilfesystem abgewendet haben, und welche nachhaltigen Hilfsangebote werden in der Fachpraxis diskutiert?
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253 unsere jugend, 73. Jg., S. 253 - 261 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art42d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Mehr als Notversorgung und Beratung: Nachhaltige Hilfsangebote für wohnungslose oder obdachlose Jugendliche In Deutschland leben schätzungsweise 37.000 junge Menschen im Alter bis einschließlich 26 Jahren immer wieder auf der Straße und haben kein festes Dach über dem Kopf. Die meisten verfügen über langjährige Erfahrungen in der Jugendhilfe. Wer sind diese jungen Menschen, die sich weitgehend vom Hilfesystem abgewendet haben, und welche nachhaltigen Hilfsangebote werden in der Fachpraxis diskutiert? von Sarah Beierle Jg. 1983; Dipl.-Sozialwissenschaftlerin, Wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut, Außenstelle Halle Carolin Hoch Jg. 1987; Dipl.-Soziologin, Wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut, Außenstelle Halle Junge Menschen ohne festen Wohnsitz: Ein Thema in Praxis und Forschung Seit etwa zehn Jahren mehren sich aus der Fachpraxis der Jugendsozialarbeit folgende Beobachtungen: Es wird von einer zunehmenden Anzahl junger Menschen berichtet, die von Schule, Jugendhilfe und Sozialleistungsträger nicht mehr erreicht werden und − wenn überhaupt − erst dann wieder für diese sichtbar werden, wenn sich ihre prekäre Lebensweise bereits stark verfestigt hat. Sie halten sich zu großen Teilen außerhalb ihres Wohnsitzes auf und sind im Extremfall obdachlos. Hilfsangebote nehmen sie nur sporadisch wahr (siehe hierzu z. B. Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit 2010). Das Deutsche Jugendinstitut hat sich ab 2015 anschlussnehmend an eine intensive Beschäftigung mit der Thematik in den 1990er Jahren (Permien/ Zink 1998) wieder verstärkt des Phänomens der Straßenkarrieren junger Menschen angenommen. Es wurden rund 300 betroffene Jugendliche und junge Erwachsene im Alter bis einschließlich 24 Jahren zu ihren Straßenepisoden quantitativ befragt (Hoch 2016). Zudem wurde eine deutschlandweite Trägerbefragung durchgeführt, an der ca. 300 Einrichtungen teilnahmen, um die Anzahl der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter bis einschließlich 26 Jahren zu schätzen 254 uj 6 | 2021 Nachhaltige Hilfsangebote für wohnungs- oder obdachlose Jugendliche (Hoch 2017). Des Weiteren sind niedrigschwellige Modellprojekte der Jugendsozialarbeit, die sich an die Zielgruppe der „Straßenjugendlichen“ richteten und über den Innovationsfonds des Bundes gefördert wurden, wissenschaftlich begleitet worden (Beierle 2017; 2019). Die Forschungsergebnisse stoßen in der Fachpraxis auf großes Interesse. In den letzten Jahren haben Wohlfahrtsverbände, Träger der Jugendsozialarbeit, Stiftungen und Hochschulen Fachveranstaltungen durchgeführt, um Wissenschaft und Praxis zusammenzubringen und langfristig wirksame Handlungsansätze zur Unterstützung von wohnungslosen und obdachlosen Jugendlichen zu finden. