unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art47d
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Leaving Care international – Was kann die Kinder- und Jugendhilfe von anderen Ländern lernen?
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Carolin Ehlke
In anderen Ländern gibt es bereits eine Vielzahl an empirischen Erkenntnissen zu Care Leavern und ihrem Übergang aus der stationären Jugendhilfe ins Erwachsenenleben. Auch die Lobbyarbeit für diese Personengruppe und ihre Rechte zeigt sich dort sehr stark. Deshalb existieren bereits einige internationale Beispiele guter Praxis mit Blick auf den Leaving-Care-Prozess und die Unterstützung der jungen Menschen. Im folgenden Beitrag wird eine Auswahl an Praxisbeispielen vorgestellt, anhand derer aufgezeigt wird, wie eine gute Übergangsbegleitung aussehen kann. Es werden Anregungen für die deutsche Kinder- und Jugendhilfepraxis gegeben und ebenfalls eine Bewertung der aktuellen SGB VIII-Reform vor dem Hintergrund der internationalen Beispiele vorgenommen.
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290 unsere jugend, 73. Jg., S. 290 - 301 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art47d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Carolin Ehlke Jg. 1987; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik, Universität Hildesheim Leaving Care international - Was kann die Kinder- und Jugendhilfe von anderen Ländern lernen? In anderen Ländern gibt es bereits eine Vielzahl an empirischen Erkenntnissen zu Care Leavern und ihrem Übergang aus der stationären Jugendhilfe ins Erwachsenenleben. Auch die Lobbyarbeit für diese Personengruppe und ihre Rechte zeigt sich dort sehr stark. Deshalb existieren bereits einige internationale Beispiele guter Praxis mit Blick auf den Leaving-Care-Prozess und die Unterstützung der jungen Menschen. Im folgenden Beitrag wird eine Auswahl an Praxisbeispielen vorgestellt, anhand derer aufgezeigt wird, wie eine gute Übergangsbegleitung aussehen kann. Es werden Anregungen für die deutsche Kinder- und Jugendhilfepraxis gegeben und ebenfalls eine Bewertung der aktuellen SGB VIII-Reform vor dem Hintergrund der internationalen Beispiele vorgenommen. Seit über 10 Jahren findet ein umfassender wissenschaftlicher Diskurs um Leaving Care in Deutschland statt, welcher auch in der Fachpraxis der Kinder- und Jugendhilfe mehr und mehr wahrgenommen und vereinzelt auch schon in konkrete Angebote übersetzt wird. Leaving Care bezeichnet die Phase des Übergangs aus einem stationären Erziehungshilfesetting (Wohngruppe, Kinderdorf, Pflegefamilie, Erziehungsstelle o. Ä.) in ein eigenverantwortliches Leben. Care Leaver sind (junge) Menschen, welche einen Teil ihres Lebens in der stationären Kinder- und Jugendhilfe aufgewachsen sind und sich im genannten Übergang befinden oder diesen bereits bewältigt haben. Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit für diese Zielgruppe ist in den letzten Jahren vor allem deswegen gestiegen, da auch mit Blick auf die internationale Forschung deutlich wurde, dass Care Leaver verschiedenen Herausforderungen gegenüberstehen, die sie auf dem Weg ins Erwachsenenleben bewältigen müssen und die zu benachteiligten Lebenslagen im Vergleich zu Gleichaltrigen führen (können). Trotz der zumeist auch unterschiedlichen Bedarfe der Care Leaver zeigt sich insgesamt, dass die jungen Menschen zusätzlich zu den Kernherausforderungen des Erwachsenwerdens (Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung) einen zweiten Übergang bewältigen müssen. Der Übergang aus dem Jugendhilfesetting ist dabei mit spezifischen gesellschaftlichen Anforderungen verknüpft, wie z. B. selbstständig leben zu können und finanziell unabhängig zu sein. Gleichzeitig wird 291 uj 7+8 | 2021 Leaving Care international Care Leavern für die Bewältigung der einzelnen Aspekte in der Mehrheit - so zeigen es die bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen - weniger Zeit eingeräumt. Mit Erreichen der Volljährigkeit wird nicht selten das Hilfeende initiiert und eine eigenständige Lebensführung der jungen Menschen erwartet - für viele Care Leaver oft zu abrupt und zu früh. Aus einem solchen frühzeitigen Hilfeende, mit dem auch eine professionelle Hilfestruktur wegbricht, können unterschiedliche Folgen resultieren: finanzielle Schwierigkeiten, Herausforderungen im Übergang in einen eigenen Wohnraum, damit zusammenhängend ein erhöhtes Risiko der Wohnungslosigkeit, bildungsbezogene Herausforderungen und Hürden in der Integration in den Arbeitsmarkt, gesundheitliche Probleme und häufig auch eine fehlende bzw. nicht ausreichende soziale Unterstützung (Sievers / Thomas/ Zeller 2018; Ehlke 2020). Die Lebenslagen von Care Leavern spiegeln sich in anderen Ländern ähnlich wider. Auch hier, so zeigt es eine Vielzahl an internationalen Studien, erleben die jungen Menschen unterschiedliche Benachteiligungen. Im Gegensatz zu Deutschland sind in anderen Ländern bereits (jugendhilfe-)politische Konsequenzen aus den empirischen Erkenntnissen gezogen worden, die mitunter auch in rechtliche Veränderungen gemündet sind. In diesem Beitrag wird der Fokus auf die internationale Praxis von Leaving Care gelegt und ein Einblick in eine Auswahl an Praxisbeispielen gegeben. Der erste Schwerpunkt wird auf den Diskurs um „Extended Care“, damit verbundene „Aftercare“-Angebote und das sogenannte„Pathway Planning“ gelegt. Diese rechtlich festgeschriebenen Hilfeverlängerungen bzw. unterstützenden Angebote im Leaving Care bilden in den entsprechenden Ländern die Grundlage, um Hilfen über die Volljährigkeit hinaus zu gewähren. Darin eingebettet ist