unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art49d
71
2021
737+8
Interview mit einem Care Leaver über seine Erfahrungen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
71
2021
Nadine Schildt
Wir trafen uns mit Sven, 27 Jahre, um mehr darüber zu erfahren, wie er die Zeit in der Wohngruppe retrospektiv erlebt hat. Sven erzählt uns, was er rückblickend als hilfreich ansieht und was er darüber hinaus als Unterstützung im Übergang in ein selbstständiges Leben als hilfreich empfunden hätte.
4_073_2021_7+8_0005
311 unsere jugend, 73. Jg., S. 311 - 314 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art49d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Sven S. Jg. 1993 Nadine Schildt Jg. 1984, Sozialmanagerin (M. A.) und Sozialpädagogin/ Sozialarbeiterin (B. A.), Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) − Fachbereichsleitung Hilfen zur Erziehung und Öffentliche Verwaltung Interview mit einem Care Leaver über seine Erfahrungen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe Wir trafen uns mit Sven, 27 Jahre, um mehr darüber zu erfahren, wie er die Zeit in der Wohngruppe retrospektiv erlebt hat. Sven erzählt uns, was er rückblickend als hilfreich ansieht und was er darüber hinaus als Unterstützung im Übergang in ein selbstständiges Leben als hilfreich empfunden hätte. Nadine Schildt: Schön, dass es geklappt hat, Sven! Zunächst einmal, wie alt bist du heute? Sven: Ich bin 27 Jahre alt. NaS: Du hast lange Zeit in einer Wohngruppe gelebt. Wie alt warst du damals, als du in die Wohngruppe gekommen bist und wie alt, als du sie verlassen hast? S: Reingekommen bin ich, glaube ich, mit 13 und rausgekommen mit 19. NaS: Und war das der richtige Zeitpunkt für dich, als du mit 19 ausgezogen bist? Musstest du ausziehen oder hast du die Wohngruppe freiwillig verlassen? S: So ein bisschen von beidem. Mit 18 wird die Jugendhilfe beendet und ich musste einen Antrag beim Jugendamt stellen auf eine Verlängerung der Finanzierungsleistungen für die Jugendhilfe. Mit 19 habe ich dann aber gesagt, dass ich in eine eigene Wohnung möchte. NaS: Und wie war das, als du den Antrag ausfüllen musstest? Kannst du dich noch daran erinnern, wie du dich dabei gefühlt hast? S: Oh, da kann ich mich nicht mehr genau dran erinnern. Den Papierkram haben meine Pädagogen größtenteils übernommen. NaS: Verstehe. Das heißt, du hast eine gute Unterstützung bei der Beantragung gehabt. S: Ja, genau. NaS: Und dann bist du ausgezogen in eine eigene Wohnung. Ist die Suche gut verlaufen, hast du relativ schnell eine passende Wohnung gefunden? S: Ja, das war eigentlich einwandfrei. Die Wohnung war, glaube ich, die dritte oder vierte, die ich mir angeschaut hatte. NaS: Bist du dann selbstständig umgezogen oder hattest du eine Unterstützung? S: Meine Betreuer haben mich unterstützt. Aber den Rest habe ich selbst übernommen, die Einrichtung zum Beispiel. NaS: Wie hast du das denn finanziert? Hattest du zu dem Zeitpunkt schon eine Arbeitsstelle? S: Ich habe drei Monate nach meinem Auszug eine Ausbildung zum Maler und Lackierer begonnen. Vor der Ausbildung habe ich beim Jobcenter einen Antrag auf Erstausstattung gestellt. Darüber konnte ich das Ganze finanzieren. 