unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art48d
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Care Leaver – Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit
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Joachim Klein
Im Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter durchlaufen junge Menschen in der Regel einen relativ langen Übergangsprozess von Schule und Ausbildung bis hin zum Start ins Berufsleben. Dabei findet die Ablösung vom Elternhaus den Erkenntnissen der Jugendforschung zufolge heute zunehmend später statt und dauert meist bis zur Mitte des dritten Lebensjahrzehnts an (Sievers et al. 2018; BMFSFJ 2017; Schröer 2015; Sievers et al. 2014). Die dazu erforderlichen komplexen Transitionsprozesse „verunsichern, erfordern individuelle Bewältigungs- und Anpassungsleistungen und gehen deshalb mit einem erhöhten Risiko des Scheiterns einher“ (Karl et al. 2018, 8). Davon sind insbesondere diejenigen jungen Menschen betroffen, die einen Teil ihres Lebens in der stationären Erziehungshilfe verbracht haben.
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302 unsere jugend, 73. Jg., S. 302 - 310 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art48d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Joachim Klein Jg. 1972; Dipl.-Sportwissenschaftler, IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe - Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Schwerpunkte EVAS - Evaluationsstudie erzieherischer Hilfen, Ressourcenorientierte Pädagogik, Qualitätsentwicklung im Bereich der sozialen Arbeit); Lehrauftrag an der Katholischen Hochschule Mainz Care Leaver - Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit Ergebnisse eines Forschungs- und Entwicklungsprojekts Stationäre Hilfen zur Erziehung können über das Hilfeende hinaus im Leben der betroffenen jungen Menschen weiter wirksam bleiben und nachhaltig zu einer positiven Lebensentwicklung beitragen, wenn bestimmte fachliche Standards bzw. Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Ausgangssituation Im Übergang vom Jugendzum Erwachsenenalter durchlaufen junge Menschen in der Regel einen relativ langen Übergangsprozess von Schule und Ausbildung bis hin zum Start ins Berufsleben. Dabei findet die Ablösung vom Elternhaus den Erkenntnissen der Jugendforschung zufolge heute zunehmend später statt und dauert meist bis zur Mitte des dritten Lebensjahrzehnts an (Sievers et al. 2018; BMFSFJ 2017; Schröer 2015; Sievers et al. 2014). Die dazu erforderlichen komplexen Transitionsprozesse „verunsichern, erfordern individuelle Bewältigungs- und Anpassungsleistungen und gehen deshalb mit einem erhöhten Risiko des Scheiterns einher“ (Karl et al. 2018, 8). Davon sind insbesondere diejenigen jungen Menschen betroffen, die einen Teil ihres Lebens in der stationären Erziehungshilfe verbracht haben. Deren Hilfe wird nämlich im Zuge konzeptionell verankerter Verselbstständigungsprozesse immer noch sehr häufig rund um die Erlangung der formalen Volljährigkeit beendet. Im Gegensatz zu Kindern und Jugendlichen, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, können diese „Care LeaverInnen“ dabei „zumeist nicht auf ein gesichertes familiäres bzw. sozial gewachsenes Netz aus materiellen und immateriellen Unterstützungsleistungen und sozialen Beziehungen zurückgreifen“ (Nüsken 2015, 9). Gerade diese jungen Menschen sind somit in deutlich stärkerem Maße auf eine länger andauernde öffentliche Unterstützung in Form begleitender Jugendhilfemaßnahmen