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst die zentralen Ergebnisse der quantitativen DJI-Studien vorgestellt. In einem weiteren Schritt wird ein Überblick darüber gegeben, welche Diskurse und Lösungsansätze in der Fachpraxis der Jugendsozialarbeit zu finden sind, und dabei vorwiegend auf qualitative Ergebnisse rekurriert. Der Fokus liegt auf der Zielgruppe der wohnungs- und obdachlosen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Diese Gruppe wird in den Studien auch als „Straßenjugendliche“ bezeichnet - ein Begriff, der einer kritischen Einordnung bedarf (siehe hierzu z. B. Beierle 2019, 22f ). Da an dieser Stelle darauf verzichtet wird, wird nachfolgend von wohnungslosen und obdachlosen Jugendlichen oder Jugendlichen ohne festen Wohnsitz gesprochen. Auf die Auswirkungen der Pandemielage durch das Coronavirus kann auf empirischer Basis nicht eingegangen werden. Es steht allerdings außer Frage, dass sich hierdurch die prekäre Lage für Jugendliche ohne Obdach zusätzlich verschärft und dass es schnelle und auf die individuellen Lagen der Jugendlichen abgestimmte Hilfen braucht. Anzahl, Alter und Aufenthaltsorte Die Anzahl wohnungsloser oder obdachloser Jugendlicher im Alter bis einschließlich 26 Jahre wurde auf Grundlage einer Fachkräftebefragung im Jahr 2015/ 2016 auf 37.000 geschätzt. Rund ein Drittel davon sind obdachlos und zwei Drittel wohnungslos. In der Befragung wurde für Phasen der Wohnungslosigkeit das Schlafen bei FreundInnen am häufigsten genannt. In Phasen der Obdachlosigkeit lebten Betroffene faktisch auf der Straße oder kamen in Behelfsunterkünften unter. Allerdings sind die Aufenthaltsorte der Jugendlichen zumeist nicht statisch. Die Orte wechselten mitunter sehr schnell und an ein zwischenzeitliches „Unterkommen“ schlossen sich häufig wieder Zeiten ohne „Dach über den Kopf“ an. Die betroffenen Jugendlichen pendelten also zwischen verschiedenen „Zufluchtsorten“, wie z. B. Notschlafstellen, Wohnungen von FreundInnen oder (vermeintlichen) UnterstützerInnen und zugewiesenen Orten wie Jugendhilfeeinrichtungen, oder gingen bei großer Not (zeitweise) auch zurück zu ihren Familien. Für dieses Phänomen wird in der Fachpraxis auch der Begriff der „Straßenkarriere“ verwendet, der auf die Prozesshaftigkeit des Lebens auf der Straße verweist (Permien/ Zink 1998). Geschätzte 70 Prozent sind männlich und knapp 30 Prozent weiblich, wobei mit zunehmendem Alter der Anteil weiblicher Betroffener abnimmt. Sehr deutlich sticht der Eintritt in die Volljährigkeit als neuralgischer Punkt für Straßenkarrieren heraus. Liegt der Anteil der Minderjährigen bei 18 Prozent (davon weniger als ein Prozent unter 14 Jahre), verdoppelt er sich in der Altersklasse 18 bis 20 Jahre fast, und bleibt dann auch bei den 21bis 24-Jährigen hoch. Das durchschnittliche Alter des Eintritts in die Straßenkarriere liegt bei 16 Jahren. Eine Episode in Wohnungsund/ oder Obdachlosigkeit beträgt etwa ein Jahr. Gründe für die Straßenkarriere Die Gründe, die zu einer Loslösung oder Distanzierung von Sozialisationsinstanzen führen, sind vielfältig. Bei den allermeisten Jugendlichen lagen multiple, meist familiär bedingte Problemlagen wie z. B. Gewalt, Sucht, Armut 255 uj 6 | 2021 Nachhaltige Hilfsangebote für wohnungs- oder obdachlose Jugendliche oder emotionale Vernachlässigung vor. Bei der quantitativen Befragung nannten Minderjährige (66 %) und junge Volljährige (40 %) die Herkunftsfamilie als Hauptgrund. Aber auch individuelle Problemlagen wie z. B. Sucht, die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Freundeskreis oder die finanzielle Situation können zu einem Leben auf der Straße führen. Zugleich können auch nicht adäquate Ansätze der Jugendhilfe ein Auslöser sein, beispielsweise, wenn es für schwerwiegende Fälle nicht die