auch die bedeutsame advokatische Arbeit von Care Leavern und Lobbyorganisationen, die u. a. rechtliche Änderungen angestoßen haben. Als zweiter Schwerpunkt wurde das Thema „Peer-to-Peer Support“ ausgewählt, das exemplarisch anhand von trägergebundenen Gruppenaktivitäten mit Care Leavern und von Care-Leaver-Selbstorganisationen skizziert wird. Die dargestellten internationalen Praxisbeispiele werden sodann unter der Fragestellung „Was kann die Kinder- und Jugendhilfe von anderen Ländern lernen? “ diskutiert und auf den deutschen Kontext bezogen. Im Mittelpunkt steht die Bewertung der in der aktuellen SGB VIII-Reform vorgenommenen gesetzlichen Änderungen im Bereich Leaving Care vor dem Hintergrund der in diesem Beitrag dargestellten international bewährten Praxisbeispiele. Ein Resümee schließt den Beitrag ab. Beispiele internationaler Leaving-Care-Praxis „Die Gruppe der Care Leaver und die Gestaltung des Übergangs aus stationären Erziehungshilfen ins Erwachsenenleben sind in einigen Ländern in der Fachpraxis, in der sozialpolitischen Diskussion und auch in der wissenschaftlichen Forschung präsenter als in Deutschland“ (Sievers/ Thomas/ Zeller 2018, 166). So ist auch die Anzahl an internationalen Studien zur Statuspassage Leaving Care und zu den Lebens- und Bewältigungslagen von Care Leavern recht groß. Darin werden ähnliche Erkenntnisse sichtbar wie in empirischen Studien in Deutschland. Es wird auch dort deutlich, dass junge Menschen mit stationärer Jugendhilfeerfahrung im Prozess des Übergangs (und auch danach) vielfache Benachteiligungen erfahren. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Stärkung der Rechte von Care Leavern in der Fachpraxis und im Rahmen der Novellierung des SGB VIII erst nach und nach vorankommt, kann im Ausland bereits auf unterschiedliche Praxisbeispiele geschaut werden. Diese geben auch für die deutsche Fachpraxis interessante Anregungen. Im Folgenden werden internationale Praxisbeispiele exemplarisch skizziert. 292 uj 7+8 | 2021 Leaving Care international Extended Care, Aftercare und Pathway Planning - Rechtliche Regelungen und Hilfemaßnahmen über die Volljährigkeit hinaus Die Grundlage für eine gute Übergangsgestaltung ist ein Verständnis dafür, dass Hilfen nicht mit Erreichen der Volljährigkeit und ohne Zustimmung der jungen Menschen beendet werden dürfen. Dies ist vor allem bedeutsam, wenn die jungen Menschen noch Unterstützungsbedarfe haben und weitere Hilfen (stationär wie ambulant) wünschen. In einigen vor allem englischsprachigen Ländern wie den USA, Großbritannien oder Australien wurde diese Notwendigkeit der Hilfegewährung über die Volljährigkeit hinaus erkannt und z. T. schon in rechtliche Änderungen und entsprechende Hilfsangebote umgesetzt. In diesem Zusammenhang wird von sogenannter „Extended Care“ (verlängerten Hilfen) und „Aftercare“ (Nachbetreuung) gesprochen. In einer von einem internationalen ForscherInnenteam durchgeführten quantitativen Onlineerhebung wurde herausgestellt, dass von den 36 in dieser Studie befragten Ländern ca. die Hälfte rechtliche Regelungen zu„Aftercare“ besitzt und wiederum die Hälfte davon diese rechtlichen Regelungen zu Nachbetreuungen als gut entwickelt beschreibt (Australien, Dänemark, England, Finnland, Indien, Rumänien, Schottland und USA) (Strahl et al. 2020). Obwohl nur die Hälfte angibt, rechtliche Regelungen zu Nachbetreuungen zu haben, konstatieren zwei Drittel der Befragten, dass sie Angebote bzw. Einrichtungen im Rahmen von „Aftercare“ in ihrem Land haben (ebd.). Solche Angebote beinhalten u. a. die Unterstützung im Bereich Bildung und Arbeit, allgemeine Beratung zum selbstständigen Leben, spezifische Beratung zum Thema Wohnen bzw. Schulden oder therapeutische Unterstützung. Etwa ein Fünftel gibt an, dass es in ihrem Land eine sogenannte „Coming-Back- Option“ gibt - die Möglichkeit, nach Verlassen des (stationären) Hilfesettings wieder in das Jugendhilfesystem zurückzukehren, wenn der entsprechende Bedarf besteht (ebd.). Gleichwohl in einigen Ländern rechtliche Grundlagen existieren, die über die Volljährigkeit hinaus Hilfen für Care Leaver ermöglichen, zeigt sich in der Fachpraxis, dass Hilfen nicht selten durchschnittlich früher beendet werden: „However, the legal right to remain in care does not always translate into practice“ (ebd., 6). Die Notwendigkeit, (neue) rechtliche Grundlagen zur Stärkung der Rechte von Care Leavern auch in die Fachpraxis umzusetzen, zeigt sich bspw. in Norwegen. Das norwegische Kinder- und Jugendhilfegesetz (Child Welfare Act von 1998) ermöglicht eine Hilfeverlängerung bis zum 20. Lebensjahr und eine Rückkehroption bis zum 23. Lebensjahr (Sievers/ Thomas/ Zeller 2018). Die Jugendämter sind diesbezüglich dazu verpflichtet, partizipativ mit den jungen Menschen über eine Fortführung oder Beendigung der Hilfen zu entscheiden. Andere Hilfeleistungen (Beratung, finanzielle Unterstützung usw.) können ebenfalls bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres in Anspruch genommen werden. Zudem ist es für Jugendämter obligatorisch, die Beendigung von Hilfen zu begründen. Somit ist nicht„die Fortführung einer Hilfe über das 18. Lebensjahr hinaus begründungspflichtig […], sondern das Nicht-Gewähren von Leistungen“ (ebd., 171). In Indien ist „Aftercare“ ebenfalls rechtlich festgeschrieben. Im Juvenile Justice (Care and Protection of Children) Act von 2015 ist die staatliche Verantwortung für eine Nachbetreuung festgehalten: Über drei Jahre nach dem 18. Geburtstag und unter besonderen Umständen auch zwei weitere Jahre kann eine solche nachgehende Betreuung gewährleistet werden (Udayan Care 2019). Die Umsetzung