angewiesen, um für sich eine langfristig tragbare Perspektive und die Chance auf eine nachhaltige gesellschaftliche Teilhabe zu entwickeln. Die Ergebnisse der jüngsten Forschungsstudien in diesem Bereich zeigen allerdings, dass das System der Kinder- und Jugendhilfe den erschwerten Voraussetzungen für Care LeaverInnen in der Regel (noch) nicht hinreichend Rechnung trägt (Klein 2020; Sievers et al. 2018; 303 uj 7+8 | 2021 Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit BMFSFJ 2017). Obwohl nämlich vonseiten des Gesetzgebers in Form des § 41 SGB VIII (Hilfen für junge Volljährige) prinzipiell die Möglichkeit zur Durchführung von Hilfen zur Erziehung über das 18. Lebensjahr hinaus vorgesehen ist und trotz der wissenschaftlich erwiesenen Erkenntnis, dass „nachhaltige Effekte in der Regel nicht mit verkürzten Hilfen zu erreichen sind“ (Macsenaere/ Klein 2019, 430; Macsenaere/ Esser 2015), ist die Jugendhilfepraxis zumeist doch darauf ausgerichtet, junge Menschen möglichst frühzeitig mit oder kurz nach Erlangung der Volljährigkeit in die Selbstständigkeit zu entlassen. Das Projekt „Care Leaver“ Vor diesem Hintergrund führten der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e. V. (BVkE) und das Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Care Leaver - stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit“ durch, an dem sich bundesweit insgesamt 28 Einrichtungen aus dem Bereich der Erziehungshilfe beteiligt haben. Zielstellungen dieser wissenschaftlichen Untersuchung waren zum einen die Analyse der langfristigen Wirksamkeit stationärer Hilfen, zum anderen sollten spezifische Wirkfaktoren herausgearbeitet werden, die die Entwicklung von Care LeaverInnen nach der Beendigung ihrer stationären Jugendhilfe nachhaltig positiv unterstützen können. Darüber hinaus wurden im Projektverlauf Entwicklungsworkshops mit Fachkräften aus den am Projekt beteiligten Einrichtungen durchgeführt, die zum interinstitutionellen persönlichen Austausch sowie zur einrichtungsübergreifenden Initiierung fachlicher Qualitätsentwicklungsprozesse in den beteiligten Institutionen beitragen sollten. Einzelne Ergebnisse dieser Workshops werden im Folgenden im Sinne von Good-practice-Beispielen zur Anregung für praktische Realisierungsmöglichkeiten der gewonnenen theoretischen Erkenntnisse dargestellt. Zentrale Studienergebnisse An der Studie „Care Leaver - stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit“ haben sich 332 Care LeaverInnen beteiligt und Informationen über ihre stationäre und gegebenenfalls auch ambulante Hilfedurchführung sowie über die Zeit seit der stationären Hilfebeendigung und über ihre aktuelle Situation übermittelt. Darüber hinaus wurden 476 stationäre sowie 159 ambulante Hilfeverläufe aktueller wie ehemaliger Care LeaverInnen durch Fachkräfte aus am Projekt beteiligten Einrichtungen dokumentiert und in die Untersuchung mit eingebracht. Die Auswertungsergebnisse liefern wichtige Anhaltspunkte für eine mögliche gelingende Nachhaltigkeit stationärer Hilfen zur Erziehung. Insbesondere geben die Ergebnisse der durchgeführten Wirkfaktorenanalysen wertvolle Hinweise auf zentrale Prozess- und Ergebnismerkmale stationärer wie ambulanter Hilfemaßnahmen, die die nachhaltige Wirksamkeit dieser Hilfen zur Erziehung positiv wie negativ beeinflussen (können). Auf Basis der Ergebnisse können einerseits aktuelle Konzepte der Übergangsgestaltung und Nachsorge überprüft bzw. optimiert sowie andererseits neue Unterstützungsmodelle für Care LeaverInnen für