unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2021
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„You will never walk alone“ ?! Ein Care-Leaver-Netzwerk im SOS-Kinderdorf Österreich
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Markus Babler
Michaela Slabihoud
Nach Schätzungen des Dachverbands österreichischer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen (DÖJ) werden in Österreich jährlich rund 1.100 junge Erwachsene in ein selbstständiges Leben entlassen. Zu oft in eine unsichere und ungewisse Zukunft, teilweise mit schwerem Gepäck und unzureichenden Ressourcen. Und ohne Rückkehrmöglichkeit im Falle, dass sie doch noch betreuerische Unterstützung brauchen könnten. Auch im SOS-Kinderdorf erleben viele Care Leaver ihre Beendigung als harte Zäsur. Was macht das mit ihnen? Und mit uns als großem Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe? Was wissen wir gesichert darüber? Und über die konkreten Menschen? Wie verabschieden wir uns und wie gut sind wir weiterhin erreichbar? Wie können wir unsere Ehemaligen im Rahmen unserer Möglichkeiten noch bestmöglich unterstützen? Wie unsere Jugendlichen für ihren eigenen Sprung in die Selbstständigkeit noch besser vorbereiten? Wie gut von ihnen lernen für künftige Betreuungen und Übergänge?
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315 unsere jugend, 73. Jg., S. 315 - 325 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art50d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Markus Babler Jg. 1974; Diplomierter Sozialpädagoge, Diplomierter Traumapädagoge, ab 2008 Betreuer in einer Wohngemeinschaft von SOS-Kinderdorf, seit 2018 Mitarbeiter der Anlaufstelle für Ehemalige von SOS-Kinderdorf in Niederösterreich „You will never walk alone“? ! − Ein Care-Leaver 1 -Netzwerk im SOS-Kinderdorf Österreich Nach Schätzungen des Dachverbands österreichischer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen (DÖJ) werden in Österreich jährlich rund 1.100 junge Erwachsene in ein selbstständiges Leben entlassen. Zu oft in eine unsichere und ungewisse Zukunft, teilweise mit schwerem Gepäck und unzureichenden Ressourcen. Und ohne Rückkehrmöglichkeit im Falle, dass sie doch noch betreuerische Unterstützung brauchen könnten. Auch im SOS-Kinderdorf erleben viele Care Leaver ihre Beendigung als harte Zäsur. Was macht das mit ihnen? Und mit uns als großem Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe? Was wissen wir gesichert darüber? Und über die konkreten Menschen? Wie verabschieden wir uns und wie gut sind wir weiterhin erreichbar? Wie können wir unsere Ehemaligen im Rahmen unserer Möglichkeiten noch bestmöglich unterstützen? Wie unsere Jugendlichen für ihren eigenen Sprung in die Selbstständigkeit noch besser vorbereiten? Wie gut von ihnen lernen für künftige Betreuungen und Übergänge? Mag.a Michaela Slabihoud Jg. 1977; Diplomstudium der Pädagogik und Sonder- und Heilpädagogik, Masterstudium der Sozialwirtschaft und Sozialen Arbeit (FH), langjährige Tätigkeit in der Offenen Jugendarbeit, seit 2016 Regionale Qualitätsentwicklung im SOS Kinderdorf (Region Nord-Ost), seit 2017 Projektleitung Care-Leaver-Netzwerk Markus Babler fasst zusammen, aus welcher Motivation die Anlaufstellen entstanden und gewachsen sind und gibt Einblick in seine eigene Aufbauarbeit der Anlaufstelle NÖ und was ihm dabei begegnet, fordert und antreibt. 1 Der Begriff Care Leaver umfasst alle Geschlechter. Michi Slabihoud teilt ihre Care-Leaver-Netzwerkidee als Versuch, den eingangs gestellten Fragen eine gemeinsame Plattform zu geben. Sie beschreibt die Anfänge als offenes Beteiligungsprojekt und weist darauf hin, welche 316 uj 7+8 | 2021 „You will never walk alone“? ! Fehler/ Irrläufe man vielleicht verhindern hätte können und was man dabei aber versäumt hätte. Sie gibt einen Einblick in die konkrete Neufassung der Netzwerkidee als „Alumni Akademie“. Gemeinsam wagen sie einen vorsichtigen Ausblick. Wie die Anlaufstellen entstanden sind … Die erste SOS-Kinderdorf-Anlaufstelle wurde 