von„Aftercare“ in der Praxis ist, wie bereits erwähnt, jedoch nicht immer gegeben. Vor allem engagierte NGOs, wie Udayan Care in Neu-Delhi, bieten Hilfen auch über die Volljährigkeit hinaus an. In einer Studie wurden acht zentrale Bereiche von Nachbetreuungsangeboten („Spheres of Aftercare“) aufgeführt: finanzielle Unabhängigkeit und Karriere, Identität und Be- 293 uj 7+8 | 2021 Leaving Care international wusstsein für Rechte/ Gesetze, Wohnen, Fähigkeiten zum selbstständigen Leben, soziale Unterstützung, emotionales Wohlbefinden, physische Gesundheit und (Aus-)Bildung (ebd.). „Aftercare“-Programme in Indien beinhalten dabei spezifische Trainings und Workshops für den Jobeinstieg, allgemeine Beratungsangebote oder auch betreute Wohnungen. Auch in Großbritannien gibt es rechtliche Regelungen zu „Aftercare“, die im Children Leaving Care Act von 2000 festgehalten sind (Frank 2017). Dementsprechend haben alle Care Leaver, die nach ihrem 14. Lebensjahr mindestens 13 Wochen in stationären Hilfen untergebracht waren, einen Anspruch auf diese Nachbetreuung. Angebote der ausschließlich ambulanten Nachbetreuung (Beratung, finanzielle Unterstützung usw.) können die jungen Menschen ab ihrem 16. Lebensjahr beantragen. Die Hilfen können dann bis zum 21. Lebensjahr und in bestimmten Fällen (z. B. wenn die Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist) auch bis zum 25. Lebensjahr gewährt werden. Das Kernstück der britischen „Aftercare“ ist das sogenannte „Pathway Planning“ (Übergangsplanung), welches beim öffentlichen Träger angesiedelt ist und das alle jungen Menschen in stationären Erziehungshilfen ab ihrem 16. Lebensjahr durchlaufen. In einem partizipativen Prozess werden während der Übergangsplanung mit den jungen Menschen und anderen wichtigen Akteuren (Eltern, LehrerInnen, BetreuerInnen etc.) die Bedarfe der Care Leaver eingeschätzt und mindestens alle sechs Monate überprüft (ebd.). Begleitet werden die jungen Menschen dabei von einem/ einer persönlichen BetreuerIn („Personal Advisor“). Diese/ r BetreuerIn wird von dem jeweiligen jungen Menschen benannt, muss keine sozialpädagogische Ausbildung besitzen und ist Vollzeit bei einem öffentlichen bzw. freien Jugendhilfeträger angestellt. Die BeraterInnen übernehmen„bereits während der Erziehungshilfe sukzessive und schließlich mit deren Ende die Aufgabe der Begleitung ins Erwachsenenleben“ (Sievers/ Zeller/ Thomas 2018, 177). Bis zum 21. Lebensjahr (bzw. in den bereits genannten Ausnahmefällen auch bis zum 25. Lebensjahr) sind die persönlichen BeraterInnen dazu verpflichtet, mindestens alle acht Wochen mit den jungen Menschen in Kontakt zu treten und den Übergangsplan, wenn notwendig, zu überarbeiten. Lediglich der junge Mensch kann den Kontakt zu dem/ der BeraterIn ab-/ unterbrechen bzw. die Betreuungsintensität anpassen. Jedoch ist der/ die BeraterIn auch bei einem Kontaktabbruch dazu verpflichtet, in Kontakt zu bleiben oder zumindest seine/ ihre Unterstützung anzubieten. Die Übergangsplanung in Großbritannien geht damit über die klassische Hilfeplanung hinaus und fokussiert insbesondere auf die Zeit nach der stationären Unterbringung. Damit folgt Großbritannien der leitenden Prämisse des „Corporate Parentship“ (gemeinsame Elternschaft): Der Staat setzt sich so für Care Leaver ein, wie es auch verantwortliche Eltern für ihre Kinder machen würden (Frank 2017). Mit Blick auf Pflegeverhältnisse gibt es außerdem die Möglichkeit eines sogenannten „Staying-Put“-Arrangements. Mit Erreichen des 18. Lebensjahres (und bis zum 21. Lebensjahr) können Pflegeverhältnisse transformiert werden: Wenn die jungen Menschen weiterhin bei ihrer Pflegefamilie wohnen bleiben, werden die Pflegeeltern zu VermieterInnen und die jungen Menschen zu MieterInnen (Sievers/ Thomas/ Zeller 2018). Die Miete kann aus öffentlichen Geldern gezahlt werden und darüber hinaus erhalten die Pflegeeltern eine Aufwandsentschädigung vom Jugendamt, welche jedoch geringer ist als das Pflegegeld, das sie vorher erhalten haben. Durch dieses „Staying-Put“- Konzept wird es den jungen Menschen ermöglicht, auch über die Volljährigkeit hinaus bei ihrer Pflegefamilie zu wohnen und damit auch emotionale und praktische Unterstützung im Übergang ins Erwachsenenleben zu erhalten. Auch kurzzeitige „Staying-Put“-Arrangements in den Ferien oder in der vorlesungsfreien Zeit sind möglich. Es wurde hier jedoch die Kritik geäußert, dass sich „Staying-Put“ lediglich an 294 uj 7+8 | 2021 Leaving Care international junge Menschen aus Pflegefamilien richtet. Daher wurde von 2018 - 2020 das Projekt „Staying-Close“ für junge Menschen aus stationären Wohngruppen durchgeführt, die nach Verlassen der Jugendhilfeeinrichtung in eine Wohnung in der Nähe der Einrichtung ziehen können. Offen ist aktuell, ob das „Staying- Close“-Konzept regelhaft in Großbritannien umgesetzt wird. Die staatliche Unterstützung von Care Leavern in Großbritannien - und die stetige Weiterentwicklung dieser - wird zudem im National Leaving Care Benchmarking Forum sichtbar. Dies ist ein Zusammenschluss von über 100 Kommunen, die Mitglied des Forums sind und für dessen Durchführung einen festen Mitgliedsbeitrag entrichten. Ziel des Forums ist es, öffentliche und freie Träger hinsichtlich des Themas Leaving Care zu begleiten und lokale und nationale Übergangsstrukturen stetig zu verbessern. Im Interesse einer kollegialen Weiterentwicklung der Übergangspraxis sowie fachlicher Standards werden Konferenzen, Workshops und Trainings durchgeführt, die sich dem Austausch über gelingende lokale Modelle widmen. Materialien und Konzepte werden den Mitgliedern auf einer exklusiv zugänglichen Onlineplattform zur Verfügung gestellt. Die hohe Anzahl kommunaler Mitgliedschaften unterstreicht den Stellenwert dieses Qualitätsentwicklungsinstruments (Frank 2017). Angegliedert an diesen Fachdialog sind auch Veranstaltungen und Austauschgruppen für Care Leaver (Young People’s Benchmarking Forum). In den USA unterstützt die Regierung die einzelnen Bundesstaaten seit 1986 finanziell, um den Übergang in ein eigenverantwortliches Leben von Care Leavern zu begleiten (Courtney 2019). 