eJournals unsere jugend 73/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art44d
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2021
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Care Leaver als junge Wohnungslose

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Robert Frietsch
Dirk Holbach
Die Lebenslagen junger Wohnungsloser, die aus der stationären Jugendhilfe entlassen wurden, sind durch gravierende komplexe Problemlagen geprägt, die im Folgenden genderdifferenziert dokumentiert und analysiert werden. Daraus wird die Frage abgleitet: Welche methodischen Schritte sind konzeptionell fachlich geboten, um Wohnungslosigkeit von Care Leavern zu vermeiden?
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270 unsere jugend, 73. Jg., S. 270 - 277 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art44d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. jur. Robert Frietsch Jg. 1946; Dipl.-Psych., ist gemeinsam mit dem Fachkrankenhaus Vielbach Mitinitiator der „Initiative für das Recht auf Teilhabe von abhängigkeitskranken Wohnungslosen in Rheinland-Pfalz“ (TAWO) und aktuell im IFW der HS-Koblenz Leiter des BMBF-Praxis- Forschungsprojekts „Gesundheits- und Lebensorientierung für Care Leaver“ (Projektlaufzeit 1. 4. 2019 - 31. 3. 2022) Dirk Holbach Jg. 1960; M. A., Soziologe, ist Mitinitiator der „Initiative für das Recht auf Teilhabe von abhängigkeitskranken Wohnungslosen in Rheinland-Pfalz“ (TAWO) und aktuell wissenschaftlicher Mitarbeiter im BMBF- Praxis-Forschungsprojekt „Gesundheits- und Lebensorientierung für Care Leaver“ des Instituts für Forschung und Weiterbildung (IFW ), Hochschule Koblenz Care Leaver als junge Wohnungslose Neue Fachlichkeit durch Genderdifferenzierung, Salutogenese, Ressourcenorientierung, Case Management Die Lebenslagen junger Wohnungsloser, die aus der stationären Jugendhilfe entlassen wurden, sind durch gravierende komplexe Problemlagen geprägt, die im Folgenden genderdifferenziert dokumentiert und analysiert werden. Daraus wird die Frage abgleitet: Welche methodischen Schritte sind konzeptionell fachlich geboten, um Wohnungslosigkeit von Care Leavern zu vermeiden? Die psychosozialen Problemlagen junger Wohnungsloser Die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Deutschland, die auf der Straße oder in ungesicherten prekären Wohnverhältnissen leben, ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen (Beierle/ Hoch 2017). Dies wird nicht nur durch aktuelle Studien belegt, sondern auch von den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe 1 dokumentiert. Auffällig ist dabei der kontinuierliche Anstieg des Anteils junger Frauen auf 40 % (Frietsch/ Holbach/ Link 2014). Die Analysen der Biografien der jungen Wohnungslosen belegen traumatische Erfahrungen im Elternhaus, verfestigte Bindungsstörungen, unbewältigte Entwicklungsaufgaben und fehlende psychosoziale Unterstützung im sozialen Nahbereich. Symptomatisch sind die negativen Jugendhilfeerfahrungen und die dokumentierten abrupten Entlassungen aus der Jugendhilfe. Differenzierte Merkmale zur psychosozialen und gesundheitlichen Situation von jungen Wohnungslosen in Rheinland-Pfalz wurden im 271 uj 6 | 2021 Care Leaver als junge Wohnungslose Rahmen der TAWO-Studie (Frietsch/ Holbach/ Link 2014) erhoben. Auf der Basis der erhobenen Daten und daraus abgeleiteten strukturellen und fachlichen Konsequenzen wurde das Modellprojekt 2 „Schnittstellenmanagement Wohnungslosenhilfe“ (SMW) durchgeführt, um neue methodische Schritte für junge Wohnungslose unter 