die Zukunft konzipiert bzw. erarbeitet werden. Im Folgenden sind die im Rahmen der Untersuchung ermittelten zentralen Aspekte dargestellt, die zur Unterstützung der nachhaltigen Wirksamkeit stationärer Hilfen und damit einer möglichst positiven biografischen Entwicklung von Care LeaverInnen nach Beendigung ihrer stationären Hilfe beitragen (Klein/ Macsenaere 2020): 1. Qualität und Vielfalt der Übergangsvorbereitung Die Qualität der im Rahmen der stationären Hilfe durchgeführten Maßnahmen zur Vorbereitung auf die Zeit nach deren Beendigung hat signifikante Auswirkungen auf die langfristige 304 uj 7+8 | 2021 Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit Wirksamkeit der betreffenden Hilfen. Dabei zeigen sich zum einen die vorbereitenden Maßnahmen insgesamt als hoch wirksam, zum anderen hat auch die spezifische Qualität der Förderung im Bereich schulischer bzw. beruflicher Ausbildung einen deutlichen Einfluss auf die Nachhaltigkeit der stationären Hilfen. Hier zeigt sich dementsprechend die besonders große Bedeutung von schulischer und/ oder beruflicher Ausbildung für Care LeaverInnen im Sinne der Herstellung einer möglichst guten Ausgangslage für ihren weiteren selbstständigen Lebensweg. Darüber hinaus hat eine qualitativ hochwertige und vielfältige Vorbereitung auch Einfluss auf die Effizienz der Durchführung der ambulanten Nachbetreuung: Eine gute Vorbereitung steht sowohl in nachweisbarem Zusammenhang mit einem geringeren späteren Unterstützungsbedarf als auch mit einer höheren Effektivität der durchgeführten Nachsorgemaßnahmen. Aus diesen Erkenntnissen lässt sich empirisch begründbar die Forderung nach einer möglichst umfangreichen bzw. vielfältigen und qualitativ hochwertigen Durchführung vorbereitender Maßnahmen für die Zeit nach Beendigung der stationären Hilfe ableiten. Hierbei können neben den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen auch einrichtungs- und regional übergreifende Netzwerke zum fachlichen Austausch konzeptioneller Ansätze sowie gut funktionierender Praxis einen wichtigen Beitrag leisten, um die eigene Arbeit mit Care LeaverInnen evidenzbasiert weiterzuentwickeln. Ein solcher fachlicher Austausch erfolgte innerhalb des von BVkE und IKJ durchgeführten Projekts in den Fachkräfte-Workshops, bei denen u. a. zum Themenbereich Übergangsvorbereitung die folgenden Beispiele guter Praxis vorgestellt wurden (Gösmann 2019): ➤ Einführung von Patenschaftsprogrammen, in denen ein bis zwei Jahre vor Hilfeende versucht wird, Care Leaver: innen mit Ehrenamtlichen in Kontakt zu bringen „mit dem Ziel, dass die Patenschaften nach Beendigung der Hilfe selbstständig weiterlaufen. Themen sind vor allem Wohnen, Lernen, Ausbildung und Freizeit“ (Gösmann 2019, 3) ➤ Regelmäßige Organisation eines Stammtischs für Jugendliche, die sich im Betreuten Wohnen auf die Zeit nach der stationären Hilfe vorbereiten; die jungen Menschen beschäftigen sich dabei mit ihren eigenen spezifischen (Zukunfts-)Themen. Fachkräfte kümmern sich mit um den organisatorischen Rahmen ➤ Durchführung themenspezifischer Info-Abende, zu denen Experten verschiedener Themenbereiche eingeladen werden (z. B. WohnungsmaklerInnen, SteuerberaterInnen oder RechtsanwältInnen) ➤ Zusammenstellung und Mitgabe eines „Notfallkoffers“, „in dem Infos zu Anlaufstellen sowie Kontaktdaten enthalten sind zur Frage: ‚Wer hilft wann? ‘„ (ebd.) ➤ Erstellung von Online-Erklärvideos mit Erläuterungen zu wichtigen Fragen zum Themenbereich Leaving Care 2. Qualität von Beziehungsbzw. Bindungsgestaltung