1980 in Innsbruck gegründet. Bis dahin hatten grundsätzlich die SOS-Kinderdorf-Mütter die Nachsorge für ihre ehemaligen Schützlinge übernommen. Ehemalige blieben mit ihnen natürlich in Kontakt, dort waren Beziehungen gewachsen und die Idee war von Anfang an, über die eigentliche Betreuungszeit hinaus zur Verfügung zu stehen. Die SOS-Kinderdorf-Mütter waren und blieben Mütter im besten Wortsinn. Man konnte zu ihnen auf einen Kaffee zum Plaudern vorbeikommen und auch wenn man Herausforderungen zu meistern hatte, für die man Unterstützung brauchte. Auch wenn es heutzutage weniger SOS-Kinderdorf-Mütter gibt, sind sie immer noch grundsätzlich nach einem Betreuungsende für ihre SOS-Kinderdorf-Kinder da. Aber es gab auch Ehemalige, die den Weg zu ihren SOS-Kinderdorf-Müttern nicht mehr fanden. Ohne auf Aussagen damaliger Betroffener zugreifen zu können, lässt sich aus heutiger Sicht ableiten, dass die möglichen Gründe dafür vielfältiger Natur waren. Junge Burschen z. B. verließen mit 16 Jahren die Dörfer und wechselten in die Jugendhäuser, in denen seinerzeit klassische Heimbetreuung in Großgruppen stattfand. Manche verloren vielleicht durch diesen Übergang zumindest ein bisschen den Anschluss an das SOS-Kinderdorf und ihre dortigen SOS-Kinderdorf-Mütter. Andere wiederum wollen ihren Lebensabschnitt in der Fremdunterbringung hinter sich lassen. Jedes Kind möchte am liebsten in einer intakten Familie aufwachsen, fremduntergebracht zu sein, wenn auch in liebevoller Umgebung, ist einfach nicht das Optimum. Nicht wenige wollen ihren SOS-Kinderdorf-Müttern nur dann gegenübertreten, wenn sie ihr Leben gerade gut im Griff haben. Und ja, es gab und gibt auch jene, die keine starke Beziehung zu ihren SOS-Kinderdorf-Müttern haben, so wie es anderen Kindern und Jugendlichen auch mit SozialpädagogInnen oder leiblichen Eltern geht. Eine tragfähige Beziehung aufzubauen verlangt allen Beteiligten so einiges ab, nicht immer gelingt es. Im Jahr 1980 also gründete SOS-Kinderdorf eine Anlaufstelle, weil man beobachten konnte, dass eine bedeutsame Zahl an Ehemaligen es nicht gut schaffte, das Leben auf eigenen Beinen zu bewältigen. Einerseits war der Rückgriff auf Bezugspersonen aus dem SOS-Kinderdorf für viele von ihnen auch keine Option. Andererseits waren und sind die Ressourcen von Bezugspersonen, Ehemalige zu unterstützen, begrenzt. Denn es gibt immer ein Haus voller Kinder und Jugendlicher, die aktuell zu betreuen und zu versorgen sind. Damals meinte man, einen Bedarf zu erkennen und bemühte sich um ein passendes Angebot. Daraus entwickelten sich über viele Jahre die SOS-Kinderdorf-Anlaufstellen. Heute gibt es mindestens eine solche in jedem Bundesland. Jede Anlaufstelle hat ein Konzept, das auf einem internen Qualitätsstandard fußt. Die Konzepte sind sehr ähnlich, unterscheiden sich aber auch in manchen Punkten. Aus heutiger Sicht lässt sich eindeutig sagen, dass der Bedarf an Unterstützung nach Betreuungsende richtig erkannt wurde. Und das Angebot Anlaufstelle hat sich bewährt. Durch verschiedene Entwicklungen der letzten Jahrzehnte scheinen sie sinnvoller denn je. Wie schon erwähnt, es gibt weniger SOS-Kinderdorf-Mütter, die praktisch ein Leben lang als Bezugspersonen zur Verfügung stehen. Stattdessen gibt es immer mehr Wohngruppen, die von sozialpädagogischen Teams geführt werden. Diese haben kaum Ressourcen zur Verfü- 317 uj 7+8 | 2021 „You will never walk alone“? ! gung, um nach Betreuungsende Unterstützung anzubieten. Kinder leben immer länger bei ihren Eltern, in Österreich ziehen sie derzeit im Schnitt mit 25 Jahren aus. Care Leaver sind wesentlich früher gefordert, eigenständig zu leben. Was die Anlaufstellen anbieten … An die Anlaufstellen kann sich grundsätzlich jeder Mensch wenden, der einmal in einer Einrichtung von SOS-Kinderdorf gelebt hat. Die angebotene Unterstützung reicht von kleinen Hilfen im Alltag bis hin zur Begleitung in krisenhaften Lebensabschnitten. Wichtig aus beraterischer Sicht ist der Blick auf die Ressourcen der KlientInnen. Sie