25 Jahren zu erproben und verbindliche Strukturen der Kooperation und Vernetzung trägerübergreifend zu praktizieren. Die Analysen der Ergebnisse des TAWO-Forschungsprojekts belegen, dass die Genese der Problemlagen in familiären Prozesserfahrungen verankert ist. Beschrieben werden die familiären Erfahrungen als sehr stark belastende und langwierige Beziehungskonflikte (einschließlich psychische/ physische Gewalterfahrungen). In der Folge sind gravierende Brüche in den Bereichen Schule, Ausbildung/ Arbeit (Bundschuh/ Ghandour/ Herzog 2016) sowie massive gesundheitliche Probleme (vor allem psychische Verhaltensauffälligkeiten, polyvalenter Substanzmissbrauch) belegt. Dokumentiert sind bei der Alterskohorte der unter 25-jährigen Wohnungslosen (U25) folgende Fakten: 33 % (F 39 %, M 29 %) standen im Beratungskontakt mit der Suchthilfe. Der Anteil ambulanter/ stationärer Aufenthalte zur Behandlung psychiatrischer Krankheitsbilder und psychischer Störungen wurden bei 65 % jungen wohnungslosen Frauen und bei 39 % jungen wohnungslosen Männern festgestellt. In direktem institutionellen Kontakt mit der Jugendhilfe standen 60 % dieser jungen wohnungslosen Menschen. Bei weiblichen Jugendlichen und jungen Frauen beläuft sich der Anteil sogar auf 78 %. Der Zugang in eine Einrichtung der Wohnungslosenhilfe erfolgt von „Care Leavern“ 3 in der Regel nicht direkt; vielmehr ist das sogenannte Couchsurfing oder Sofa-Hopping typisch, denn sie versuchen zunächst, den Status der Obdachlosigkeit zu verschleiern, indem sie über soziale Kontakte (FreundInnen/ Szene-Bekanntschaften) Übernachtungsmöglichkeiten nutzen, bis diese „erschöpft“ sind, um dann doch in der Wohnungslosenhilfe zu landen 4 . Dann finden 21 % der jungen Frauen und 28 % der jungen Männer durch Eigeninitiative und/ oder durch Hinweise von FreundInnen oder Bekannten Zugang in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Die direkten Zugänge in die Wohnungslosenhilfe über Institutionen (Haft, Psychiatrie etc.) sind daher nicht so häufig, da das „Couchsurfing“ die institutionellen Zusammenhänge kaschiert. Vom Jugendamt an eine Einrichtung der Wohnungslosenhilfe verwiesen werden 26 % der Frauen und 24 % der Männer dieser Altersgruppe. Aus einem sonstigen institutionellen Beratungskontext wie z. B. Suchtberatung finden 31 % der jungen Frauen und 10 % der jungen Männer den Zugang. Der Anteil, der nach einem stationären Aufenthalt (Psychiatrie, Suchtbehandlung etc.) in die Wohnungslosenhilfe gelangt, beträgt 11 % bei den Frauen und 12 % bei den Männern. Durch Polizei oder Ordnungsbehörde werden 10 % der Frauen und 17 % der Männer in die Wohnungslosenhilfe vermittelt. Ausschließlich bei Männern ist eine Vermittlung durch das Jobcenter sowie durch Jugendstrafbzw. Justizvollzugsanstalten mit jeweils 5 % dokumentiert. Formen der Ausgrenzung Konstitutives Merkmal von wohnungslosen jungen Menschen ist deren Ausgrenzung 5 oder die drohende Ausgrenzung aus sozialen Bezügen. In der biografischen Vorgeschichte treten bei jungen Wohnungslosen häufig mehr oder weniger starke Diskontinuitäten des Aufwachsens zutage. Zum Teil sind dies selbst initiierte oder von außen erwirkte Herausnahmen aus der Familie in Pflegestellen und/ oder frühzeitige Heimerfahrungen mit wiederholtem Einrichtungswechsel sowie damit verbundenen Betreuungs- und Beziehungswechseln. Weiter zeigen die Datenanalysen geschlechterspezifische Unterschiede auf. Dabei steht die 272 uj 6 | 2021 Care Leaver als junge Wohnungslose Fachdiskussion geschlechtersensibler fachlicher