Der gelingende Aufbau und die Qualität tragfähiger und dauerhaft bestehender Beziehungen von jungen Menschen zu mindestens einer Bezugsperson stellen eine Schlüsselkategorie für die Effektivität von stationären Hilfen innerhalb des Hilfeverlaufs dar. Darüber hinaus beeinflussen sie aber auch nachweisbar deren langfristige Wirksamkeit über das Hilfeende hinaus (Gahleitner et al. 2020). Belegt wird dieser Zusammenhang zum einen durch den statistisch signifikanten Einfluss der Beziehungsqualität zur Hauptbezugsperson innerhalb der stationären Hilfe auf die Bewertung ihrer Nachhaltigkeit. Zum anderen fällt auch die Effektivität ambulanter Nachbetreuungsmaßnahmen höher aus, wenn diese durch die Einrichtung durchgeführt werden, die zuvor schon für die 305 uj 7+8 | 2021 Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit stationäre Hilfedurchführung verantwortlich war. So können die entwickelten persönlichen Beziehungen bzw. Bindungen auch über das stationäre Hilfeende hinaus weiter wirksam bleiben. Außerdem kommt hier auch der in engem Zusammenhang mit der Beziehungsgestaltung stehende Aspekt der Beheimatung nachhaltig zum Tragen. Mit einer stärkeren Ausprägung des Gefühls der Heimat ist neben der höheren Effektivität ambulanter Nachbetreuungsmaßnahmen nämlich auch eine direkte Steigerung der von den Care LeaverInnen subjektiv wahrgenommenen Nachhaltigkeit der stationären Hilfen sowie spezifischer Teilbereiche ihrer individuellen Grundbefähigungen und Verwirklichungsmöglichkeiten verbunden. Der Aufbau tragfähiger und langfristig stabiler Beziehungen sowie die Vermittlung eines Gefühls von Beheimatung sind dementsprechend nicht nur im Hinblick auf eine möglichst hohe kurzfristige Effektivität von stationären Hilfen bis zu deren Hilfeende von besonderer Bedeutung, sondern sie werden auch zu einem wichtigen Erfolgskriterium in Bezug auf eine gelingende Nachhaltigkeit einer stationären Hilfe. Daher sollten sie grundsätzlich als ein zentrales konzeptionelles Ziel jeder stationären Hilfe formuliert werden. Die Bedeutung des Erhalts stabiler Beziehungen spiegelt sich auch im Abschlussbericht des Begleitprozesses zur SGB VIII-Reform„Mitreden - Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe“ wider, in dem u. a. gefordert wird: „Im Zusammenhang mit Beendigungsprozessen von Hilfen gilt es, jungen Menschen ein möglichst hohes Maß an Stabilität und emotionaler Sicherheit zu vermitteln, um so Brüche und Unsicherheiten hinsichtlich der weiteren Lebensperspektive und der Stabilität der Beziehungen zu vermeiden“ (BMFSFJ 2020 a, 32). Also sollten verbindliche strukturelle Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es Care Abb. 1: Gesamtbewertung der ambulanten Hilfe in Abhängigkeit von der durchführenden Einrichtung 80 % 60 % 40 % 20 % 0 % Nachbetreuung durch alte stationäre Einrichtung: nein (n = 32) Nachbetreuung durch alte stationäre Einrichtung: ja (n = 85) sehr schlecht weitgehend schlecht weitgehend gut eher schlecht eher gut sehr gut 3 % 0 % 0 % 0 % 13 % 2 % 19 % 12 % 25 % 21 % 41 % 65 % 306 uj 7+8 | 2021 Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit LeaverInnen ermöglichen, persönliche Beziehungen und Kontakte über das Ende der stationären Hilfe hinaus aufrechtzuerhalten. Im Rahmen der Fachkräfte-Workshops wurden zu diesem Themenbereich u. a. nachstehende Praxisbeispiele genannt: ➤ Regelhafte Einrichtung offener Anlaufstellen für Care LeaverInnen (Treffs, Cafés o. Ä.) mit Möglichkeiten zu räumlicher und personeller