richtigen Lösungsansätze gibt und sich „Maßnahmen-Karrieren” entwickeln. Jede/ r fünfte Befragte nannte das Jugendamt oder das Jobcenter als Grund für die Straßenkarriere. Die teilweise in der Öffentlichkeit vertretene These, dass zahlreiche Betroffene sich bewusst den Institutionen entziehen, um auf der Straße alternative Lebensentwürfe zu leben, konnte nicht bestätigt werden. Nur etwa jede/ r zehnte volljährige Befragte gab die „Suche nach mehr Freiraum“ als Hauptgrund für die Straßenkarriere an, bei den minderjährigen Jugendlichen traf dies nur auf einen Fall zu. Inanspruchnahme von Hilfen Die Fragebogenerhebung bei den Jugendlichen ergab, dass mehr als die Hälfte mit ihrer Situation ohne festen Wohnsitz sehr oder eher unzufrieden waren (21,7 % sehr unzufrieden; 30,5 % eher unzufrieden). Viele der Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben Kontakt zu niedrigschwelligen Angeboten der Jugendhilfe gehabt. Hierbei ist aber eine Verzerrung nicht auszuschließen, da der Befragungszugang zu den Jugendlichen hauptsächlich über Jugendhilfeeinrichtungen erfolgte. Von den Befragten wurden vor allem Beratungsangebote (45 %) und am zweithäufigsten Überlebenshilfen (28 %) genutzt: Erstere wurden insbesondere von wohnungslosen Jugendlichen in Anspruch genommen. Bei obdachlosen Jugendlichen, die sich in erster Linie um Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken oder Schlafen kümmern müssen, standen Überlebenshilfen im Vordergrund. Wie schon beim Anteil Betroffener wird mit Blick auf den Kontakt zu Jugendamt/ Jobcenter deut- Abb. 1: Geschätzte Anzahl wohnungsloser und obdachloser Jugendlicher 14 000 12 000 10 000 8 000 6 000 4 000 2 000 0 unter 14-Jährige 14 -17 18 - 20 21- 24 25 - 26 256 uj 6 | 2021 Nachhaltige Hilfsangebote für wohnungs- oder obdachlose Jugendliche lich, dass hier das Alter eine erhebliche Rolle spielt. Hat bei den Minderjährigen ein Anteil von 64 Prozent Kontakt zum Jugendamt, sinkt dieser bei den 18bis einschließlich 20-Jährigen auf nur noch 14 Prozent ab. Parallel dazu nimmt mit Erreichen der Volljährigkeit das Jobcenter eine zentrale Rolle ein. Mehr als zwei von drei der jungen Erwachsenen haben zu diesem Kontakt. Dies spiegelt sich auch in den Haupteinnahmequellen der Jugendlichen wider. Abb. 2: Kontakt zum Jugendamt 70 60 50 40 30 20 10 0 Kontakt zum Jugendamt in Prozent Abb. 3: Kontakt zum Jobcenter 80 70 60 50 40 30 20 10 0 < 18 18 - 20 > 20 - 24 < 18 18 - 20 > 20 - 24 Kontakt zum Jobcenter in Prozent 257 uj 6 | 2021 Nachhaltige Hilfsangebote für wohnungs- oder obdachlose Jugendliche Ein nicht unerheblicher Teil von 36,1 Prozent lebt hauptsächlich von staatlichen Unterstützungen, was in diesem Zusammenhang in der Regel Arbeitslosengeld II bedeutet. Wesentliche Unterschiede zeigen sich jedoch zwischen Minderjährigen und Volljährigen sowie zwischen Obdach- und Wohnungslosen. Beziehen Minderjährige und Obdachlose hauptsächlich Geld über den legalen Gelderwerb auf der Straße (z. B. betteln, Pfandflaschen sammeln oder Straßenmusik) und Geld von Bekannten, der Familie oder FreundInnen, sind es die Volljährigen und Wohnungslosen, die sich überwiegend durch staatliche Unterstützung finanzieren. Ansatzpunkte für nachhaltige Hilfen Im Anschluss an die vorgestellten quantitativen Studienergebnisse soll nun die Hilfepraxis der Jugendsozialarbeit beleuchtet werden. Dabei wird zum einen auf Erkenntnisse aus Interviews mit Fachkräften der