Hilfen in Forschung und Praxis definitiv erst am Anfang (Gerull 2018). Zweifelsohne ist die ‚Wohnungslosenszene‘ ebenso wie die Wohnungslosenhilfe von Männern und häufig auch männerspezifischen Lebenslagen dominiert. Erst seit wenigen Jahren hält ein gendersensibleres Bewusstsein Einzug in die Fachdiskurse der Wohnungslosenhilfe und es entstehen sehr zögerlich und mit Überwindung großer administrativer Hürden frauenspezifische Angebote. Es ist daher dringend erforderlich, die Lebenslage junger Wohnungsloser genderdifferenziert 6 - insbesondere der Zielgruppe der jungen wohnungslosen Frauen − zu erheben und daraus adäquate Ansätze zu gesundheitsförderlichen Interventionen und psychosozialen Beratungs- und weiterführenden Hilfesettings abzuleiten. Für die Konzipierung von Hilfe- und Versorgungsstrukturen gilt es, zu berücksichtigen, dass insbesondere bei jungen wohnungslosen Frauen die Compliance kaum entwickelt ist. Methodisch erforderlich ist hier, dass die Fachkräfte das Konzept der„Motivierenden Gesprächsführung“ (Motivational Interviewing (MI) nach Miller/ Rollnick 2015) anwenden, um Compliance zu fördern und zu verstärken. Das Modell der Salutogenese als Lebensorientierung Als weiteren methodischen Zugang, um eine Basis für die Annahme weiterführender Hilfen zu festigen, hat sich im Rahmen des Modellprojekts„Schnittstellenmanagement Wohnungslosenhilfe“ (SMW) das Salutogenese-Modell nach Antonovsky als zielführend erwiesen. Dem Salutogenese-Modell nach Antonovsky liegt die Annahme zugrunde, dass die individuellen Erlebnisse von der makro-sozialen Umwelt geformt sind und die eigentlichen Quellen des Kohärenzgefühls und damit der psychosozialen Gesundheit ganz wesentlich von der sozialen Situation beeinflusst werden, in die der/ die Einzelne eingebunden ist. Das Salutogenese- Modell bietet somit eine theoriegeleitete konzeptionelle Basis für die Förderung der psychosozialen Gesundheit, die die Stärkung der individuellen und der gesellschaftlichen Ressourcen beinhaltet (Franke 2012). Zur Messung des Kohärenzgefühls entwickelte Antonovsky eine Skala, „Orient to Life Questionaire“: Fragebogen zur Lebensorientierung, die sogenannte SOC-Skala (zur Validität und Reliabilität siehe hierzu Singer/ Brähler 2007). Ein Fragebogen mit 29 Items mit jeweils siebenstufigen Einschätzungsskalen. Der Fragebogen besteht aus: ➤ 11 Items zur Komponente Verstehbarkeit ➤ 10 Items zur Komponente Handhabbarkeit ➤ 8 Items zur Komponente Sinnhaftigkeit. Durch eine Face-to-Face-Bearbeitung des Fragebogens von Antonovsky zur Lebensorientierung, kurz: SOC-Skala, wird es möglich, gesundheitliche und psychosoziale Problem- und Konfliktbereiche ganz individuell von den KlientInnen einstufen zu lassen, um eine Basis für eine ganz individuelle Veränderungsbereitschaft des/ der KlientIn zu erarbeiten. Das Salutogenese-Konzept hält vielfältige Anschlussmöglichkeiten für eine nachhaltige Jugendsozialarbeit durch die Integration von spezifischen psychosozialen, entwicklungs- und bildungsbezogenen Fördermöglichkeiten vor, womit ein Zugang zur Stärkung des Kohärenzgefühls − eingebettet in eine konsequente Ressourcenerschließung − eröffnet wird (Strahler/ Nater/ Skoluda 2020; Kaluza 2014). Die Stärkung der generalisierten Widerstandsressourcen erfordert jedoch komplementär sozialstrukturelle Maßnahmen, konkret die Verbesserung der aktuellen psychosozialen Hilfeangebote, um so psychosoziale Interventionen zur Verbesserung der jeweils konkreten Lebenssituationen nachhaltig zu ermöglichen (vgl. Homfeldt/ Sting 