Anbindung an stationäre Einrichtungsbereiche ➤ Einrichtung von Facebook-Seiten bzw. WhatsApp-Gruppen, über die Care LeaverInnen nach Hilfeende weiterhin Kontakt zu PädagogInnen sowie anderen Kindern und Jugendlichen halten können ➤ Einladung von Care LeaverInnen zu Gruppenessen, Einrichtungsfesten und Freizeitaktivitäten (z. B. Ferienfreizeiten) ➤ Regelmäßige Durchführung von Ehemaligentreffen, an denen auch angehende Care LeaverInnen teilnehmen, um Kontakte herzustellen bzw. zu erhalten und den Austausch von Erfahrungen sowie Informationen rund um den Themenbereich Leaving Care anzuregen 3. Hilfeeffektivität - insbesondere Grundbzw. Handlungsbefähigung Auch die Effektivität der stationären Hilfen bis zum Hilfeende hat den Untersuchungsergebnissen zufolge einen signifikanten Einfluss auf deren Nachhaltigkeit: Je größer die erzielten Hilfeerfolge ausfallen und je besser damit die Situation der jungen Menschen bei Beendigung der Hilfe ist, desto stärker wirkt sich die Hilfe dann auch langfristig auf die weitere Entwicklung der Care LeaverInnen aus. Dieser nachhaltige Einfluss zeigt sich insbesondere bei Betrachtung der individuellen Grundbefähigungen und Verwirklichungsmöglichkeiten (Capabilities): Bessere Ausprägungen bei stationärem Hilfeende machen sich hier bei Care LeaverInnen auch noch lange Zeit später durch eine signifikant bessere Gesamtsituation und damit als eine bessere Ausgangslage für eine gelingende gesellschaftliche Teilhabe bemerkbar. Höhere Ausprägungen der Capabilities bei stationärem Hilfeende, die als Ausdruck einer höheren Effektivität der Hilfedurchführung interpretiert werden können, stehen außerdem sowohl insgesamt als auch in verschiedenen spezifischen Teilbereichen in positivem Zusammenhang mit einer höheren Wirksamkeit ambulanter Nachsorgemaßnahmen. Dadurch wirken sie sich indirekt noch einmal zusätzlich auf die Nachhaltigkeit stationärer Hilfen sowie die Zukunftsperspektive der Care LeaverInnen aus. Die zahlreich erkennbaren Einflüsse der Effektivität der stationären Hilfedurchführung auf eine gelingende Nachhaltigkeit zeigen, dass Erfolge innerhalb einer stationären Hilfe nicht nur kurzfristig im Hinblick auf die Situation bei Hilfeende bedeutsam sind, sondern dass durch sie auch das weitere Leben der jungen Menschen langfristig über die stationäre Hilfedurchführung hinaus positiv beeinflusst wird. Vor diesem Hintergrund erhalten vor allem Konzepte zur wirkungsorientierten Hilfesteuerung bzw. zur evidenzbasierten Steigerung der Hilfeeffektivität eine besondere Bedeutung (Macsenaere/ Knab 2004; Macsenaere/ Esser 2015). 4. Art der Hilfebeendigung und Abschiedsgestaltung sowie partizipative Zukunftsplanung Die Planmäßigkeit der Hilfebeendigung spielt zum einen für die kurzfristige Effektivität stationärer Hilfen eine große Rolle (Macsenaere/ Esser 2015), zum anderen hat sie aber auch nachweisbare langfristige Auswirkungen auf die Entwicklung von jungen Menschen über den Zeitraum ihrer stationären Hilfe hinaus. So zeigt sich in den vorliegenden Untersuchungsergebnissen u. a. ein unmittelbarer Einfluss auf die Gesamtausprägung der individuellen Grund- 307 uj 7+8 | 2021 Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit befähigungen und Verwirklichungsmöglichkeiten der Care LeaverInnen zum Zeitpunkt der Datenerhebung: Bei planmäßiger Beendigung fällt der Gesamtwert nicht nur unmittelbar bei Hilfeende, sondern auch durchschnittlich 5,5 Jahre später noch immer signifikant besser aus als im Falle eines vorzeitigen Hilfeabbruchs. Die