sollen nutzen, was sie selbst zur Bewältigung einer herausfordernden Situation einbringen können. Das können z. B. finanzielle Mittel sein, persönliche Fähigkeiten, hilfreiche Menschen aus ihrem sozialen Umfeld etc. Dort, wo die eigenen Möglichkeiten enden, wird die Unterstützung der Anlaufstellen ansetzen, und zwar mit dem klaren Ziel, eine herausfordernde Situation zu lösen, um sich dann wieder zurückzuziehen. So soll jemand, wenn auch im Leben sehr herausgefordert, möglichst handlungsfähig bleiben und sein Leben möglichst bald wieder selbstständig bewältigen. Eine besondere Möglichkeit, die eine eigene Anlaufstelle von SOS-Kinderdorf bietet, ist, schon beim Übergang in ein selbstständiges Leben am Leaving Care der noch betreuten Menschen beteiligt sein zu können. Es ist vorgesehen, dass alle Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen drei Monate vor ihrem (geplanten) Betreuungsende eine/ n MitarbeiterIn der Anlaufstelle in ihrer Nähe kennenlernen. Jemanden persönlich zu kennen erleichtert Ehemaligen und MitarbeiterInnen der Anlaufstellen eine etwaige spätere Zusammenarbeit. Natürlich können auch mehrere solcher Treffen stattfinden, um eine zukünftige Arbeitsbeziehung anzubahnen. Und es können auch noch vor dem Betreuungsende in Absprache mit einer Einrichtung betreuerische Aufgaben übernommen werden, wenn dies im Rahmen des Übergangs sinnvoll erscheint, z. B. sich um Anträge zu kümmern, die das Leben nach dem Übergang betreffen. Herausforderungen der Anlaufstellen … Vor ziemlich genau drei Jahren habe ich begonnen, die Anlaufstelle in Niederösterreich aufzubauen. Davor waren die Aufgaben der damals noch sogenannten Nachbetreuung an einen externen Verein vergeben. Durch die Übernahme durch SOS-Kinderdorf wollte man die Schwelle zum Andocken für Ehemalige niedriger machen. Denn es hatte sich gezeigt, dass sie sich schwertun, sich mit einer Stelle außerhalb von SOS-Kinderdorf auseinanderzusetzen, noch dazu in einer so sensiblen Phase wie dem Leaving Care. Manche haben damit kein Problem, für andere ist es eine Hürde. Die schon beschriebene Möglichkeit von MitarbeiterInnen der Anlaufstellen, schon am Übergang präsent zu sein, und die Tatsache, dass sie auch Teil von SOS-Kinderdorf sind, spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Dennoch, eine Schwelle beim Andocken bleibt. Immerhin geht es darum, sich bei jemandem, den man eher nicht gut kennt, zu melden, um Unterstützung zu bitten. Denn das heißt im Gegenzug, dass man etwas, wenn auch eine kleine Alltäglichkeit, nicht selber schafft. Je herausfordernder die Lebenssituation, umso schwerer ist tendenziell dieses Eingeständnis. Auch hier gilt, für manche ist das kein Problem. Für die anderen stellt es eine mitunter hohe Schwelle dar. Entgegenwirken kann man dem, indem man möglichst früh bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, solange sie noch in Betreuung sind, präsent ist. Es hat sich gezeigt, dass ein Kennenlernen vor dem Leaving Care in informellen Settings dafür sehr hilfreich ist, z. B. indem man zum Abendessen in einer Gruppe 318 uj 7+8 | 2021 „You will never walk alone“? ! vorbeischaut oder an einem Jugendcafé teilnimmt. So kann man eine Beziehung zueinander aufbauen, ohne dass es um Andocken, eine Schwelle oder schwere Themen geht. Eine Schwelle ist auch bei den KollegInnen wahrnehmbar. Das zeigt sich unter anderem daran, dass die konzeptionell verankerte routinemäßige Kontaktaufnahme mindestens drei Monate vor Betreuungsende eher selten wahrgenommen wird. Das geschieht desto öfter, je größer die Sorge bei einem Auszug darüber ist, wie gut es die/ der betroffene Ehemalige schaffen wird. Aber auch Ehemalige, die gut gerüstet in ein selbstständiges Leben starten, können zu späteren Zeitpunkten Unterstützung brauchen und sollten daher eine/ n MitarbeiterIn der Anlaufstelle schon kennengelernt haben. Und letztlich liegt es nicht an den BetreuerInnen zu entscheiden, ob ein/ e KlientIn gut genug gerüstet ist oder nicht. Auch entsteht immer wieder das