2006). Der salutogenetische Ansatz ist ganzheitlich basiert und ressourcenorientiert; der Fokus ist auf die Förderbedingungen der materiellen 273 uj 6 | 2021 Care Leaver als junge Wohnungslose und immateriellen Ressourcen zentriert. Es gilt, mit der Ressourcenförderung eine Widerständigkeit gegenüber Stressoren zu erreichen und damit Energien für Problemlösungen und in der Folge für positive soziale und persönliche Entwicklungen zur Verfügung zu haben (Hartung 2011). Das salutogenetische Konzept entspricht somit der ganzheitlichen und ressourcenorientierten Handlungsbasis der Sozialen Arbeit (Thiel 2001) und stellt für die Bearbeitung und Bewältigung von gravierenden komplexen Problemlagen junger wohnungsloser Care Leaver eine zentrale Ausgangsbasis dar. Das Case Management-Konzept für junge Wohnungslose Bei der Umsetzung des Case Management-Konzepts konnten im Rahmen von Modellprojekten und Studien positive Effekte nachgewiesen werden. So wurden z. B. langjährig schwer Drogenabhängige besser erreicht und eine höhere Zufriedenheit sowohl bei KlientInnen als auch bei Fachkräften in der Jugend- und Drogenhilfe erzielt. Gleichzeitig resultierte daraus u. a. eine höhere Zielerreichung in der Jugendhilfe sowie eine Verkürzung von stationären Behandlungszeiten in der Psychiatrie (Löcherbach et al. 2018; Schmid 2018; Drack-Mayer 2015). Diese Umsetzungserfahrungen belegen weiter, dass durch entsprechend qualifizierte Fachkräfte Veränderungen im Sinne von mehr Effektivität und Effizienz durch Case Management (CM) möglich sind. Dabei gilt es vor allem, Teilziele und Rahmenziele neu zu operationalisieren und nach Abschluss des CM-Hilfeprozesses zu evaluieren. Das legt vorab die Implementierung eines Qualitätsmanagementkonzepts nahe, in dem die Struktur-, Prozess-, Ergebnisqualität fortlaufend bewertet werden kann. Auf der Systemebene heißt Steuerung hier neue Kooperationsformen mit den Betroffenen (Fachkräften unterschiedlicher Hilfeeinrichtungen, KlientInnen und deren Bezugssystem) zu konzipieren, umzusetzen und zu evaluieren. Steuern wird hier verstanden als Umsetzung von verbindlichen, effektiven, kollegialen Kooperationsformen, die bei der Bearbeitung von gravierenden komplexen Problemlagen bei jungen Wohnungslosen unerlässlich sind. Zielvereinbarung und Hilfeplanung Die Hilfeplanung für junge Wohnungslose baut auf den Resultaten eines ausführlich durchgeführten Assessments auf. Die gemeinsam festgelegten Ziele müssen erreichbar und im Idealfall sehr motivierend (MI zur Stabilisierung und Förderung der Compliance) sein. Darüber hinaus muss der Grad der Zielerreichung messbar sein. Durch die Zielvereinbarung bekommt der/ die KlientIn realistische Hinweise, die ihn/ sie erkennen lassen, dass er/ sie sich auf dem Weg zum Erfolg befindet. Das gemeinsame Erarbeiten und Formulieren der Ziele führt automatisch zu mehr Eigenverantwortung des/ der KlientIn, diese Ziele auch zu erreichen. Ein nicht zu vernachlässigender Effekt tritt aber auch auf der Seite der Fachkraft für das Case Management ein; die Erfolge der Arbeitsschritte im Case Management werden mess- und sichtbar und führen zu Erfolgserlebnissen, die in vielen anderen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit auf der Basis herkömmlicher Konzepte nur schwer nachweisbar sind. Am Ende der Phase der Zielvereinbarung und Hilfeplanung werden die nächsten Schritte und die Prüfsteine (Milestone) dokumentiert. Es ist festgeschrieben, was erreicht werden soll und woran die Zielerreichung zu identifizieren und zu überprüfen (Monitoring) ist. Basis hierfür ist die kooperative Bestandsaufnahme und mit allen Beteiligten abgestimmte Zielvereinbarung. Umsetzung des Hilfeplans In einem detaillierten Hilfeplan 7 sind alle Beteiligten und infrage kommenden Institutionen eingebunden und darin wird im Einzelnen festgelegt, wem welche Aufgaben/ Leistungen übertragen werden, um die erforderliche Ver- 274 uj 6 | 2021 Care Leaver als junge Wohnungslose bindlichkeit im gesamten Beratungs- und Hilfeprozess zu gewährleisten. Die Umsetzung der Leistungsplanung schließt ein, sich Klarheit über erforderliche rechtliche Anspruchsgrundlagen und Ressourcen zu verschaffen. CM findet immer auf zwei Ebenen statt: 1. fallbezogenes CM, 2. systembezogenes CM. Das heißt, einerseits ist das individuelle System der KlientInnen einzubeziehen, andererseits Netzwerkarbeit mit den beteiligten, professionellen Hilfesystemen zu leisten. Hier wird deutlich, dass CM ein differenziert kooperatives Verfahren ist und auf dem in der Sozialen Arbeit schon erprobten Instrument der Hilfeplankonferenz (nach CM: Assessment und Erstellung des Hilfeplans) basiert. Die Aufgaben/ Dienstleistungen werden für alle detailliert beschrieben und eindeutig formuliert. Es werden Zeiträume festgelegt, in denen die Schritte des Hilfeprozesses überprüft und reflektiert werden, um ggf. ein Re-Assessment zur Neuformulierung der (Teil-) Schritte und -ziele durchzuführen. CM ist danach kein neues Hilfekonzept der Jugendhilfe, der Sozialen Arbeit; der innovative Impetus besteht in der Fokussierung der Fachlichkeit der Sozialen Arbeit auf das Assessment, dem daraus abgeleiteten differenzierten Hilfeplan und last but not least − das Schwierigste − die rechtlich verbindliche trägerübergreifende Kooperationsverpflichtung bei der Umsetzung des Hilfeplans einschließlich Monitoring des gesamten CM-Hilfeprozesses (Frietsch 2014, 333ff ). Es gilt, diese strukturellen und fachlichen Prinzipien trägerübergreifend konsequent umzusetzen, um die Jugendlichen nach„ausschleichend-stützenden“ Jugendhilfemaßnahmen sozial und beruflich integrieren zu können. Fazit Für junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in Pflegefamilien und/ oder in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe verbracht haben und durch gravierende komplexe Problemlagen belastet sind (siehe Frietsch/ Holbach 2019), stellt die Beendigung dieser Jugendhilfemaßnahmen und der damit verbundene Übergang in das geforderte selbstständige Erwachsenenleben eine sehr kritische Weichenstellung dar. Um diesen Übergangsprozess nachhaltig gelingend zu gestalten − und zur Prävention von Wohnungslosigkeit − lässt sich aus den Analysen der Hilfeverläufe/ -erfahrungen dieser Gruppe der Care Leaver klar ableiten, dass die institutionellen Hilfen - insbesondere der Jugendhilfe − bisher nicht fachlich adäquat erfolgt sind und in diesem Handlungsbereich leistungsrechtliche und konzeptionelle Neuausrichtungen einer rechtzeitigen psychosozialen Diagnostik und differenzierter fachlicher Hilfen dringend geboten sind. Strukturell ist die Reform der rechtlichen Grundlagen (siehe Gesetzesentwurf zur Reform des KJHG; BT-Drucksache 19/ 26107) für die Zielgruppe der Care Leaver und hier der jungen Wohnungslosen seit Jahren überfällig. Es gilt jetzt endlich, auf einer erweiterten leistungsrechtlichen Basis die erforderlichen fachlichen Standards der Hilfen vorzuhalten und umzusetzen. Die Analysen der gravierenden komplexen Problemlagen der jungen wohnungslosen Care Leaver belegen, dass die methodischen Angebote