Planmäßigkeit der Hilfedurchführung bis zu einem von allen Hilfebeteiligten abgestimmten Hilfeende hat darüber hinaus einen nachweisbaren positiven Einfluss auf die generelle Bewertung des nachhaltigen Erfolgs der untersuchten stationären Hilfen: Planmäßig beendete Hilfen werden hier von den Care LeaverInnen signifikant besser beurteilt als abgebrochene Hilfen. Beeinflusst wird diese Beurteilung darüber hinaus durch eine ausgiebige und breit gefächerte Gestaltung des Abschieds, z. B. in Form von Abschiedsessen, Geschenken, Ausflügen o. Ä. (Schildt 2020). Ein Mehr an ernsthafter Initiative führt hier zu einer signifikant besseren Bewertung der von den Care LeaverInnen subjektiv wahrgenommenen Nachhaltigkeit. Zudem wird auch die subjektive Einschätzung der jungen Menschen zur eigenen Zukunftsperspektive durch das Ausmaß der aktiven Abschiedsgestaltung signifikant positiv beeinflusst. Neben diesen direkten Einflüssen wirkt sich die Art der stationären Hilfebeendigung auch mittelbar über den Umweg der Durchführung ambulanter Nachbetreuungsmaßnahmen auf die nachhaltige Wirksamkeit einer stationären Hilfe aus: In der Folge einer planmäßigen Beendigung steigt die Wahrscheinlichkeit zur Durchführung einer ambulanten Nachbetreuung, was sich wiederum positiv in der Nachhaltigkeit der stationären Hilfe niederschlägt. Im Kontext von Hilfebeendigung und Abschiedsgestaltung zeigt sich darüber hinaus auch der Aspekt der Partizipation als weiterer bedeutsamer Wirkfaktor: Mit einem höheren Grad an Beteiligung der jungen Menschen an den Planungen für die Zeit nach Hilfeende wächst auch das Ausmaß der nachhaltigen Wirksamkeit der untersuchten stationären Hilfen signifikant an. Dementsprechend sollte am Ende einer stationären Hilfe - sowohl bei planmäßiger als auch bei unplanmäßiger Hilfebeendigung - obligatorisch eine partizipativ gestaltete (Lebens-)Planung für die Zeit nach Hilfeende vorgenommen werden. Vor diesem Hintergrund kann die im Rahmen der aktuellen Reform des SGB VIII beschlossene Stärkung der Partizipation junger Menschen an Hilfeplanungsprozessen (DIJuF 2020, 6f ) auch im Zusammenhang mit dem Themenbereich Leaving Care einen wichtigen Schritt zu nachhaltigen Verbesserungen innerhalb der stationären Hilfen zur Erziehung darstellen. Die Untersuchungsergebnisse verdeutlichen die besondere Bedeutung, die der Formung des Endes einer stationären Hilfe sowie der damit verbundenen Abschiedsgestaltung und Zukunftsplanung für die Care LeaverInnen zukommt. Hier sollten folglich an den Bedürfnissen und Wünschen der jungen Menschen orientierte und individuell geplante Angebote bzw. Aktivitäten obligatorisch in die Konzepte der Übergangsgestaltung von stationären Hilfen aufgenommen werden, um dem Abschied aus der oftmals langjährig als Zuhause erlebten Einrichtung eine nachhaltig positive Wirkung zu verleihen. 5. Qualifizierte und bedarfsorientierte Nachbetreuung Die Nachhaltigkeit stationärer Hilfen wird sehr stark davon beeinflusst, ob eine ambulante Nachbetreuung durchgeführt wird oder nicht. Wenn eine solche Nachsorge stattgefunden hat, fallen die Bewertungen der Care LeaverInnen zur Nachhaltigkeit der untersuchten stationären Hilfen nachweisbar positiver aus. Die Wirkungen der stationären Hilfen können demzufolge mithilfe nachsorgender Maßnahmen besser langfristig gesichert werden. Dabei erweist sich insbesondere die Qualität der ambulanten Nachbetreuung als bedeutsame 308 uj 7+8 | 2021 Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit Einflussgröße, die