Gefühl, dass es BetreuerInnen selbst schwer fällt, bei ihren KlientInnen loszulassen bzw. das Feld jemandem anderen zu überlassen. Auch hier liegt der Schlüssel darin, bei KollegInnen möglichst präsent zu sein, z. B. indem man die Teams regelmäßig besucht, gute Kontakte pflegt und die Anliegen der Anlaufstelle immer wieder einbringt und manchmal auch einfordert. Was es sonst noch alles gibt − und braucht? Mein Eintritt bei SOS-Kinderdorf Österreich (Wien) als Qualitätsbeauftragte vor gut fünf Jahren war gleichzeitig der Start einer spannenden Entdeckungsreise. Zuvor hauptsächlich in der offenen Jugendarbeit sozialisiert, fielen mir schnell Parallelen in den Arbeitsfeldern und in den allermeisten Zugängen auf. Aber auch der große Unterschied in der Fremdunterbringung. Jedem Kind ein LIEBEVOLLES ZUHAUSE. Das ist schon nochmal etwas ganz Abb. 1: Resilienz 319 uj 7+8 | 2021 „You will never walk alone“? ! anderes und die Vielfalt der Einrichtungen und Unterstützungsformen und deren stetige Weiterentwicklung, also all die Menschen, die dies möglich machen, verlangen mir seither großen Respekt ab. Ich saugte Informationen und Geschichten auf wie ein Schwamm und besuchte viele verschiedene Teams, verschiedene Wohnformen und -gruppen und auch SOS-Kinderdorf-Familien. Zuvor war das zugegeben das hauptsächliche Bild, das ich vom SOS-Kinderdorf hatte. Zum Beispiel aus einem Radiokolleg über eine SOS-Kinderdorf-Mutter, die über viele Generationen hinweg für insgesamt über 30 Kinder da war, zuerst in der Vollversorgung und so oft danach noch als gern aufgesuchter und wichtiger Ankerpunkt im späteren Leben. Wie Markus oben beschrieben hat − nicht immer gelingend, nicht immer erbeten oder angefragt. Ebenso wenig garantierbar wie in anderen Familien, aber oftmals intensiv und zuverlässig tragend über lange Zeit. In guten wie in schlechten Zeiten. Ich war erfreut zu sehen, dass es sie nach wie vor und wirklich gibt, nicht nur im Radio. Und ich war gepackt vom weiten und komplexen Feld des Leaving Care. Ich hing meine Nase in aktuelle Praxisforschungen und Fachartikel, begann die bestehende Expertise aus der Organisation und außerhalb anzuzapfen und führte viele Gespräche mit unterschiedlichen Teams und Einzelpersonen. Mit Martina Wiener, die seit sechs Jahren für die Anlaufstelle Wien zuständig ist und diese aus dem Betreuten Wohnen heraus aufgebaut hat − und später mit der Neugründung der Anlaufstelle im Nachbarbundesland Niederösterreich auch Markus Babler − wurde das ich zum Wir. Gemeinsam gingen wir den Fragen nach, was genau es heute heißt, „Ankerpunkt“ aus einer Wohngruppe oder einer teilbetreuten Wohnform heraus zu sein. Was macht es, dass langgediente SOS-Kinderdorf-Mütter in Pension gehen und nur wenige nachfolgen wollen? Was macht es, dass Kinder und Jugendliche statis- Abb. 2: Homepage der Alumni Akademie 320 uj 7+8 | 2021 „You will never walk alone“? ! tisch gesehen insgesamt weniger lang verweilen als früher (als ambulante und präventive Angebote noch weniger zugegen waren und/ oder griffen) und vermehrt in Wohngruppen und individuellen Settings untergebracht sind? Und wie könnte und müsste ein (zentral gesteuertes) Unterstützungsnetzwerk aussehen, das die gemeinsamen Bemühungen im Umgang mit diesen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen unterstützt und gleichzeitig direkten Benefit für die Care Leaver stiftet? Ein Care-Leaver-Netzwerk für SOS Kinderdorf (2017 - laufend) Eine organisationsinterne Projektförderung gab uns die Gelegenheit, diesen Fragen konzentrierter nachzugehen und erste Schlüsse abzuleiten. Ein freiwilliges, zusätzliches Angebot gelingender Übergangsbegleitung sollte es werden, am Ende des Tages entwickelt und gestaltet von Care Leavern für Care Leaver − während und nach ihrer Zeit im SOS-Kinderdorf. In einem sehr breit angelegten Beteiligungsprozess ging es uns darum, die Selbstorganisation, Eigenverantwortung und damit Selbstwirksamkeit der Care Leaver zu fördern. Für Care Leaver nach dem Sprung galt es, eine positiv und attraktiv besetzte „Form von Heimat“ als Begegnungs- und Andockmöglichkeit für Austausch, Vernetzung, für die persönliche Weiterentwicklung aller Beteiligten zu schaffen. Ein organisch und allmählich wachsendes Netzwerk sollte für zusätzliche, verlässliche AnsprechpartnerInnen − und damit für den so oft als fehlend oder unzureichend konstatierten Rückhalt sorgen. „Leben ist das, was passiert, während wir eifrig damit beschäftigt sind, Pläne zu machen.