zur Bearbeitung fachlich differenzierter ausgerichtet sein müssen 8 . Folgende fachlich-methodische Standards haben sich im Rahmen der SMW-Modellarbeit 9 sowie des BMBF-Praxis-Forschungsprojekts zur Gesundheits- und Lebensorientierung für Care Leaver 10 bereits bewährt: ➤ Durchgängige Motivierende Gesprächsführung (MI) zur Abklärung und Verstärkung der Compliance (Miller/ Rollnick) ➤ Diagnoseinstrumente für psychosoziale Problemlagen: SOC 29 (Antonovsky), AUDIT (Barbor), GHQ (Goldberg/ Williams), PTSS (Maercker), SDS (Gossop) ➤ Gesundheits-/ Resilienzförderung: HEDE Training zur Gesundheitsförderung (Franke) ➤ Case-Management-Konzept: Assessment/ Hilfeplanung/ Monitoring (Wendt/ Löcherbach) 275 uj 6 | 2021 Care Leaver als junge Wohnungslose Aufgrund der aktuellen Analysen von Studien und Fachdiskussionen sind daher vorrangig folgende Verbesserungsbereiche identifiziert worden: ➤ Partizipation: Stärkung der Mitbestimmung der Jugendlichen bei der Auswahl der Hilfeplanung, Hilfemaßnahmen ➤ Anwendung methodischer Standards: Zur adäquaten Feststellung komplexer Problembereiche, zur methodisch abgesicherten Hilfeplanung u. Monitoring (gem. Case Management) ➤ Kooperation und Vernetzung: Rechtlich verbindliche, trägerübergreifende Kooperationsvereinbarungen (öffentliche Jugendhilfe, Jugendhilfeträger der Freien Wohlfahrtspflege, Jobcenter, Bildungsträger, Suchthilfe, Sozialpsychiatrie, Schuldnerberatung, Jobcenter…) ➤ Junge wohnungslose Care Leaver als „schwer zu erreichende junge Menschen“ (gemäß § 16 h SGB II): Für die geforderte Zusammenarbeit zur adäquaten Förderung dieser Zielgruppe sind zwischen den Jobcentern und den Trägern der Jugendhilfe verbindliche Kooperationsverträge (analog CM-Konzept) abzuschließen, um auf die Zielgruppe passgenau abgestimmte, fachlich begleitete Förder- und berufliche Qualifizierungsmaßnahmen anbieten, umsetzen und evaluieren zu können. Es gilt weiter, leistungsrechtlich abzusichern, dass fachlich gebotene Hilfemaßnahmen über das 18. Lebensjahr hinaus bis zum 27. Lebensjahr gewährleistet sind. Nach der Entlassung aus der stationären Jugendhilfe sind für Care Leaver 11 fachlich unterschiedlich konzipierte Nachbetreuungen (für Krisenintervention, für sozialpädagogisch begleitete schulbzw. berufsqualifizierende Maßnahmen, für sozial begleitete genderspezifische Wohnformen, etc.) vorzuhalten. Vordringliches Ziel ist es, weitere Exklusionsprozesse für Jugendliche mit komplexen Problemlagen bei der Entlassung aus der stationären Jugendhilfe durch ein fachlich differenziertes Entlass-Management mit integrierter Nachsorge konsequent zu vermeiden. Anmerkungen 1 Junge Menschen sind in Deutschland gem. § 7 Abs. 1 Nr. 4, SGB VIII Personen, die noch nicht 27 Jahre alt sind. Allerdings finden in der Praxis viele Jugendliche lediglich bis zum 18. Lebensjahr Unterstützung in Einrichtungen der Jugendhilfe. Spätestens der Beginn des 22. Lebensjahres stellt ein weiteres wichtiges Datum hinsichtlich der Leistungsgewährung in der Kinder- und Jugendhilfe dar. Im Bereich des SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende gehen mit dem Beginn des 25. Lebensjahres sehr wesentliche leistungsrechtliche Konsequenzen einher. Dies sind u. a. der erst ab diesem Alter geltende Anspruch auf Leistungen zu Kosten der Unterkunft. 