Straßensozialarbeit und mit Jugendlichen ohne festen Wohnsitz eingegangen (Beierle 2017; 2019). Zum anderen sind Hilfeansätze der Fachpraxis aufgenommen worden, die z. B. auf Fachtagungen, in Publikationen oder in öffentlichen Stellungnahmen diskutiert und gefordert werden. Überlebenshilfen für junge Menschen Viele Träger der Straßensozialarbeit verfügen über Essensausgaben und Kleiderkammern und bieten ärztliche Sprechstunden an, um akut auf die bedrohliche Situation auf der Straße reagieren zu können. Dass es spezifische Nothilfen für junge Menschen gibt, ist sinnvoll, da sich diese oftmals von den Erwachsenen-Szenen und somit von allgemeinen Überlebenshilfen fernhalten. Ein großer Diskussionspunkt in der Jugendhilfe ist die Etablierung von mehr Notschlafstellen. Für minderjährige obdachlose Jugendliche bleiben die von der Wohnungslosenhilfe eingerichteten Stellen meist mit Verweis darauf verschlossen, dass man sie rechtlich nicht aufnehmen dürfe, sondern dem Jugendamt melden müsse. So gibt es deutschlandweit nur wenige Schlafstellen, in denen auch oder ausschließlich minderjährige Obdachlose unterkommen. Es ist nachvollziehbar, dass viele AkteurInnen der Jugendhilfe in Notschlafstellen keine adäquate Unterbringung sehen. Dies könnte aber auch in nicht unerheblicher Weise zu dem Phänomen beitragen, dass Jugendliche ohne Obdach zu einem hohen Anteil in Privatwohnungen unterkommen und für viele Angebote der Jugendsozialarbeit nicht mehr sichtbar sind. Dass die meisten der Jugendlichen nicht längerfristig ohne jegliches Obdach sind, mag im ersten Moment beruhigen. Jedoch handelt es sich bei diesen Behelfs-Konstrukten oftmals um prekäre Unterkünfte und bei den„HelferInnen“ sind die Grenzen zwischen FreundIn, Zufallsbekanntschaft und FreierIn oftmals fließend. Insofern sind anonyme Nothilfen für Träger der Straßensozialarbeit ein wichtiger Ansatzpunkt, um mit Jugendlichen in Not in Kontakt zu kommen, Vertrauen aufzubauen und weitere Hilfen und Beratung anzubieten. Junge Wohnungslose erreichen Aufgrund der hohen Anzahl wohnungsloser Jugendlicher, die nicht in einschlägigen Szenen verkehren, ist es für die Straßensozialarbeit und/ oder das Streetwork schwer, mit der Zielgruppe im öffentlichen Raum in Kontakt zu kommen. In der Fachpraxis werden wohnungslose Jugendliche auch als „Sofahopper“ oder „Couchsurfer“ bezeichnet. In den letzten Jahren sind verschiedene Angebote initiiert worden, über die versucht wird, Jugendliche in Wohnungsnot digital zu erreichen. Beispiele hierfür sind die bei vielen Trägern eingerichteten anonymen Online-Beratungen oder die von Straßen- 258 uj 6 | 2021 Nachhaltige Hilfsangebote für wohnungs- oder obdachlose Jugendliche jugendlichen selbst entwickelte MOKLI-App, über die Jugendliche in Not selbst Hilfsangebote online finden können. Und auch die Träger nutzen zunehmend Social-Media-Kanäle, um auf sich aufmerksam zu machen, sich vorzustellen und die Hemmschwelle für ein Aufsuchen der Angebote abzubauen. Über Projektarbeit Fähigkeiten der Jugendlichen stärken und sichtbar machen Da sich viele in ihrer Straßenkarriere schon frühzeitig von Bildungsinstitutionen abgewandt haben, bedarf es Angeboten, in denen sie sich ihrer Kompetenzen und Fähigkeiten (wieder) bewusstwerden und das Selbstvertrauen und ihre produktiven Handlungskompetenzen gestärkt werden. Ein sehr niedrigschwelliger Ansatzpunkt hierfür sind Kreativprojekte. Über die Themen Theater, Musik oder