sich darüber hinaus auch positiv auf die langfristige Situation der Care LeaverInnen bezüglich ihrer individuellen Grundbefähigungen und Verwirklichungsmöglichkeiten sowie ihrer Zukunftsperspektive auswirkt. Eine bedarfsgerechte Durchführung sowie eine qualitativ gute Ausgestaltung einer ambulanten Nachbetreuung stellen demzufolge einen sehr wichtigen Baustein für die Erlangung einer möglichst hohen Nachhaltigkeit von stationären Hilfen und damit für einen möglichst positiven weiteren Lebensverlauf von Care LeaverInnen nach der stationären Hilfebeendigung dar. Dementsprechend sollten Möglichkeiten zur Durchführung von flexiblen, individuell angepassten ambulanten Nachbetreuungsangeboten vonseiten öffentlicher Träger obligatorisch vorgehalten werden, um die Wirksamkeit stationärer Hilfen nachhaltig zu sichern und damit Care LeaverInnen verbesserte Chancen für eine langfristige gesellschaftliche Teilhabe zu bieten. Der Entwurf des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes kündigt eine Präzisierung der Voraussetzungen der Hilfen für junge Volljährige sowie die Erhöhung des Verbindlichkeitsgrades der Regelungen zur Nachbetreuung bzw. der Hilfegewährung an (BMFSFJ 2020b, 4). Damit ist zu hoffen, dass nachhaltige Verbesserungen in der praktischen Umsetzung des gesetzlichen Auftrags zur Unterstützung und Stärkung der betroffenen jungen Menschen erreicht werden. Im Rahmen der innerhalb des Projekts durchgeführten Fachkräfte-Workshops wurden zu diesem Themenbereich folgende Good-practice-Beispiele vorgestellt: ➤ Ausgabe von „Zeitschecks“ durch das Jugendamt, die Care LeaverInnen in einem Zeitraum von zwei Jahren nach stationärem Hilfeende für Beratungsgespräche nach individuellem Bedarf flexibel einlösen können ➤ Einrichtung von institutionellen Angeboten (Treffs, Cafés o. Ä.), die von Care LeaverInnen im Sinne offener Beratungsstellen genutzt werden können Abb. 2: Einfluss der Durchführung einer Nachbetreuung auf die Nachhaltigkeit der stationären Hilfe 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0 % Nachbetreuung: nein (n = 67) Nachbetreuung: ja (n = 146) sehr schlecht weitgehend schlecht weitgehend gut eher schlecht eher gut sehr gut 9 % 1 % 3 % 1 % 9 % 5 % 19 % 12 % 19 % 32 % 40 % 49 % 309 uj 7+8 | 2021 Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit Zusammenfassung Stationäre Jugendhilfe ist in der Lage, das Leben von Care LeaverInnen auch über die Zeit der Hilfedurchführung hinaus langfristig positiv zu beeinflussen. Mit einer qualitativ guten und inhaltlich breit gefächerten Vorbereitung sowie gelingenden Beziehungs- und Bindungsprozessen können nachhaltige Effekte signifikant gefördert werden. Daneben wirken sich auch die Effektivität stationärer Hilfen, ihre Art der Beendigung und die damit verbundenen partizipativen Zukunftsplanungen sowie insbesondere die Durchführung einer qualifizierten und bedarfsorientierten Nachbetreuung positiv auf die Nachhaltigkeit stationärer Hilfen aus. Mit den Ankündigungen im Entwurf des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes, die Voraussetzungen der Hilfen für junge Volljährige zu präzisieren und den Verbindlichkeitsgrad der Regelungen zur Nachbetreuung bzw. der Hilfegewährung zu erhöhen sowie partizipative Prozesse zu stärken (BMFSFJ 2020b, S. 4), wächst die Hoffnung auf nachhaltige Verbesserungen in der praktischen Umsetzung des gesetzlichen Auftrags zur Unterstützung und Stärkung von Care LeaverInnen (Klein/ Macsenaere 2020). Joachim Klein IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Saarstr. 