“ (John Lennon) Leider gestaltete sich die Suche nach aktiven PartnerInnen für die weitere Planung, Ausformung und Umsetzung der Ideen weit schwieriger als gedacht. Trotz vielfacher Rückmeldungen, dass die Netzwerkidee an sich für sehr wertvoll erachtet wurde, blieben die Angebote zum Mitdenken und -gestalten weitgehend aus. Die breit gestreuten Einladungen per Mail an viele MitarbeiterInnen erzeugten wenig Echo. Auch die versuchten Kontaktanbahnungen zu Care Leavern über Social Media, maßgeblich über selbstorganisierte Ehemaligengruppen, führten nicht zu den erhofften nachhaltigen Kontakten. Einige der vorhandenen Gruppen und Profile waren „eingeschlafen“, dennoch gehen wir stark davon aus, dass es hauptsächlich an den fehlenden Beziehungen gelegen hat sowie an den wenig greifbaren, zu „nebulös“ wirkenden Einladungen zur offenen Mitgestaltung. Ich habe mich das später oft gefragt: Hätte ich mir geantwortet? Im Nachhinein betrachtet haben wir aber genau durch solche Irrwege und Leerläufe erfahren und gelernt, wie maßgeblich tragfähige Beziehungen, vertrauensbildende Maßnahmen, die allmähliche und dranbleibende Anbahnung und Vertiefung von Kontakten sind. Abb. 3: Zielbaum 321 uj 7+8 | 2021 „You will never walk alone“? ! Und dass diese aus dem Wiener Großraumbüro („Elfenbeinturm“? ) heraus und mit ein paar Wochenstunden nebenbei einfach nicht zu leisten sind. Wie bei anderen ein Feuer entfachen, wenn man selbst Gefahr läuft, dass einem die Luft ausgeht? Was niederschwellige Beteiligungsprojekte − gerade in so großen Organisationen − zusätzlich zum langen Atem brauchen, sind viele Köpfe, die mitdenken, Schultern, die mittragen und Hände, die gerne und freiwillig mitarbeiten und mitgestalten wollen. Die dazu nötigen (Zeit-)Ressourcen müssen vorhanden sein oder zur Verfügung gestellt werden. Es ist mehr als nachvollziehbar, dass SozialpädagogInnen und Führungskräfte angesichts riesiger Herausforderungen in ihrem Arbeitsalltag sich ganz genau überlegen (müssen), wie und wo sie ihre Energien einsetzen und wofür. Es ist die legitime Frage der Kosten-Nutzen-Rechnung: Was bleibt unterm Strich für mich, meine Kinder und Jugendlichen, meine MitarbeiterInnen, das Gesamtsystem, wenn wir uns − bei ohnedies beschränkten Mitteln und Spielräumen − beteiligen, mehr oder weniger ergebnisoffen und freiwillig? Und was kostet es uns? Unter Einsatz großer Energie schafften wir in dieser Zeit aber auch sehr schöne Erlebnisse und machten spannende Erfahrungen, indem wir verschiedene Begegnungsformate einfach ausprobierten. Beim „Klassentreffen“ erlebten wir einen sehr stimmigen und stimmungsvollen Abend mit Care Leavern, ehemaligen und aktiven BetreuerInnen und SOS-Kinderdorf-Leitungen. Es wurden Informationen, Neuigkeiten und Fotos ausgetauscht, in Erinnerungen geschwelgt, viel gegessen und viel gelacht. Es war ein toller Begegnungsraum, dem andere, wenn auch weniger gut besuchte, folgten. Spaß hatten wir trotzdem beim Sommerpicknick oder beim Spieleabend zu fünft und haben selbst viel dabei gelernt. Eine kleine Anekdote: Im reservierten Hinterzimmer des Spielecafés fragten wir die Care Leaver: „Wie würdet ihr euch so eine Plattform, so ein Netzwerk wünschen? Was könnte da alles passieren? “ Nach zögerlicher Stille fielen Dinge wie „Hm …− Keine Ahnung. Egal. − Keine Idee“. Das blieb so und deshalb ritten wir auch nicht lange weiter darauf herum, gaben ihnen bewusst Zeit ohne uns, indem wir den Raum verließen. Als wir zurückkamen hörten wir, wie ein Ehemaliger einer Jugendlichen, die noch in einer Wohngemeinschaft