Handwerk kann sich der Kontakt von Trägern zu der Zielgruppe und ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Der Bezug von Hilfeleistungen wird nicht zur Voraussetzung des Zugangs gemacht, wohl aber ist der Einstieg in Hilfeprozesse und Beratung jederzeit möglich. Einen Schritt weiter gehen z. B. Straßenschulen, die zusätzlich auch die formale Bildung durch Prüfungsvorbereitungen, Arbeit in Kleingruppen oder Ausbildungsplatzsuche unterstützen. Der Träger Off Road Kids ermöglicht sogar, dass junge Menschen per Fernbeschulung Bildungsabschlüsse nachholen. Das Angebot richtet sich an Jugendliche, die sich eine Rückkehr an die Schule aufgrund von Mobbing- und Ausgrenzungserfahrungen nicht mehr vorstellen können, aber dennoch große Bildungsambitionen aufweisen. Zwar gehen Maßnahmen der Jugendberufshilfe ähnliche Wege, indem sie häufig praktisch und projektbezogen arbeiten. Allerdings ist das Beziehen von Sozialleistungen oft eine Voraussetzung für die Teilnahme. Angebote, die kaum oder keine Zugangsvoraussetzungen haben, werden dagegen nur selten regelhaft durch die kommunale Jugendhilfe gefördert. Sie finanzieren sich meist über kleinere Förderprogramme oder Spendengelder. Eine langfristige Bereitstellung der Angebote ist daher immer wieder in Gefahr. Überbrückungen in passgenaue Hilfen Viele obdachlose und wohnungslose Jugendliche haben bereits zahlreiche Maßnahmen der Jugendämter durchlaufen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Inobhutnahmen aus der Familie oder um frühzeitige Heimerfahrungen mit wiederholtem Einrichtungswechsel. Auch wenn das Eingreifen des Jugendamts zunächst von vielen betroffenen Jugendlichen als Entlastung empfunden wird, berichten sie häufig, dass sie längerfristig die Hilfen als Zwangsmaßnahmen wahrgenommen haben, die nicht auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmt waren. Als Reaktion haben sie gegen die Maßnahmen und Hilfen rebelliert, haben sich diesen verweigert und sind ihnen irgendwann ferngeblieben. Oder aber die Einrichtungen selbst waren überfordert und haben die Hilfe mit Verweis auf eine fehlende Mitwirkung des/ der Jugendlichen abgebrochen. Wenn sich also Jugendliche ohne festen Wohnsitz trotz solcher Vorerfahrungen dafür entscheiden, Hilfen anzunehmen, ist es unabdingbar, dass diese aktiv die Auswahl einer geeigneten Maßnahme mitbestimmen können. In der konkreten Anwendungspraxis ergeben sich Umsetzungsschwierigkeiten insbesondere dann, wenn die verschiedenen, im Hilfeplanverfahren eingebundenen AkteurInnen hinsichtlich der zu präferierenden Hilfemaßnahmen nicht übereinstimmen. Außerdem ist das Wunsch- und Wahlrecht der betroffenen Kinder und Jugendlichen (sowie Eltern) faktisch oftmals durch fehlende freie Plätze oder lange Wartezeiten in der „Wunsch“-Maßnahme bzw. Einrichtung eingeschränkt. Das vornehmliche Ziel ist es dann, Betroffene irgendwo schnellst- 259 uj 6 | 2021 Nachhaltige Hilfsangebote für wohnungs- oder obdachlose Jugendliche möglich unterzubringen, auch wenn es sich nicht um die optimale Hilfsmaßnahme handelt. Oder aber es entstehen zeitliche Lücken bis zum Start der geeigneten Hilfemaßnahme, was dazu führen kann, dass die Jugendlichen die Motivation verlieren und abrutschen. Wichtig wäre es also, dass Hilfeprozesse mit entsprechenden Ämtern schnell anlaufen, dass dabei aber mehr Zeit in die Eruierung von angemessenen Hilfsangeboten investiert wird. Als hilfreich werden häufig Angebote