1 55122 Mainz Tel.: 06131 94797-0 E-Mail: klein@ikj-mainz.de www.ikj-mainz.de Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2020 a): Abschlussbericht Mitreden - Mitgestalten. Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe. BMFSFJ, Berlin BMFSFJ (Hrsg.) (2020 b): Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG). Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. In: http: / / infothek.paritaet.org/ pid/ fachinfos.nsf/ 0/ ed05426a4608a72ac12585f 90064d70a/ $FILE/ Referentenentwurf%20eines%20 Gesetzes%20zur%20St%C3%A4rkung%20von%20 K indern%20und%20Jugendlichen_51020.pdf, 13.10.2020 BMFSFJ (Hrsg.) (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. 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(2020): Stimmt es eigentlich, dass nachsorgende (Beziehungs-)Angebote für CareleaverInnen die Nachhaltigkeit stationärer Erziehungshilfen stärken? In: https: / / www.bvke.de/ cms/ contents/ bvke.de/ medien/ dokumente/ nachgehakt/ nachgehakt-03-2020/ nachgehakt_november_2020. pdf, 1.4.2021 Karl, U., Göbel, S., Herdtle, A.-M., Lunz, M., Peters, U. (2018): „Leaving Care“ als Institutionalisierte Statuspassage und Übergangskonstellation. Sozialmagazin 43 (7 - 8), 6 - 12 Macsenaere, M., Knab, E. (2004): Evaluationsstudie erzieherischer Hilfen (EVAS) - Eine Einführung. Lambertus, Freiburg 310 uj 7+8 | 2021 Stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit Macsenaere, M., Esser, K. (2015): Was wirkt in der Erziehungshilfe? Wirkfaktoren in Heimerziehung und anderen Hilfearten. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München Macsenaere, M., Klein, J. (2019): Gelingende Verselbstständigung und effektive Übergangsgestaltung im Rahmen von Heimerziehung und individualpädagogischen Hilfen. Jugendhilfe 57 (4), 429 - 434 Nüsken, D. (2015): Erwachsen werden ohne öffentliche Verantwortung? Hilfen für junge Volljährige und Care Leaver im Blick. Jugendhilfe aktuell 2, 8 - 11 Schildt, N. (2020): „Care Leaver - Dein Netzwerk“ - ein Angebot der Bergischen Diakonie Aprath. In: Klein, J., Macsenaere, M., Hiller, S. (Hrsg.): Care Leaver - stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit, Lambertus, Freiburg, 38 - 55 Schröer, W. (2015): Wie viel Jugend lässt die Jugendhilfe zu? Jugendhilfe aktuell 2, 12 - 15 Sievers, B., Thomas, S., Zeller, M. (2014): Nach der stationären Erziehungshilfe - Care Leaver in Deutschland. Internationales Monitoring und Entwicklung von Modellen guter Praxis zur sozialen Unterstützung für Care Leaver beim Übergang ins Erwachsenenalter. IGFH, Hildesheim/ Frankfurt am Main Sievers, B., Thomas, S., Zeller, M. (2018): Jugendhilfe - und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen. 3. Aufl. IGFH, Frankfurt am Main Praxishilfe für die Soziale Arbeit 2018. 226 Seiten. (978-3-497-02769-9) kt Wie geht es nach der Schule weiter? Junge Menschen beruflich zu integrieren, ist für eine gelingende Sozialisation und gesellschaftliche Teilhabe von zentraler Bedeutung. Dies gilt in besonderem Maße für junge Flüchtlinge. Doch wie kann die berufliche Integration erfolgreich gestaltet werden? Benötigt wird Wissen ebenso wie konkretes Handwerkszeug. Beides liefert der Autor in seinem Praxisbuch. Er beschreibt Chancen und Hindernisse für junge Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt und gibt Einblick in das Asyl-, Ausländer- und Arbeitsrecht. Das Buch enthält viele praktische Beispiele und liefert wertvolle Tipps und Anregungen. a www.reinhardt-verlag.de