wohnt, sehr lebhaft erklärte, wie das bei ihm so mit dem betreuten Konto abgelaufen ist. Und schon waren sie mittendrin im Austausch über die Sorgen, die damit verbunden sind, wenn man plötzlich so viel mehr Verantwortung hat. Und darüber, was dabei vielleicht helfen könnte. Einfach so. Die Care Leaver gaben nicht viel auf unsere Strukturen und Visionen und Planskizzen. Sie nutzten einfach den Raum, der da war − für sich. Dieses Learning schrieben wir uns groß ins Stammbuch. Wir mussten endlich ganz real ins Tun kommen, Räume bereitstellen, Gelegenheiten schaffen. Und diese nicht durch zu viel Kopf- und Strukturlastigkeit zerstören. Wir würden es niemals allen recht machen können, wie zum Beispiel eine bunt durchgewürfelte Arbeitsgruppe aus Care Leavern, SozialpädagogInnen und MitarbeiterInnen weiterer Fachbereiche von SOS-Kinderdorf zur Frage „Wie soll eine Facebookgruppe für das Netzwerk gestaltet sein? “ deutlich gemacht hat. Der Abend brachte viele interessante Impulse. Die wenigsten hatten wir so erwartet. Anstatt zunehmend konkreter zu werden, wurde es breiter und breiter. Welche Art von Netzwerk überhaupt wünschenswert ist, war je nach TeilnehmerIn etwas nahezu komplett anderes und durchaus konfliktiv, weil sehr emotional besetzt. Es hat etwas gedauert, bis wir verstanden haben, dass wir diesen unbewussten Kurs der Verantwortungsdelegation beenden mussten. Es war gut, weil partizipativ gemeint, hilfreich war es nicht. Wir mussten direktiver an die Netzwerkbildung herangehen. Es ist nicht nur erlaubt, sondern auch notwendig, einen Ankerplatz und den entsprechenden Rahmen vorzugeben, von dem 322 uj 7+8 | 2021 „You will never walk alone“? ! aus Entwicklung möglich ist („vom Tun ins Tun kommen“). Vielleicht ist es wie beim Motto von World Cafés: „Wer immer kommt, es sind die Richtigen.“ Wenn das Angebot stimmt. Im zweiten Halbjahr 2018 holten wir uns deshalb mit Hikmet Kayahan einen Projektkoordinator mit ausreichenden Zeitressourcen und ohne Rollenkonflikte sowie SOS-Kinderdorf-Leiter Dieter Schrattenholzer an Bord der Steuerungsgruppe. Wir legten uns im Sinne von „Think global − act local“ eine Selbstbeschränkung auf und konzentrierten uns vorerst auf die uns unmittelbar umgebenden Bundesländer Wien und Niederösterreich. Der Projektkoordinator startete mit der Aufgabe, unsere Learnings und jene, die er bei seiner eigenen Entdeckungsreise (ohne unsere blinden Flecken) machte, in ein Programmkonzept zu gießen. Er sollte dem Netzwerk ein neues und konkretes Gesicht verpassen − um es greifbarer und für alle potenziell Beteiligten leichter erreichbar zu machen. Care-Leaver-Netzwerk goes „Alumni Akademie“ Nach mehreren Monaten mit vielen Feedback- und Reflexionsschleifen lag das Baby vor uns − vielversprechend, glanzvoll, neu und frisch. Dem Ruf nach greifbareren Angeboten folgten wir mit einer grundsätzlichen Segmentierung in wenige, aber gut abgrenzbare Module und fokussierten dabei insbesondere Information und Geselligkeit. Dabei setzten wir bewusst neue Begrifflichkeiten ein: „Alumni“, um der noch immer vorhandenen Stigmatisierung als „Heimkind“ entgegenzuwirken. „Akademie“, um auf einen Ort des gemeinsamen Lernens zu verweisen. Es sollte ein Begegnungsort entstehen, an dem sich Care Leaver − in guten wie in schlechten Zeiten − willkommen fühlen, ohne sich immer wieder aufs Neue erklären zu müssen („You will never walk alone“). Im Februar 2019 startete das Projekt SOS-Kinderdorf Alumni Akademie als ein Ort der Kom- Abb. 4: Steuerungsgruppe Alumni Akademie 323 uj 7+8 | 2021 „You will never walk alone“? ! munikation, des Lernens und des Austauschs für alle Ehemaligen und Jugendlichen im Verselbstständigungsprozess in die Pilotphase. Wir griffen die bekannten Schwerpunktthemen wie Wohnen, Finanzen, Arbeit, Psychosoziales auf und boten sie dem pädagogischen Feld erst als Einzelveranstaltungen, bald in Form von (besser planbaren) Monatsprogrammen mit wöchentlichen Workshopterminen an. Im Wissen, dass es den oder die Care Leaver einfach nicht