gesehen, bei denen eine langfristige Unterkunft möglich ist und die neben sozialpädagogischen Elementen auch therapeutische, schulische und berufsbildende Elemente aufweisen. Um zeitliche Lücken bis zum Start zu überbrücken, braucht es aus Sicht der Fachpraxis niedrigschwellige Angebote, in denen die Jugendlichen zwischenzeitlich unterkommen. Aus der Praxis wird hier die Etablierung von (mehr) sogenannten Clearing-Häusern mit entsprechend großen Platzkapazitäten gefordert. Sie könnten Jugendliche in ihrem Hilfeprozess bei Ämtern begleiten und ein sicheres Dach über dem Kopf bieten, bis andere Maßnahmen starten können. Wohnen als Grundrecht In der Begleitung von Straßenjugendlichen in ihren Hilfeprozessen hat sich ein sicherer Wohnort als grundlegende Voraussetzung gezeigt, um langfristige Perspektiven zu entwickeln. Junge Menschen brauchen einen Ort, den sie gestalten können und der ihnen die Sicherheit gibt, längerfristig dort wohnen zu können. In diesem Kontext wird das Konzept des „housing first“ in den letzten Jahren kontrovers diskutiert und auch von der Interessensvertretung der Straßenkinder „MOMO-Voice of disconnected youth“ immer wieder gefordert. Die Grundauseinandersetzung hierzu ist die Frage, wieviel Struktur und Kontrolle einerseits und Eigenständigkeit und Freiwilligkeit andererseits nötig sind, um (jungen) Wohnungslosen langfristig zu helfen. Das Konzept sieht vor, dass die Annahme von Hilfe nicht zur Voraussetzung für die Vermittlung von Wohnraum gemacht wird. Ein Stufenmodell, über welches sich Menschen eine Wohnung auf dem ersten Wohnungsmarkt über verschiedene Stufen (Gemeinschaftsunterkunft, Betreutes Wohnen, Wohnungen mit speziellem Nutzungsvertrag) erarbeiten müssen, wird abgelehnt. Vielmehr müssten Menschen in Wohnungsnot reguläre Mietwohnungen erhalten und weitere Hilfen müssten dann ambulant, flexibel und freiwillig erfolgen. Hierdurch sei dann sichergestellt, dass die Betroffenen ihre Wohnungen nicht verlassen müssen, wenn sie keine Hilfe mehr benötigen und somit eine Kontinuität des Wohnens gewährleistet ist (Busch-Geertsema 2011). Anders als beim betreuten Einzelwohnen sind sie dabei nicht an einen bestimmten Träger gebunden. Ab welchem Alter und für welche Zielgruppen ein solches Konzept sinnvoll ist, darüber besteht Uneinigkeit. Von anderen AkteurInnen wird der Ausbau von Unterkünften mit sozialpädagogischer Betreuung über das Jugendwohnen (§13 (3) SGB VIII) gefordert. Es soll junge Menschen während der Teilnahme an schulischen oder beruflichen Bildungsmaßnahmen und bei der beruflichen Eingliederung unterstützen und eine sichere Unterbringung bieten. Zuständigkeiten von Jugendhilfe und SGB II Wie oben dargestellt, stellt in Hinblick auf Unterstützungsleistungen die Volljährigkeit für Straßenkarrieren eine kritische Schwelle dar. In der Sozialen Arbeit wird daher schon seit Langem gefordert, die Leistungen der Jugendhilfe im Bedarfsfall über die Volljährigkeit hinaus bis zum 27. Lebensjahr zu gewähren und als einklagbares Recht zu verankern. Bislang stellen Hilfen für 18bis 21-Jährige im Kinder- und Jugendhilfegesetz zunächst eine „Soll-Leistung“ und ab dem 21. Lebensjahr eine „Kann- Leistung“ dar. Die unbestimmten Rechtsbe- 260 uj 6 | 2021 Nachhaltige Hilfsangebote für wohnungs- oder obdachlose Jugendliche griffe eröffnen jedoch einen Spielraum für die Ablehnung von Hilfen und den Weiterverweis an andere Systeme. Dies zeigt sich auch