1999 wurde durch den Foster Care Independence Act und damit durch die Gründung des Chafee Foster Care Independence Programms diese finanzielle Unterstützung sogar verdoppelt. Die jährliche Förderung beträgt 140 Mio. Dollar und kann von allen amerikanischen Bundesstaaten in Anspruch genommen werden, die ein Konzept zur Unterstützung von Care Leavern einreichen. Bei einer Bewilligung der Förderung haben die Staaten eine relativ große Flexibilität, für welche Angebote sie die Gelder einsetzen. So können bis zu 30 % der staatlichen Förderung für Wohnungen für Care Leaver (bis zum 21. Lebensjahr) verwendet werden. Unterstützt wird bspw. auch dadurch, dass Care Leaver noch länger (ebenfalls bis zum 21. Lebensjahr) in der Medicaid, der amerikanischen Gesundheitsfürsorge für Personen mit geringem Einkommen, bleiben können. Das Chafee Programm ist jedoch optional und wurde bis 2016 etwa nur von der Hälfte der Bundesstaaten in Anspruch genommen (ebd.). Im Rahmen des Fostering Connections Act dürfen junge Menschen in den USA zudem bis zum 21. Lebensjahr in den Hilfesettings (Pflegefamilie, Wohngruppe, betreutes Wohnen) bleiben. Dies setzt zumeist jedoch voraus, dass der junge Mensch sich in einer Ausbildung oder Berufsmaßnahme befindet, einem Minijob nachgeht oder aufgrund gesundheitlicher Umstände nichts davon ausüben kann. Care Leaver können hier selbst entscheiden, wann die Hilfe endet. Jedoch muss 90 Tage vor dem Hilfeende ein persönlicher Übergangsplan (ähnlich wie in Großbritannien) zusammen mit den BetreuerInnen und anderen wichtigen am Übergangsprozess Beteiligten entwickelt werden (ebd.). Die Einschätzung und Perspektive der jungen Menschen soll hierbei im Mittelpunkt stehen: „The plan must be as detailed as the youth desires“ (ebd., 134). Durch diese längere (professionelle) Unterstützung, welche die grundlegenden Bedarfe der jungen Menschen abdeckt, kommt es laut amerikanischer Studien auch zu weniger Abbrüchen in der Bildungslaufbahn. Sobald Care Leaver die Hilfe jedoch verlassen haben, haben sie danach keinen Anspruch mehr auf Leistungen des Jugendhilfesystems. Großbritannien und die USA waren ein Beispiel für Australien, um auch dort die Hilfegewährung über die Volljährigkeit hinaus rechtlich zu 295 uj 7+8 | 2021 Leaving Care international implementieren. So haben in einem zeitlichen Rahmen von 18 Monaten vier australische Staaten probeweise die Jugendhilfeleistungen für eine ausgewählte Gruppe an Care Leaven bis 21 Jahre ausgeweitet. Dies hat sich als erfolgreich herausgestellt, sodass der Bundesstaat Victoria seit dem 1. 1. 2021 „Extended Care“ bis zum Alter von 21 Jahren für alle jungen Menschen rechtlich festschreibt. In vielen Ländern, in denen es gesetzliche Regelungen zu „Extended Care“ und „Aftercare“ gibt, ging nicht selten eine Lobbyarbeit voraus, die auf die Notwendigkeit von verlängerten Hilfen und entsprechenden Angeboten im Leaving Care hinwies. Zumeist lagen in den jeweiligen Ländern bereits erste oder schon umfangreiche empirische Erkenntnisse zu den Bedarfen und den unzureichenden Unterstützungsmöglichkeiten im Jugendhilfesystem der Länder vor, die die Forderungen nach rechtlichen Veränderungen begründeten. In Australien gab es bspw. die sogenannte „Home-Stretch“-Kampagne, welche von der Lobbyorganisation Anglicare Australia geleitet wurde. In dieser Kampagne wurden die einzelnen Regierungen in den Bundesstaaten dazu aufgerufen, Hilfen bis 21 Jahre auszuweiten. Diese Kampagne führte schließlich auch dazu, wie zuvor erläutert, dass nun zumindest in Victoria ein gesetzlicher Rechtsanspruch für Hilfen bis 21 Jahre für Care Leaver besteht. In Kanada (Ontario) gab es die Bewegung „Our voice our turn“, welche Kritik am bisherigen Jugendhilfesystem und den bis dahin vorhandenen staatlichen Unterstützungsleistungen übte. Daraufhin wurden Care Leaver Hearings organisiert, auf denen die jungen Menschen politischen VertreterInnen ihre Bedarfe und daraus abgeleitete Forderungen vorgetragen haben und mit ihnen in einen Austausch dazu gekommen sind. Auch hier war das Resultat, dass die Forderungen der Care Leaver in gesetzliche Änderungen übersetzt wurden (Sievers/ Thomas/ Zeller 2018). Während advokatische Kampagnen und Lobbybewegungen mitunter zeitlich begrenzt sind, gibt es bspw. in Irland eine auf nationaler Ebene agierende Freiwilligenorganisation, die sich anwaltschaftlich für die Rechte von Care Leavern einsetzt: „Empowering People in Care“ (EPIC). Gefördert wird EPIC durch Gelder aus dem öffentlichen Sozial- und Gesundheitssystem sowie durch private Spendengelder (ebd.). Die Organisation bietet einerseits eine 1 : 1-Unterstützung für junge Menschen an, die sowohl noch in der Jugendhilfe leben (ab 16 Jahren), als auch jenen, die sich im Übergangsprozess befinden oder die Hilfen bereits verlassen haben. Junge Menschen in stationären Hilfesettings müssen über die Arbeit von EPIC aufgeklärt werden (ebd.). Andererseits leistet EPIC Lobbyarbeit (Veranstaltungen, Podcast, Social Media, Austausch mit PolitikerInnen usw.) und ist ebenfalls im Bereich der Forschung involviert. Peer-to-Peer-Support - Gruppenaktivitäten und Care