312 uj 7+8 | 2021 Interview mit einem Care Leaver NaS: Nach deinem Auszug aus der Wohngruppe, hattest du da noch weitere Unterstützung? Gab es jemanden, der dir geholfen hat − etwa bei Anträgen oder auch bei Herausforderungen? S: Ich habe heute noch Kontakt zu manchen Pädagogen. Große Hilfe erwarte ich aber nicht von denen, einfach aus dem Grund, dass ich 27 Jahre alt bin und mittlerweile eigentlich den meisten Kram allein hinbekomme. Aber ich sage mal so: Man ist gegenseitig füreinander da und freut sich, wenn man sich wiedersieht. NaS: Hattest du denn, als du mit 19 ausgezogen bist, noch eine Nachbetreuung? S: Ich hatte eine flexible Betreuung − ich weiß nicht, ob das auch Pädagogen sind. Jedenfalls sind das Leute, die dich ab und zu mal in deiner Wohnung besuchen kommen und dich bei Papierkram bezüglich der ganzen Antragsformulare vom Jobcenter oder der Arbeitsagentur unterstützen. Umgekehrt besucht man diese Leute aber auch in ihrem Büro. Es war nicht unbedingt so, dass ich zu unsicher gewesen wäre, das allein auf die Kette zu kriegen; vielmehr war es eine Absicherung für den Fall, dass man doch mal nicht klarkommen sollte. NaS: Fandest du diese flexible Betreuung damals hilfreich? S: Ich muss ehrlich sagen, dass ich mich übermuttert gefühlt habe. Teilweise hat mich diese Betreuung eher genervt als mir zu helfen. Einmal die Woche nach Feierabend noch in irgendein Büro gehen und Gespräche führen zu müssen, anstatt einfach duschen gehen zu können, war ein bisschen ätzend … aber an sich war es schon okay, also ein Fehler war es nicht unbedingt. NaS: Wenn du mal die Zeit ab deinem 18. Lebensjahr betrachtest, als klar war, dass es bald in eine eigene Wohnung gehen würde − hättest du dir an der Stelle eine andere Form der Unterstützung gewünscht seitens der Pädagogen, des Jugendamtes oder der Nachbetreuung? S: Was ich mir wünschen würde, wäre, dass die Einstellung mancher Pädagogen nicht so wäre, dass sie nach der Betreuung ihren Job gemacht haben und dann das nächste Kind kommt und in die Gruppe einzieht, sondern dass sie auch ein Interesse mitbringen, was denn nach dieser ganzen Zeit passiert. Immerhin hat man fast zehn Jahre unter einem Dach gelebt. Es wäre also schön, wenn man noch viel mehr Kontakt zu den anderen Leuten hätte. Die einen zeigen Interesse dafür und die anderen halt nicht. Das finde ich irgendwo ein bisschen schade, denn wenn ich in einem „normalen“ familiären Umfeld aufgewachsen wäre, hätte ich ja auch heute noch Kontakt zu meiner Mutter und würde einmal die Woche zum Kaffee trinken oder so vorbeigehen. Das fehlt mir etwas. Aber man kann diesen Kontakt auch nicht erzwingen. NaS: Verstehe. Kannst du etwas genauer deine Erfahrung teilen, was dir generell gut an der Wohngruppe gefallen hat und was eher nicht? Welche Dinge könnte man für die jungen Menschen vor Ort verbessern? S: Das ist eine schwierige Frage… NaS: Lass dir Zeit. Wenn du dich zurückerinnerst, denkst du dann an eine schöne Zeit? Das war schließlich dein Lebensmittelpunkt dort, das war dein Zuhause. S: Ich würde sagen, das war sehr abhängig von den Pädagogen und wie gut sie ihren Beruf ausgeführt haben. Wenn es ab und zu Streitigkeiten zwischen Jugendlichen und Pädagogen gab, dann war ich teilweise der Meinung, dass die Pädagogen falsch oder übertrieben reagiert haben. Andere wiederum sind aber total locker geblieben und auf einen zugegangen und haben versucht, anstatt es weiter eskalieren zu lassen, lieber mit Ruhe zu kontrollieren. Da fallen mir aber die negativen Punkte ein, wo ich sagen würde, dass der ein oder andere Pädagoge eine Kündigung verdient hätte. NaS: Hast du ein Beispiel für so eine Situation? S: Ich hatte, bevor ich ausgezogen bin, ein Übungsapartment bzw. eine eigene Wohnung 313 uj 7+8 | 2021 Interview mit einem Care Leaver über die Einrichtung, die direkt unter der Wohngruppe lag. Und es gab da eine Frau, die es darauf abgesehen hatte, uns ständig mit