darin, dass die Gewährungspraxis von „Hilfen für junge Volljährige“ gravierende regionale Differenzen aufweist (Deutscher Bundestag 2017). Ein Ansatzpunkt, um zu verhindern, dass junge Menschen zwischen den Sozialleitungsträgern verloren gehen, ist die Einführung von Jugendberufsagenturen. Sie sollen die Kooperation der im Wesentlichen für die Gruppe der unter 25-Jährigen verantwortlichen drei Sozialleistungsträger - Agentur für Arbeit, Jobcenter und Jugendamt − vereinfachen, intensivieren und verbessern. Auch die Einführung des § 16 h im SBG II ermöglicht es, dass über das Jobcenter niedrigschwellige Maßnahmen für besonders schwer erreichbare Gruppen junger Erwachsener etabliert werden. Hier wird allerdings die vielfach bestehende Voraussetzung des Bezugs von SGB-II-Leistungen und die Vorgaben für kooperierende Träger der Jugendhilfe durch AkteurInnen der Jugendsozialarbeit durchaus kritisch gesehen (Der Paritätische Gesamtverband 2019). Um Jugendliche und ihre Familien bei Konflikten mit öffentlichen oder freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe bzgl. der Leistungsgewährung oder Leistungserbringungen rechtlich zu beraten, sind seit 2019 bundesweit Ombudsstellen für Kinder- und Jugendhilfe eingerichtet worden. Einige Veränderungen sind mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, welches sich gerade im Gesetzgebungsprozess befindet, anvisiert worden. Darin sollen die Ombudsstellen rechtlich verankert werden und die Hilfen für junge Erwachsene im § 41 spezifiziert werden. Auch die Rechte von Care Leavern - also jenen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe oder Pflegestellen groß geworden sind und in ihrem jungen Erwachsenenalter Unterstützung brauchen - sollen gestärkt werden. Ob sich hierdurch Obdachlosigkeit verhindern lässt und Jugendlichen in Not schneller geholfen werden kann, bleibt abzuwarten. Datengrundlage stärken Trotz dessen, dass sich in den letzten Jahren die empirische Basis zur Thematik verbessert hat, bleiben viele Fragen aus der Fachpraxis unbeantwortet. Die Schätzung zur Anzahl des Phänomens ist lediglich zu einem Zeitpunkt gemessen worden. Hierdurch ist ein gewisser Orientierungswert geschaffen worden. Allerdings können auf Basis dieser Daten keine Aussagen darüber getroffen werden, ob die Anzahl von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne festen Wohnsitz tatsächlich zugenommen hat. Dies wäre aber wichtig, um zu überprüfen, ob eingeführte Maßnahmen zu einer Verbesserung der Situation führen oder das Problem dennoch weiter zunimmt. Was hierfür fehlt, ist eine einheitliche bundesweite Statistik als Datengrundlage für Gesamtdeutschland. Bislang liegt eine solch umfassende jährliche Statistik nur in Nordrhein-Westfalen vor. Der Deutsche Bundestag hat allerdings im Jahr 2020 die Einführung einer bundesweiten Wohnungslosenberichterstattung beschlossen (Bundesanzeiger 2020). Dabei sollen unter anderem das Alter, Geschlecht, die Staatsangehörigkeit und die Haushaltsgröße erfasst sowie dokumentiert werden, in welcher Art Unterkünfte die betroffenen Menschen seit wann leben. Eine erste Erhebung soll 2022 stattfinden. Unklar ist noch, in welcher Form auch die Situation wohnungsloser und obdachloser minderjähriger Straßenjugendlicher berücksichtigt wird und wie das Dunkelfeld geschätzt werden soll. Ausblick Mit der Darstellung der Zahlen und Diskurse zum Thema Jugendobdachlosigkeit ist deutlich geworden, dass