Leaver-Netzwerke Neben rechtlichen Regelungen, die die strukturelle Grundlage für eine längere Übergangsbegleitung bilden, zeigen internationale Studien, dass darüber hinaus unterstützende soziale Beziehungen (zu Erwachsenen, aber auch zu Gleichaltrigen) und damit die Einbindung in ein soziales Netzwerk wesentlich dazu beitragen, dass Care Leaver den Übergang in ein eigenverantwortliches Leben als positiv wahrnehmen. In unterschiedlichen Ländern bieten Jugendhilfeeinrichtungen diesbezüglich Gruppenaktivitäten an, um den Austausch unter den jungen Menschen (Peer-to-Peer) anzuregen und zu fördern. Die Organisation und Begleitung von Gruppenaktivitäten wird hier zumeist von Fachkräften/ BetreuerInnen der Jugendhilfeträger bzw. -einrichtungen übernommen. Ein Beispiel dafür ist die Robinson Crusoe Foundation in Polen. Dieser Jugendhilfeträger hat vor allem die berufliche Integration von Care 296 uj 7+8 | 2021 Leaving Care international Leavern zum Ziel. Das wichtigste Angebot ist die Gruppenarbeit mit jungen Menschen im Alter von 16 bis 20 Jahren. „Ziel dieser Gruppen ist es, den Peer-to-Peer-support zu stärken und kontinuierlich in einem geschützten Rahmen zur Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen beizutragen“ (Höffken/ Thomas 2020, 237). Für einen Zeitraum von insgesamt zwei Jahren treffen sich junge Menschen aus verschiedenen Einrichtungen und Wohngruppen des Jugendhilfeträgers für diese Gruppenaktivitäten. Darüber hinaus werden zweimal im Jahr 10-tägige Feriencamps (Sommer- und Wintercamp) angeboten, an denen bis zu 60 Care Leaver teilnehmen und Freizeitaktivitäten, wie Segeln oder Skifahren, unternehmen. Neben einrichtungsbzw. trägerspezifischen Gruppenangeboten zeigt sich in unterschiedlichen Ländern, dass Care-Leaver-Netzwerke - als Selbstorganisationen von jungen Menschen mit stationärer Jugendhilfeerfahrung - eine sehr zentrale Rolle im Übergangsprozess und danach einnehmen. In einer Studie wurde herausgestellt, dass es immer mehr solcher Care- Leaver-Netzwerke weltweit gibt, was vor allem auf die unzureichenden rechtlichen Grundlagen und damit zusammenhängend fehlende formale Unterstützung durch die einzelnen Länder zurückzuführen ist (Strahl et al. 2020). Etwas mehr als die Hälfte der befragten 36 Länder in dieser Untersuchung haben Care-Leaver-Selbstorganisationen, welche in der Mehrheit durch NGOs und etwa zur Hälfte staatlich bzw. durch private SponsorInnen finanziell unterstützt werden (ebd.). Als ein Beispiel für ein Care-Leaver-Netzwerk kann an dieser Stelle das Care Leavers Association and Network (CLAN), eine Selbstorganisation von Care Leavern in Neu-Delhi (Indien), genannt werden. Dieses Netzwerk existiert seit 2018 und versteht sich als ein unabhängiges, ehrenamtliches und durch Care Leaver geleitetes Netzwerk. Die Ziele von CLAN sind einerseits die Unterstützung der jungen Menschen in „Aftercare“-Angeboten, z. B. durch Trainings, und durch Peer-to-Peer- Support, um damit auch soziale Beziehungen untereinander aufzubauen. Andererseits wird Lobbyarbeit als zentral für das Netzwerk beschrieben, indem für den Bedarf an„Aftercare“-Angeboten ein gesellschaftliches und politisches Bewusstsein geschaffen und besonders auf das Recht junger Menschen auf nachgehende Betreuung hingewiesen wird. Neben länderspezifischen Gruppenaktivitäten und Care-Leaver-Netzwerken zeichnet sich mittlerweile ab, dass sukzessive auch ein länderübergreifender Austausch zwischen jungen Menschen in und aus der Jugendhilfe entsteht. „Multinationale Austausch- und Begegnungsräume, die von, mit und für junge Menschen gestaltet werden, bieten eine gute Möglichkeit für die Selbstorganisation, -bildung und Vernetzung von Care Leavern“ (Höffken/ Thomas 2020, 237). In einer Kooperation zwischen Polen, Serbien, den Niederlanden und Deutschland wurde in Anlehnung an die zuvor beschriebenen Feriencamps das gruppenpädagogische Konzept für eine internationale Begegnung von Care Leavern ausgeweitet (ebd.). Ein erstes internationales Summercamp fand August 2019 unter dem Motto „All Aboard“ in Polen statt. Gefördert wurde dieses Camp durch Mittel aus dem Erasmus+-Programm. An dem Camp nahmen 17 Care Leaver aus den beteiligten Ländern, sozialpädagogische BetreuerInnen der jungen Menschen sowie vier Studierende der Universität Hildesheim teil. Im Rahmen des Camps wurden erlebnispädagogische Aktivitäten, begleitete biografieorientierte Workshops, ein Segelworkshop und ein interkultureller Abend durchgeführt sowie über Bildungsbenachteiligungen in den einzelnen Ländern diskutiert (ebd.). Zentral war ebenfalls die Förderung der Fremdsprachenkompetenz, da die Campsprache Englisch war. Für viele der Teilnehmenden stellte das Camp die erste Möglichkeit dar, ins Ausland zu reisen bzw. an einer internationa- 297 uj 7+8 | 2021 Leaving Care international len Jugendbegegnung teilzunehmen (ebd.). Auch entstanden daraus länderübergreifende Freundschaften. Im Sommer 2021 ist in Zusammenarbeit von der Robinson Crusoe Foundation, der Kreuzberger Kinderstiftung und der Universität Hildesheim geplant, den internationalen Austausch fortzusetzen, indem je 12 Care Leaver aus Polen und aus Deutschland für je eine Woche nach Berlin bzw. nach Warschau reisen. Ein internationaler Austausch von Care Leavern fand im Dezember 2019 auch im Rahmen einer Partnerschaft zwischen Indien (Udayan Care) und Deutschland (Universität Hildesheim, Careleaver e. V.) statt (Thomas / Ehlke 2020). Diese Austauschwoche in Neu-Delhi war der Beginn einer langfristigen internationalen Kooperation und der Entwicklung eines internationalen Care-Leaver-Netzwerks. Mittlerweile sind