2 gefördert vom MASGD/ RP 3 Als Care Leaver werden im internationalen Diskurs junge Menschen bezeichnet, die einen Teil ihres Lebens in öffentlicher Erziehung - z. B. in Heimen, Wohngruppen oder Pflegefamilien - verbracht haben und sich nach Beendigung der Hilfe am Übergang in ein eigenständiges Leben befinden. Vgl. die Fachdiskussion zur sog. Care-Leaver-Thematik u. a. Nüsken 2014 sowie Wiesner 2014. Zur Genese von gravierenden komplexen Problemlagen bei Care Leavern siehe Frietsch/ Holbach 2019, BMBF-Praxis- Forschungsprojekt, IFW der HS-Koblenz 4 Diese Form des Couchsurfing ist zu unterscheiden von dem kommerziellen, internetbasierten Gastfreundschaftsnetzwerk CouchSurfing International. 5 Ausgrenzung kann hier verstanden werden als kumulativer und interdependenter Prozess der Benachteiligung in einer Vielzahl unterschiedlicher, für die Lebensführung relevanter Funktionsbereiche der Gesellschaft. 6 Wahrnehmung unterschiedlicher Geschlechterrollen entsprechend der sozialen Realität. 7 Der im Modellprojekt „Schnittstellenmanagement Wohnungslosenhilfe - Region Koblenz“ des IFW der HS-Koblenz entwickelte und angewandte spezifische Hilfeplan ist durch besondere Prägnanz gekennzeichnet, der sich gezielt an den Bedarfen der KlientInnen in der Wohnungslosenhilfe ausrichtet. 8 Für eine differenzierte Darstellung vgl. Ningel 2011 9 Die methodischen Standards werden differenziert erläutert in LZG 2016 10 Siehe Frietsch/ Holbach 2019 11 Zu den fachlichen Konsequenzen der Nachhaltigkeit der stationären Jugendhilfe siehe Klein/ Macsenaere/ Hiller 2021 und Klein 2019 276 uj 6 | 2021 Care Leaver als junge Wohnungslose Prof. Dr. jur. Robert Frietsch, Dipl.-Psych. Institut für Forschung und Weiterbildung (IFW ) Fachbereich Sozialwissenschaften Hochschule Koblenz Konrad-Zuse-Str. 1 56075 Koblenz E-Mail: frietsch@hs-koblenz.de Tel. 0261 9528226 Dirk Holbach Institut für Forschung und Weiterbildung (IFW ) Hochschule Koblenz Konrad-Zuse-Str. 1 56075 Koblenz E-Mail: holbach@hs-koblenz.de Tel. 0261 9528226 Literatur Arnold, T., Stüwe, G. (1991): Befragung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen an öffentlichen Plätzen in der Innenstadt. ISS-Paper Nr. 50, Frankfurt/ Main Beierle, S., Hoch, C. (2017): Straßenjugendliche in Deutschland - Forschungsergebnisse und Empfehlungen. Deutsches Jugendinstitut e. V., Halle Beierle, S., Hoch, C. (2018): Straßenjugendliche als Herausforderung für die Jugendhilfe. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 4, 29 Jg., 272 - 279 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2001): Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese - Diskussionsstand und Stellenwert. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung. Bd. 6. BZgA, Köln Bundschuh, S., Ghandour, E., Herzog, E. (Hrsg.) (2016): Bildungsförderung und Diskriminierung - marginalisierte Jugendliche zwischen Schule und Beruf. Beltz, Weinheim Drack-Mayer, G. (2015): Case Management in der Wiener Wohnungslosenhilfe. Case Management 4, 197 - 205 Franke, A. (2012): Modelle von Gesundheit und Krankheit. Huber-Verlag, Bern Frietsch, R. (2014): Case Management - Relevanz für Soziale Arbeit. In: Friesenhahn, G. J., Braun, D., Ningel, R. (Hrsg): Handlungsräume Sozialer Arbeit. Barbara Budrich, Opladen, 323 - 336 Frietsch, R., Holbach, D., Link, S. (2014): TAWO - Forschungsprojekt zur psychosozialen, gesundheitlichen Situation von Wohnungslosen in Rheinland-Pfalz. MS. IFW, HS-Koblenz Frietsch, R., Holbach, D. (2016): Gravierend-komplexe Problemlagen bei jungen Wohnungslosen - aktuelle Forschungsergebnisse, strukturelle und fachliche Konsequenzen. In: Gillich, S., Keicher, R. (Hrsg.): Suppe, Beratung, Politik. VS Springer, Wiesbaden, 95 - 110 Frietsch, R., Holbach, D. (2017 a): Modellprojekt „Schnittstellenmanagement in der Wohnungslosenhilfe in der Region Koblenz“. MS. IFW, HS-Koblenz Frietsch, R., Holbach, D. (2017 b): Junge Wohnungslose - Problemlage und psychische Auffälligkeiten. Kerbe - Forum für soziale Psychiatrie 3, 9 -12 Frietsch, R., Holbach, D. (2019): Entkoppelt vom System - Lebenslagen von Care Leavern. Fachtag Care Leaver (13.12.19). MS. IFW, HS-Koblenz Frietsch, R., Holbach, D. (2021): Life orientation and inclusion for young homeless people. In: Bundschuh, S., Freitas, M. J., Palacín Bartrolí, C., Zganec, N. 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Was die Seele stark macht. Programm zur Förderung psychosozialer Gesundheitsressourcen. 2. Aufl. Klett-Cotta, Marburg 277 uj 6 | 2021 Care Leaver als junge Wohnungslose Klein, J. (2019): Care Leaver - Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit. Fachtag Care Leaver (13. 12. 2019). MS. IFW, HS-Koblenz Klein, J., Macsenaere, M., Hiller, S. (2021): Care Leaver - Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit. Lambertus, Freiburg Landeszentrale für Gesundheitsförderung RP (LZG) (2016): Lebensorientierung für junge Wohnungslose. LZG-Modellprojekt. LZG, Mainz Löcherbach, P., Klug, W., Remmel-Faßbender, R., Wendt, W.-R. (Hrsg.) (2018): Case Management: Fall- und Systemsteuerung in der Sozialen Arbeit. 5. Aufl. Ernst Reinhardt, München Macsenaere, M. (2017): Was wirkt in den Hilfen zur Erziehung? Forens. Psychiatr. Psychol. Kriminol. 11, 155 -162, https: / / doi.org/ 10.1007/ s11757-017-0410-y Miller, W., Rollnick, S. (2015): Motivierende Gesprächsführung. 3. Aufl. Lambertus, Freiburg Ningel, R. (2011): Methoden der Klinischen Sozialarbeit. UTB, Stuttgart Nüsken, D. (2014): Übergänge aus der stationären Jugendhilfe ins Erwachsenenleben in Deutschland - Expertise. IGfH-Eigenverlag, Frankfurt am Main Petzold, T. D. (2013): Gesundheit ist ansteckend. Praxisbuch Salutogenese. Irisiana, München Schmid, M. (2018): Wie effektiv und effizient ist Case Management? Soziale Arbeit 67, 340 - 347 Singer, S., Brähler, E. (2007): Die „Sense of Coherence Scale“. Testhandbuch zur deutschen Version. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Strahler, J., Nater, U. M., Skoluda, N. (2020): Associations between health behaviors and factors on markers of healthy psychological and physiological functioning: a daily diary study. Annals of Behavioral Medicine 54, 22 - 35, https: / / doi.org/ 10.1093/ abm/ kaz018 Thiel, W. (2001): Welche Bedeutung hat die salutogenetische Sichtweise für Selbsthilfegruppen? In: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V. (Hrsg): Selbsthilfegruppenjahrbuch 2001. Focus, Gießen, 156 - 162 Wiesner, R. (2014): Hilfen für junge Volljährige. Rechtliche Ausgangssituation. IGfH-Eigenverlag, Frankfurt am Main © Jan Vašek / Pixabay Reinhard J. Wabnitz Digitale Lernkarten Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit 2020. (978-3-8463-0265-1) App 75 Lernfragen und Antworten behandeln die wichtigsten Regelungen im SGB VIII, die Leistungen und anderen Aufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe sowie deren Trägerstrukturen und Behörden. Dabei wird auf die vielfältigen Hilfs- und Förderangebote Bezug genommen. Die Brainyoo-Lernsoftware ist als App, Desktop-Version und in einer browserbasierten Variante verfügbar. Falsch beantwortete Fragen werden den NutzerInnen häufiger vorgelegt, während richtig beantwortete Fragen seltener wiederholt werden. Darüber hinaus können NutzerInnen eigene Inhalte, Lektionen und Fragen erstellen. a www.reinhardt-verlag.de