verschiedene Hilfeansätze kaum isoliert voneinander wirken können, sondern im Bedarfsfall miteinander verknüpft werden müssen. Dabei gibt es zahlreiche Ansätze, die eine Brücke zwischen Nothilfen und 261 uj 6 | 2021 Nachhaltige Hilfsangebote für wohnungs- oder obdachlose Jugendliche Beratung bilden können. Allerdings werden solche noch zu selten regelhaft gefördert. Niedrigschwellige Angebote sind aber die zentrale Voraussetzung dafür, dass Jugendliche in Not Hilfen annehmen können. Es gilt, einen Hilfeprozess zu starten, in dem die Jugendlichen so gestärkt werden, dass sie ihre individuellen Lösungsstrategien entwickeln können und bei deren Umsetzung langfristig unterstützt und begleitet werden können. Und eines ist klar: So individuell die persönlichen Problemlagen und Hilfeverläufe der Jugendlichen sind, so individuell abgestimmt müssen auch die Hilfsansätze sein. Sarah Beierle und Carolin Hoch Deutsches Jugendinstitut e.V. Franckeplatz 1, Haus 12/ 13 06110 Halle E-Mail : beierle@dji.de hoch@dji.de Literatur Beierle, S. (2017): Praxisbericht zur Projektarbeit mit Straßenjugendlichen. Erkenntnisse aus den Modellprojekten des Innovationsfonds (des Kinder- und Jugendplans) im Bereich Jugendsozialarbeit (2014 - 2016). Deutsches Jugendinstitut, Halle (Saale) Beierle, S. (2019): Projekte für die Zielgruppe der Straßenjugendlichen entwickeln und durchführen. Erkenntnisse aus Modellprojekten des Innovationsfonds des Bundes im Handlungsfeld Jugendsozialarbeit (2014 - 2016 und 2017 - 2019). Deutsches Jugendinstitut, Halle (Saale) Bundesanzeiger (2020): Gesetz zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung sowie einer Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen und zur Änderung weiterer Gesetze. Bundesgesetzblatt J. 2020, Teil I, Nr. 11 Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (2010): Konzepte und Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Integration benachteiligter junger Menschen. Positionspapier anlässlich der geplanten Instrumentenreform im SGB II und im SGB III. In: https: / / www.bagkjs.de/ wp-content/ uploads/ 2017/ 12/ Positionspapier_Konzepte_und_Rahmenbedin gungen.pdf, 5. 3. 2021 Busch-Geertsema, V. (2011): „Housing First“, ein vielversprechender Ansatz zur Überwindung von Wohnungslosigkeit. Widersprüche: Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich 31 (121), 39 - 54 Der Paritätische Gesamtverband (2019): In gemeinsamer Verantwortung. Jugendhilfe und Jobcenter fördern zusammen schwer erreichbare Jugendliche. In: https: / / www.der-paritaetische.de/ fileadmin/ user_upload/ Publikationen/ doc/ broschuere_schwererreichbare-jugendliche-2019_web.pdf, 5. 3. 2021 Deutscher Bundestag (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Drucksache 18/ 11050. In: https: / / www.bmfsfj.de/ resource/ blob/ 115438/ d7ed 644e1b7fac4f9266191459903c62/ 15-kinder-und-juge ndbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf, 5. 3. 2020 Hoch, C. (2016): Straßenjugendliche in Deutschland − eine Erhebung zum Ausmaß des Phänomens. Zwischenbericht − zentrale Ergebnisse der 1. Projektphase. Deutsches Jugendinstitut, Halle (Saale) Hoch, C. (2017): Straßenjugendliche in Deutschland − eine Erhebung zum Ausmaß des Phänomens. Endbericht − zentrale Ergebnisse der 2. Projektphase. Deutsches Jugendinstitut, Halle (Saale) Permien, H., Zink, G. (1998): Endstation Straße? Straßenkarrieren aus der Sicht von Jugendlichen. DJI Verlag, München