verschiedene Länder in die Kooperation involviert (www.careleaverscommunity.org) und haben federführend geleitet durch Care Leaver und gemeinsam mit ihnen die digitale „International Care Leavers Convention“ im November 2020 mit verschiedenen Pre- Events und einem Post-Event durchgeführt (über 2500 Teilnehmende aus 83 Ländern, die Hälfte der Teilnehmenden waren Care Leaver) (Kochskämper 2021). Zudem finden seit Januar 2021 jeden letzten Sonntag im Monat digitale Care-Leaver-Cafés statt, die von Care Leavern organisiert und mit ihren Themen gestaltet werden. Was kann die Kinder- und Jugendhilfe von anderen Ländern lernen? Wird nun ein Blick auf die deutsche Jugendhilfepraxis und deren gesetzliche Regelungen geworfen, ist Folgendes festzustellen: Zwar gibt es seit 1990 das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII), das den Kontroll- und Eingriffscharakter des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) in der BRD und der Jugendhilfeverordnung (JHVO) in der DDR ablöste und vielmehr den Angebotscharakter für AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe (junge Menschen und ihre Eltern) in den Mittelpunkt rückte. Gleichwohl fanden seit der Einführung des Gesetzes keine wesentlichen gesetzlichen Änderungen statt, insbesondere mit Blick auf die Stärkung der Rechte der jungen Menschen. „Während in Deutschland in der Euphorie der Durchsetzung des progressiven Kinder- und Jugendhilfegesetzes geglaubt wurde, dass für die meisten Problemkonstellationen eine adäquate, rechtlich abgesicherte Leistung zur Verfügung steht - so als würde das Wort des Gesetzes bereits die Probleme lösen - musste in anderen Ländern die Situation der Care Leaver/ innen erst durch solide Sozialforschung, durch sozialpolitische Problematisierung und durch advokatorische Arbeit der Betroffenen selbst auf die politische und sozialpädagogische Tagesordnung gesetzt werden“ (Zeller/ Köngeter 2018, 15). Aus den zuvor beschriebenen internationalen Praxisbeispielen sollte deutlich geworden sein, dass in unterschiedlichen Ländern die Bedarfe von Care Leavern insbesondere durch empirische Forschungen und durch Lobbyarbeit erkannt und - oft in einem partizipativen Prozess gemeinsam mit den jungen Menschen - entsprechende Angebote für sie geschaffen wurden. Bestenfalls sind diese Hilfemöglichkeiten auch schon rechtlich festgeschrieben. Mit der Novellierung des SGB VIII wurde in Deutschland in den letzten Jahren eine Reform von bedeutenden rechtlichen Grundlagen, auch für Care Leaver, angestrebt. Dieser Prozess erfährt in dem aktuell vorliegenden „Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG)“ vom 5. 10. 2020 des BMFSFJ eine konkrete Ausformulierung. Die zuvor beschriebenen internationalen Praxisbeispiele werden folgend zu den im Gesetzesentwurf aufgeführten Änderungen in Bezug gesetzt und der Frage nachgegangen: Was kann die Kinder- und Jugendhilfe von anderen Län- 298 uj 7+8 | 2021 Leaving Care international dern lernen? Oder: Welche Ideen für eine bessere Übergangsbegleitung von Care Leavern finden sich im Gesetzesentwurf bereits wieder und welche bräuchte es noch? Hinsichtlich der verlängerten bzw. ausgeweiteten Hilfen i. S. v. „Extended Care“ bzw. „Aftercare“, wie in Norwegen, Indien, Großbritannien, den USA, Australien und Kanada, muss vor allem ein Blick auf § 41 SGB VIII-E (Hilfe für junge Volljährige) geworfen werden. Ziel der Neuformulierungen darin ist es, eine höhere Verbindlichkeit von Hilfen nach Erreichen der Volljährigkeit zu schaffen (bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, in begründeten Einzelfällen auch darüber hinaus). Hier wurde die vorherige Soll-Bestimmung in § 41 SGB Abs. 1 VIII („Einem jungen Menschen soll Hilfe […] gewährt werden“) geändert in „Junge Menschen erhalten geeignete und notwendige Hilfe […]“ (§ 41 Abs. 1 SGB VIII-E). Verschiedene Stellungnahmen zur SGB VIII-Reform (eine Übersicht hierzu findet sich unter https: / / afet-ev.de/ themenplattform/ themen/ sgb-viii) kritisieren, dass die ursprünglich im Dialogprozess „Mitreden - Mitgestalten“ ausdrücklich geforderte Formulierung eines Rechtsanspruchs („Muss- Regelung“, „hat Anspruch auf“), wie es ihn in Großbritannien gibt, damit nicht umgesetzt wird. Sowohl für die handelnde Fachpraxis als auch für die jungen Menschen wird eine eindeutigere Formulierung gefordert, die Rechtsunsicherheiten und regional unterschiedlichen Auslegungen des Gesetzestextes entgegenwirkt und den individuellen Rechtsanspruch für Care Leaver stärkt. Hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen ist des Weiteren laut des Entwurfpapiers keine Prognose mehr dafür erforderlich, dass durch die Gewährung der Hilfen für junge Volljährige eine eigenverantwortliche Lebensführung erreicht wird. Vielmehr zählt der Status quo, folglich ob zur Zeit der Hilfebeantragung die Gewährleistung einer selbstständigen Lebensführung nicht gegeben ist. Jedoch bleibt die Begründung für den Erhalt von Hilfen nach wie vor - trotz Umformulierung - sehr defizitorientiert. Nach § 41 Abs. 1 SGB VIII-E wird Hilfe nur so lange gewährt, wie Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen vorliegen. Hierbei wird bspw. außen vor gelassen, dass auch eine schulische bzw. berufliche Ausbildung (auch an Hochschulen) oder ein Freiwilligendienst notwendige Kriterien für eine Hilfeleistung sein können. Eine Hilfe dürfte, wie in Großbritannien und den USA, dementsprechend nicht enden, wenn sich Care Leaver noch in der Ausbildung befinden. Darüber hinaus wurde in § 41 Abs. 1 S. 3 SGB VIII-E versucht, der Forderung nach einer Coming-Back-Option nachzukommen, wie es sie z. B. auch in