ihren Stöckelschuhen zu ärgern. Für mich als darunter wohnende Person war das natürlich besonders lustig, weil ich morgens um 5 Uhr teilweise davon geweckt worden bin, wie sie sich in der Wohnung über mir bewegt hat. Und als ich dann das Gespräch gesucht habe, kam nur eine unfreundliche Reaktion, es sei ihre Entscheidung, welche Schuhe sie anziehe. Das war aber nur eine Kleinigkeit. Eine andere Geschichte war, dass ein Junge einen Schlüssel aus dem Fenster werfen wollte. Der Pädagoge hat ihm gesagt, er solle ihn nicht werfen, da er sonst auf seinem Auto landen könne. Der Jugendliche hat den Schlüssel dann aber doch runtergeworfen und er ist tatsächlich auf dem Auto des Pädagogen gelandet. Da hätte nicht mehr viel dazu gefehlt, dass der Pädagoge handgreiflich geworden wäre. Man kann seine Reaktion irgendwo nachvollziehen, aber ich denke, dass man, wenn man sich für so einen Beruf entscheidet, auch irgendwo die Kontrolle bewahren können muss. NaS: Okay. Aus deinen Schilderungen höre ich aber heraus, dass die Zeit in der Wohngruppe grundsätzlich eine gute Zeit für dich war. Trotz ein paar Situationen, die du im Nachhinein blöd oder bedenklich fandest. S: Grundsätzlich war es eine schöne Zeit, auf jeden Fall. Aber es gab halt ab und zu, nicht sehr häufig, gewisse Situationen, in denen Pädagogen hätten anders reagieren können. NaS: Eben hast du das Übungsapartment angesprochen, das unter der Wohngruppe lag. Warum bist du damals dort eingezogen, was genau war der Sinn dahinter? S: Während dieser Zeit habe ich mein eigenes Verpflegungsgeld bekommen und sollte mich selbst damit ernähren. Ich habe einmal im Monat Quittungen dafür vorlegen und das übrige Restgeld abgeben müssen, damit die Pädagogen einschätzen konnten, inwiefern ich mit Geld umgehen kann, wie ich mich ernähre und wie ich mich pflege. Daneben wollten sie auch überprüfen, ob ich pünktlich zur Schule aufstehe, also ob das Ganze funktionieren würde, wenn ich nicht mehr in der Wohngruppe wohne, sondern in einer eigenen Wohnung. Das war der Sinn dahinter. NaS: Hast du das als hilfreich empfunden, diese Zeit des Übungs-Wohnens? S: Tatsächlich nicht. Ich bin beispielsweise von Grund auf ein Frühaufsteher, deswegen habe ich die Hilfe in dieser Hinsicht eher als unnötig empfunden. Tatsächlich hat sie die letzte Zeit in der Heimunterbringung sogar schwieriger gemacht, weil es Jugendliche gab, die neidisch auf mich waren, weil sie gerne an meiner Stelle in dem Übungsapartment gewesen wären. Ich würde nicht sagen, dass es mich zum Außenseiter gemacht hat, aber der Gruppenzusammenhalt war nicht mehr so wie vorher, als wir gemeinsam in einem Wohnzimmer gesessen haben und man nicht rauf- und runterlaufen musste, um ein Gespräch zu suchen. Das hat etwas das Verhältnis zwischen Freunden kaputt gemacht, was aber vielleicht auch einfach an dem Egoismus einzelner Personen lag. Davon abgesehen habe ich aber, mehr oder weniger, meine Ruhe genossen − acht Jugendliche, die wild und laut sind und toben und sich gegenseitig anschreien und beleidigen, das kann auf Dauer auch sehr anstrengend sein. NaS: Verstehe. Jetzt haben wir uns vor allem auf die Wohngruppe konzentriert. Wie hat sich aber die Zeit nach deinem Auszug gestaltet? Was ist gut gelaufen, was konntest du aus der Zeit in der Wohngruppe mitnehmen und was hat dich anfangs vielleicht noch etwas überfordert? S: Eigentlich lief alles ganz gut, muss ich sagen. Bei mir gab es eine schwierige Zeit, auf die einen aber keiner vorbereiten kann; da muss jeder für sich selbst schauen, wie er mit Todesfällen in der