gibt, sollte so ein buntes Spektrum angeboten werden, aus dem die potenziell Beteiligten wie in einem Kaufmannsladen gustieren, auswählen und ausprobieren konnten. Mit diesem Konzept und nach den ersten, teilweise sehr erfolgreich verlaufenen Veranstaltungen gingen wir in die Halböffentlichkeit, vergesellschafteten die Idee mit den Anlaufstellenzuständigen aus ganz Österreich und potenziellen FördergeberInnen und entwickelten vorsichtige Phasenmodelle für unsere Festigung und Erweiterung. Allmählich und so bedarfsorientiert wie möglich schärften wir die nachgefragtesten Workshops und sozialen Events zu Programmschienen, experimentierten mit organisationsübergreifenden Workshops, um auch Erfahrungswerte mit Ehemaligen ohne SOS-Kinderdorfbezug zu schaffen und etwaige Kooperationspotenziale Abb. 5: Logo der Alumni Akademie auszuloten. Die Angebote für die Care Leaver selbst sollten dabei von praktischem Nutzen sein (z. B. „Meine erste eigene Wohnung − worauf muss ich achten? “, „Do-it-yourself-Heimwerkerinnen-Workshop“, „Schuldenfalle Handy & Co“), Selbsterfahrung unterstützen („Krisen erfolgreich meistern“) und gesamtgesellschaftliche Themen („Zivilcourage im Alltag“) aufgreifen. Die Hauptmodule boten damit Rahmen und Orientierung bei ausreichendem Platz für die Mit- oder gar Selbstgestaltung durch einzelne interessierte Alumnis. Hier war und ist es uns besonders wichtig, deren Expertise und Erfahrungsschätzen, deren Talenten − so sie das wollten − eine Bühne zu geben, um wieder andere zu motivieren und miteinander zu vernetzen. Die Filmpremiere einer Care-Leaver-Jungregisseurin in einem eigens angemieteten Kinosaal hier, „job.talks“, bei denen Ehemalige Einblicke in ihre Arbeitsund/ oder Ausbildungswelten gaben dort sowie gleich ganz individuell handgestrickte Settings für einzelne Wohngemeinschaften, die sich mit uns darauf einließen. Das komplette bisherige und aktuelle Programmangebot ist auf der Projektwebseite unter http: / / www.alumni-akademie.at/ termine abrufbar. Mit eben dieser Webseite, einem neuen Auftritt im organisationsinternen Intranet sowie über eine geschlossene Facebookgruppe 324 uj 7+8 | 2021 „You will never walk alone“? ! schufen wir auch digitale Ankerplätze, um unsere Reichweite und Bekanntheit zu erhöhen und auch, um uns ein Stück weit unabhängiger und eigenständiger, ja selbstbewusster aufzustellen. Von Anfang an bewegten wir uns hier in dem Spannungsfeld, uns einerseits größer präsentieren zu müssen, als wir bereits waren, um attraktiver für potenzielle Beteiligte und FördergeberInnen zu sein, und andererseits, um unserem Anspruch, jegliche Form von Anmaßung, Scheinbeteiligung und Ressourcenverschwendung auszuschließen, gerecht zu werden. Anders gesprochen im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit unseres Care-Leaver-Netzwerks. Und dann kam Corona … Bereits vor der Pandemie mussten wir einzelne Veranstaltungen mangels Anmeldungen absagen, im März 2020 wurde klar, dass wir auf absehbare Zeit überhaupt keine analogen Zusammenkünfte mehr organisieren und abhalten würden können. Also krempelten wir unsere Ärmel hoch, machten uns digital fitter und verlagerten unsere Aktivitäten mehrheitlich ins Netz und trösteten uns mit umtriebiger Geschäftigkeit. Wir digitalisierten Workshopformate, gestalteten und verschickten Videoclips mit Mutmachbotschaften unserer Alumnis, streuten Zuversicht und Durchhalteparolen und schmiedeten Pläne für die Zeit nach Corona. Durch die Darstellung der erreichten Wirkungen, viel mehr noch aber der attestierten Potenziale und Synergien erreichten wir eine interne Projektweiterfinanzierung bis zum Jahresende 2021. Und wir nahmen uns Zeit für eine kritische Bestandsaufnahme und verordneten uns dabei eine radikale Akzeptanz der momentanen Wirklichkeit und mittelfristiger Perspektiven. Fakt ist jedenfalls, dass wir − nunmehr im fünften Jahr des Prozesses − noch bei Weitem nicht die Wirkungen erzielen, wie wir sie uns erträumt oder auf unseren„Reißbrettern“ erdacht hatten. Natürlich trifft uns die Pandemie in Mark und Bein, sie stellt damit auch eine verführerische Opferrollen-Falle bereit, weil ohne direkte Begegnung zwischen Menschen eine Alumni Akademie nur schwer vorstellbar ist. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Learnings und vorsichtiger Ausblick Schon „vor Corona„ entwickelten und veränderten wir uns − vorwärts und zurück und wieder anders vorwärts − immer auf der Suche nach den geeignetsten Wegen und Gefäßen, unsere Handlungsziele zu erreichen. Wir veränderten uns auf Zuruf der Beteiligten, wir veränderten uns, um uns förderungsfähiger aufzustellen, um besser zur Marke SOS-Kinderdorf zu passen, um nicht in zu viel Reibung mit anderen Unternehmensbereichen und Zielkonflikten zu gelangen. Wir lernten aus Feedbackrunden und Workshop(miss)erfahrungen und werden das auch weiterhin tun. Das hauptsächlich digitale Programm für die nächsten zwei Monate steht. Gleichzeitig werden wir uns unsere Wirkungen in Hinblick auf unsere Stopp- und Wendemarken noch genauer und kritischer ansehen und unsere Schlüsse daraus ziehen. „Culture eats strategy for breakfast“ (Peter Drucker) Nehmen wir zum Beispiel die Überprüfung der eingangs gestellten Frage: „Wie müsste ein zentral gesteuertes Unterstützungsnetzwerk aussehen? “ Und erinnern wir uns an die Anekdote aus dem Spielecafé. Es ging um die Begeisterung darüber, dass zwar die Care Leaver wenig auf unsere Planskizzen und Mitwirkungsaufrufe gaben, sehr wohl aber den zur Verfügung gestellten Raum in unserem Sinne nutzten. Die spannendsten Fragen sind aus heutiger Sicht vielmehr folgende: Kann eine zentral gesteuerte Plattform, noch dazu auf dem Reißbrett in einem Elfenbeinturm erdacht, möge sie „Alumni Akademie“ oder anders heißen, über- 325 uj 7+8 | 2021 „You will never walk alone“? ! haupt funktionieren und angenommen werden? Und welche Bedingungen müssen oder müssten dazu in der Organisation vorliegen? War und ist die entwickelte Projektstruktur überhaupt geeignet, die wahrgenommenen Bedürfnisse der (! ) Care Leaver zu adressieren? Gibt es den Bedarf der Care Leaver nach so einem Gefäß wirklich? Ich erinnere mich an einen Spruch, der in einem unserer Arbeitstreffen gefallen ist: „Wenn es (die Sache mit dem Leaving Care) so einfach wäre, bräuchte es uns nicht! “ Vielleicht erwartet uns die kurz schmerzhafte, aber wichtige Lektion, dass es uns als Alumni Akademie ganz einfach nicht braucht, zumindest nicht in dieser Form. Care Leaver Programme können nicht nur ganz unterschiedlich aussehen − sie sollten es sogar. Je bunter und unterschiedlicher die (Wieder-) anknüpfungsmöglichkeiten für Care Leaver sind, desto eher entsprechen sie der Vielfalt und den unterschiedlichen Bedürfnissen der Zielgruppen und desto hilfreicher sind sie auch. Sofern sie niederschwellig und zuverlässig erreichbar, bekannt und mit genügend Ressourcen ausgestattet sind. Ich denke dabei an unsere bestehenden Eckpfeiler, die Anlaufstellen, die ehemaligen Betreuungspersonen in den Angeboten, an Ehemaligennetzwerke und nicht zuletzt an den im Aufbau befindlichen Care- Leaver-Verein Österreich. Vielleicht ist es zielführender darauf zu schauen, dass die hier jeweils Beteiligten haben, was sie individuell brauchen. Sie in ihrem Tun aufzuwerten und zu stärken. Brücken anzuregen, anstatt sie für sie zu bauen. Und dem Impuls − im Sinne der Synergien −, alles gleich miteinander verbinden zu wollen, erstmal oder auch endgültig zu widerstehen. Die Zukunft der Alumni Akademie ist offen und ungewiss und darin verborgen liegen auch weiterhin die Teile zur Lösung ihrer Herausforderungen. Diese werden im komplexen Feld des Leaving Care auf absehbare Zeit nicht kleiner werden. Grund und Motivation genug für weitere spannende Entdeckungsreisen. Markus Babler Grenzgasse 111/ 1/ 50 2340 Maria Enzersdorf Österreich E-Mail: markus.babler@sos-kinderdorf.at Michaela Slabihoud SOS-Kinderdorf Büro Wien Vivenotgasse 3 1120 Wien Österreich Tel. +43 (0) 6 76 88 14 42 40 E-Mail: michaela.slabihoud@sos-kinderdorf.at - Anzeige -