Norwegen gibt. Die Option zur Wieder- oder Neuaufnahme einer Hilfemaßnahme wird in den unterschiedlichen Stellungnahmen zur SGB VIII-Reform als positiv bewertet. Gleichwohl wird kritisch angemerkt, dass damit eine Rückkehroption in ein stationäres Setting nicht explizit miteingeschlossen ist. Auch wird in dem neu eingefügten Paragrafen § 41a SGB VIII-E nicht deutlich, wie und in welcher Form eine Nachbetreuung gestaltet wird. Der Careleaver e.V. merkt an dieser Stelle an, dass die Möglichkeit für Care Leaver offengehalten werden muss, ob sie noch einmal einen Bedarf an ambulanter oder stationärer Betreuung (in ihrer bisherigen Einrichtung oder Pflegefamilie) haben (Careleaver e.V. 2020). Hier könnte mit Blick auf Pflegeverhältnisse z. B. das„Staying-Put“-Konzept aus Großbritannien beispielhaft sein. In § 41 a Abs. 2 SGB VIII-E wurde zudem formuliert, dass„der Träger der öffentlichen Jugendhilfe in regelmäßigen Abständen Kontakt zu dem jungen Volljährigen aufnehmen“ soll. Dies ist mit der Rolle des „Personal Advisors“ im britischen Jugendhilfesystem vergleichbar, der ebenfalls dafür zuständig ist, Kontakt zu den Care Leavern aufrechtzuerhalten. Gleichwohl wird im Gesetzesentwurf nicht deutlich, wie und mit welchem Ziel Kontakt mit den jungen Menschen aufgenommen wird. Auch bergen die unbestimmten Rechtsbegriffe „angemessener Zeit- 299 uj 7+8 | 2021 Leaving Care international raum“ und „regelmäßige Abstände“ die Gefahr, dass diese regional unterschiedlich ausgelegt werden. Dazu gibt es in anderen Ländern, wie bspw. in Großbritannien (mind. alle acht Wochen), klarere zeitliche Markierungen. Abschließend zum Thema„Extended Care“ und „Aftercare“ zeigt sich in § 41 SGB Abs. 3 VIII-E, dass auch eine verbindliche Übergangsplanung („Zuständigkeitsübergang auf andere Sozialleistungsträger“) angestrebt wird. Eine solche Übergangsplanung ist jedoch nicht mit dem anfangs beschriebenen „Pathway Planning“ gleichzusetzen, welches der Kinder- und Jugendhilfe angegliedert ist. Während in der Übergangsplanung in Großbritannien der öffentliche Träger weiterhin fallführend zuständig bleibt, wird in § 41 Abs. 3 SGB VIII-E lediglich eine Zuständigkeitsübergabe an einen anderen Sozialleistungsträger geregelt. Bei der Darstellung von internationalen Praxisbeispielen wurde auch immer wieder deutlich, wie Care Leaver an verschiedenen Stellen im Hilfeprozess beteiligt wurden und sie, wie z. B. in Norwegen und in den USA, auch selbst darüber entscheiden, ob eine Hilfe endet oder nicht. Im vorliegenden Gesetzesentwurf wurden die Elemente von Partizipation im Hilfeprozess deutlich gestärkt - ohne dass auch daraus klar abgeleitet werden kann, wie diese in der Praxis umgesetzt werden. So wird bereits in § 1 SGB VIII-E formuliert, Möglichkeiten zu schaffen, dass junge Menschen - abhängig von ihrem Alter und ihren individuellen Fähigkeiten - „in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt“ interagieren können. „Damit wird ausdrücklich klargestellt, dass der Wille junger Menschen nicht immer nur Bestandteil der von außen festzustellenden Interessen und des Wohls junger Menschen ist, sondern der Wille in Fällen von Selbstbestimmungsfähigkeit ausschlaggebend ist“ (DIJuF 2020, 12). Auch in den §§ 8, 36, 41 SGB VIII-E wird bspw. neu formuliert, dass Beratung und Aufklärung im Hilfeprozess in einer wahrnehmbaren Form für die jungen Menschen erfolgen muss. Der Begriff der Selbstbestimmung müsse, so eine Stellungnahme des DIJuF, an dieser Stelle jedoch noch weitergedacht werden: Selbstbestimmung begrenze sich nicht nur auf die Einbeziehung der Interessen junger Menschen und ihrer Beteiligung, sondern an entsprechenden Stellen müsse ihre (Mit)Entscheidungsbefugnis ausdrücklich hervorgehoben werden (ebd.). So wäre eine klare rechtliche Regelung denkbar, dass - wie in Norwegen - nur die jungen Menschen selbst die Hilfen beenden können und das Jugendamt in der Pflicht ist, eine (vorzeitige) Hilfebeendigung bzw. die Nicht-Gewährung weiterer Hilfen zu begründen. Dies würde wiederum den Rechtsanspruch auf weitergehende Hilfen stärken. Hinsichtlich der Partizipation soll an dieser Stelle auch auf die ausdrückliche Verpflichtung zur Vorhaltung externer Beschwerdemöglichkeiten für junge Menschen in und aus stationären Erziehungshilfesettings in Form von unabhängigen Ombudsstellen Bezug genommen werden. In dem neu eingefügten § 9 a SGB VIII-E werden diese unabhängigen Beschwerdestellen zur fachlichen Bearbeitung aufgrund struktureller Machtasymmetrien in der Kinder- und Jugendhilfe explizit erwähnt. Demnach müssen die Länder zentrale Ombudsstellen errichten und ebenso sicherstellen, dass regionale Anlaufstellen bedarfsgerecht sowohl für die jungen Menschen als auch für ihre Familien vorgehalten werden. Eine stärkere Länderverpflichtung wäre jedoch erst dadurch gegeben, wenn die Vorhaltung solcher Beschwerdemöglichkeiten mit einem Rechtsanspruch der Leistungsberechtigten auf ombudschaftliche Beratung kombiniert wird. Demnach wäre eine noch deutlichere Stärkung der Rechte von jungen Menschen (und ihren Familien) an dieser Stelle bedeutsam. Des Weiteren soll ein Blick auf Care-Leaver- Selbstorganisationen gelegt werden, die einen Peer-to-Peer-Support für junge Menschen mit (stationärer) Jugendhilfeerfahrung anbieten.Während für Menschen mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen und ihre Angehörigen 300 uj 7+8 | 2021 Leaving Care international bereits traditionell starke Selbstorganisationen existieren, gab es diese bisher kaum für AdressatInnen der Kinder- und Jugendhilfe. Die Gründung des Careleaver e. V. (www.careleaver.de) - der einzigen deutschlandweiten