Familie umgeht und wie man das Ganze bewältigt, während man auch noch ar- 314 uj 7+8 | 2021 Interview mit einem Care Leaver beiten gehen muss … das sind aber Sachen, da kann einen niemand drauf vorbereiten und deshalb würde ich da auch kein großes Gesprächsthema draus machen. Davon abgesehen ist alles ziemlich gut verlaufen. NaS: Wenn du die Zeit, die du in der Wohngruppe verbracht hast, rückblickend betrachtest: Was hat sie dir für dein Leben gebracht? Hat die Wohngruppe dich geprägt? S: Das ist schwierig, da muss ich drüber nachdenken. NaS: Du warst ja eine lange Zeit dort, insgesamt 6 Jahre, und hast gewisse Dinge gelernt und mitgenommen. Würdest du sagen, das hat dir geholfen, zu dem Punkt zu kommen, an dem du heute stehst? S: Ich glaube, tatsächlich nur in einer Perspektive. Wenn ich bei meiner Mutter oder meinem Vater aufgewachsen wäre und eine offizielle Schule besucht hätte, anstatt einer Privatschule, dann wüsste ich nicht, ob ich heute derselbe Typ wäre wie der, der ich bin. Zum Beispiel, weil man durch eine öffentliche Schule viel eher in Kontakt zu Drogen und anderen Straftaten kommt als auf einer Privatschule, an der die Lehrer selbst noch eine Pädagogenrolle übernehmen. Ob mich die Zeit aber am Ende geprägt hat oder nicht, kann ich so genau nicht beantworten. NaS: Du hast gesagt, dass du, wenn du bei deinen Eltern gewohnt hättest, heute vielleicht nicht der wärst, der du bist − meinst du das zum Negativen oder zum Positiven? S: Zum Positiven. Ich denke, dass ich, wenn ich nicht in der Unterbringung gewesen wäre, vielleicht jemand anders wäre, im negativen Sinne. Aber an sich würde ich trotzdem nicht unbedingt sagen, dass mich die Zeit geprägt hat. NaS: Hattest du denn insgesamt eine positive Zeit in der Wohngruppe? Denkst du an schöne Jahre zurück? S: Ja, das auf jeden Fall. NaS: Das ist schön zu hören. Jetzt stell dir mal vor, du wärst der Chef der Kinder- und Jugendhilfe − würdest du irgendetwas am System verbessern? Oder an den Wohngruppen? Vielleicht besonders bezogen auf die Übergangszeit, also für junge Menschen, die gerade aus Wohngruppen ausziehen müssen. S: Ich würde die Jugendlichen viel mehr auf Verträge vorbereiten, also auf Kleinigkeiten, die man beachten muss. Ich persönlich hätte es hilfreich gefunden, besser darauf vorbereitet zu werden, wie ein vernünftiger Mietvertrag oder Arbeitsvertrag aussehen sollte. Diese Dinge habe ich in der Schule leider nicht gelernt, und Arbeitsverträge sind erst in der Berufsschule mehr oder weniger vorgekommen. Aber zu dem Zeitpunkt hatte ich ja schon den Arbeitsvertrag zur Ausbildung unterschrieben, also war quasi auch schon die Berufsschulzeit zu spät damit, mir zu erklären, was in einen Arbeitsvertrag reingehören sollte. Diese Dinge sollten eventuell auch in der Vorbereitung auf die eigene Wohnung angesetzt werden, damit man nicht irgendeinen Mietvertrag zu irgendeiner Wohnung unterschreibt und am Ende als jugendlicher Arbeitsloser gezwungen ist, die ganzen Renovierungskosten selbst tragen zu müssen, weil es auf dem Immobilienmarkt Eigentümer gibt, die sich nicht um ihre Wohnungen kümmern. Das sind Gefahrenbaustellen, die auch auf andere Menschen zutreffen könnten. NaS: Du hättest dir im Nachhinein also vor allem eine bessere Vorbereitung gewünscht, was Vertragliches etc. angeht. Ansonsten hast du dich gut vorbereitet gefühlt. S: Ja, genau. NaS: Das klingt doch ganz positiv. Dann vielen Dank für das Gespräch, lieber Sven! Nadine Schildt IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Saarstr. 1 55122 Mainz schildt@ikj-mainz.de