Selbstvertretung von Care Leavern - ist hier ein großer Meilenstein in der Selbstorganisation junger Menschen mit stationärer Jugendhilfeerfahrung. Mit Blick auf diese Selbstorganisationen sind einige neue Formulierungen im Gesetzesentwurf zu finden. Mit dem neu eingefügten § 4 a SGB VIII-E werden erstmalig explizit Selbstorganisationen, ihre Aufgaben sowie die Verpflichtung seitens der Jugendhilfe, mit diesen Selbstvertretungen zusammenzuarbeiten, gesetzlich festgeschrieben. „Besonders die Legaldefinition in Absatz 1 ist zu befürworten, da sie sowohl die Selbstvertretungen innerhalb von Einrichtungen und Institutionen als auch das gesellschaftliche Engagement sowie die verschiedenen Formen der Selbsthilfe umfasst und somit einen wichtigen Beitrag zur - wenngleich teils auch unbequemen - Auseinandersetzung mit den freien und öffentlichen Trägern der Jugendhilfe leistet“ (ebd., 13). In § 71 Abs. 2 SGB VIII-E wird zudem geregelt, dass Selbstvertretungen als beratende Mitglieder im Jugendhilfeausschuss angehört werden sollen, sodass in die entsprechenden Entscheidungen des Ausschusses viel stärker die AdressatInnenperspektive mit einfließen kann. Wie dies in der Praxis - abhängig von den jeweiligen lokalen Infrastrukturen und deren Aufbau - umgesetzt wird, bleibt an dieser Stelle offen. Hier wird sich in der Fachpraxis zeigen, wie die Beteiligung gestaltet wird und eine solche Beteiligung nicht nur eine„Scheinpartizipation“ bleibt (Careleaver e. V. 2020, 6). Der Careleaver e. V. merkt zudem in seiner Stellungnahme kritisch an, warum nicht auch explizit eine Beteiligung in Landesjugendhilfeausschüssen mit aufgeführt wird, und verweist hier auf die bereits landesweiten Interessenvertretungen in Hessen, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Rheinland-Pfalz, die bereits existieren (ebd.). Resümee Insgesamt wird mit Blick in die internationale Leaving-Care-Praxis deutlich, dass es in anderen Ländern bereits vielfältige Praxisbeispiele für eine gute Begleitung der jungen Menschen in ihrem Übergang aus der Jugendhilfe in ein eigenverantwortliches Leben gibt. In diesem Beitrag hätten auch weit mehr Praxisbeispiele dargestellt werden können. Insbesondere die Möglichkeit einer längeren Hilfegewährung, die rechtlich festgeschrieben ist, trägt auch den Veränderungen des jungen Erwachsenseins in unserer Gesellschaft Rechnung (Sievers/ Thomas/ Zeller 2018). Deswegen und aufgrund der z. T. prekären empirischen Erkenntnisse zu den Lebens- und Bewältigungslagen von Care Leavern wird daher schon seit Längerem im deutschen Fachdiskurs ein eigener Rechtsanspruch Leaving Care gefordert (Schröer/ Strahl/ Thomas 2018). Diesem soll in einigen Punkten im Rahmen der Novellierung des SGB VIII entsprochen und in ausgewählten Paragrafen die Rechte junger Menschen gestärkt werden. Dies ist sehr zu begrüßen. Gleichwohl lässt sich hier noch Nachbesserungsbedarf zur verbindlichen Gewährleistung der Rechte junger Menschen im Übergang aus stationären Erziehungshilfen erkennen, welcher anhand der einzelnen Formulierungsvorschläge im SGB VIII-E in diesem Beitrag verdeutlicht wurde. Eine weitere Anregung orientiert sich am Beispiel des National Leaving Care Benchmarking Forum in Großbritannien, im Rahmen dessen sich Kommunen und Jugendhilfeeinrichtungen stetig zu aktuellen gesetzlichen Regelungen, der kommunalen Jugendhilfepraxis und deren möglichen Weiterentwicklung austauschen. Die Etablierung einer regelmäßigen Struktur des Austauschs unter Kommunen zum Thema Leaving Care wird mit dem derzeitigen Forschungsprojekt „Fachstelle: Leaving Care in der Kommune - Beratung und Infrastrukturentwicklung“ (2020 - 2022, Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim) anvisiert. Das Projekt orientiert sich dabei an dem britischen Modell. 301 uj 7+8 | 2021 Leaving Care international Die Bedeutung der Stärkung der Rechte von jungen Menschen mit Jugendhilfeerfahrung zeigt sich darüber hinaus vor allem in der aktuellen coronabedingten Pandemielage. Die Herausforderungen, welche Care Leaver generell erleben und bewältigen müssen, spitzen sich in dieser Krisenzeit wie in einem Brennglas zu (Verlust von (Mini-)Jobs/ Kurzarbeit, unsichere Wohnsituationen, Kontaktbeschränkungen, psychische Schwierigkeiten, Bewältigung von Homeschooling oder digitaler Hochschullehre usw.). Die unterschiedlichen aktuellen Herausforderungen für Care Leaver weltweit haben rund 100 junge Menschen aus über 25 Ländern in der „Declaration on responding to the transnational needs of Care Leavers amidst COVID-19 § beyond! “ zusammengefasst (verfügbar unter http: / / www.careleavers community.org/ declaration.html). Daher ist es umso wichtiger, bei politischen Entscheidungen und rechtlichen Reformprozessen diese AdressatInnengruppe explizit mitzudenken und in entsprechende Hilfestrukturen zu übersetzen - in Deutschland und ebenso in anderen Ländern. Dr. Carolin Ehlke Stiftung Universität Hildesheim Institut für Sozial- und Organisationspädagogik Universitätsplatz 1 31141 Hildesheim Literaturverzeichnis Careleaver e.V. (2020): Stellungnahme des Careleaver e. V. zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen. Hildesheim, 25.10.2020. In: https: / / www.careleaver.de/ wp-con tent/ uploads/ 2020/ 10/ Stellungnahme_KJSG_Care leaver-eV.pdf, 10. 3. 2021 Courtney, M. E. (2019): The Benefits of Extending State Care to Young Adults. Evidence from the United States of America. In: Mann-Feder, V., Goyette, M. (Hrsg.): Leaving Care and the Transition to Adulthood. International Contributions to Theory, Research, and Practice. 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