unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art57d
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Praxis der Hilfeplanung nach §36 SGB VIII
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Carsten Schüler
Die Hilfeplanung ist ein zentrales Element zur Steuerung einer Hilfe. Sie bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten – auch die der wirksamen Partizipation. Genutzt werden diese häufig nicht.
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362 unsere jugend, 73. Jg., S. 362 - 364 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art57d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Praxis der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII Eine kritische Betrachtung Die Hilfeplanung ist ein zentrales Element zur Steuerung einer Hilfe. Sie bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten - auch die der wirksamen Partizipation. Genutzt werden diese häufig nicht. Hatten Sie jemals Vorsätze für das neue Jahr? Vielleicht haben Sie diese Vorsätze um Silvester herum geplant. So sinnvolle Dinge wie: weniger rauchen, gesund essen, mehr Sport etc. - selten wird etwas aus diesen Vorsätzen. Das wiederum macht uns auch nicht viel aus, denn außer uns selbst und vielleicht dem engsten Familienkreis weiß ja auch niemand davon. Vielleicht täte uns ein klein wenig mehr Verbindlichkeit sogar gut. Nun stellen Sie sich aber vor, Sie müssten Ihre Ziele operationalisieren, transparent machen und den Fortgang Ihrer gesetzten Ziele gegenüber Profis der Gesundheitsberatung, SportpädagogInnen, ErnährungsberaterInnen und gegenüber denjenigen, die diese Menschen bezahlen, darstellen und vor allem auch begründen, warum Sie noch nicht alles geschafft haben, was Sie sich vorgenommen haben. Die Mehrzahl der HelferInnen in dieser Runde kennen Sie übrigens gar nicht. Na? Wie geht’s Ihnen mit diesem Gedanken? Sie bekommen Beklemmung, vielleicht sogar Bauchschmerzen, die Nervosität steigt Ihnen in die Glieder? Das ist mehr als verständlich, denn obwohl Sie als LeserIn dieser Fachzeitschrift sicherlich über eine gute Reflexionsgabe, eine gefestigte Persönlichkeit und ein gutes Selbstbewusstsein verfügen, ahnen Sie, dass uns das überfordern würde. Leider hält uns das nicht davon ab, genau das von Kindern, Jugendlichen, jungen Menschen, Müttern und Vätern in teilweise extrem belasteten Situationen einzufordern. Das ist viel zu häufig die gelebte Praxis von Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII und damit das genaue Gegenteil von Augenhöhe und gelingender Partizipation. Dabei ist das Instrumentarium auch nach 30 Jahren hoch innovativ. Der § 36 (Mitwirkung und Hilfeplanung) im Zusammenhang mit § 5 (Wunsch und Wahlrecht) und § 8 (Beteivon Carsten Schüler Jg. 1973; Dipl.-Sozialpädagoge/ Dipl.-Sozialarbeiter, Heilpraktiker für Psychotherapie, Video-Interaktions-Trainer, Systemischer Berater, Fachberater für Psychotraumatologie, Trainer für Angst- und Stressbewältigung, Familienaufsteller. In der Jugendhilfe seit 25 Jahren, seit 18 Jahren Führungskraft. Bereichsleiter des Verbundes „Kinder- und Jugendhilfe mit Fachklinik und Schule“ bei der Bergischen Diakonie, Vorstand des Evangelischen Erziehungsverbandes e.V. (erev), nebenberuflich als Therapeut, Coach, Trainer und Referent. 363 uj 9 | 2021 Kritische Betrachtung der Hilfeplanungspraxis ligung von Kindern und Jugendlichen) bietet eine Grundlage und den Rahmen, um eine passgenaue Hilfe nicht für, sondern mit dem/ der HilfeempfängerIn zu planen und auszugestalten. Eines zunächst vorweg: Eine nachhaltige Hilfeplanung beginnt nicht im Hilfeplangespräch! Sie beginnt auch nicht mit der Berichterstellung für den Hilfeplan. Es ist vielmehr so, dass eine funktionierende Hilfeplanung ein Prozess ist, der sich organisch aus dem Verlauf der Hilfe ergibt. Oder wenn es sich um den Beginn einer Hilfe handelt, dann sollte die Hilfeplanung die Fortsetzung und Konkretisierung vertrauensvoller Gespräche von einem/ einer in Gesprächsführung geschulten einfühlsamen KollegIn im Eingangsmanagement des Jugendamtes sein. Funktional wäre es, wenn die Hilfeerbringenden mit den HilfeempfängerInnen in einem regelmäßigen reflektorischen Prozess über Ziele, Zielerreichung und den Grad der Zielerreichung wären. Sie sprechen bestenfalls sogar regelmäßig darüber, was die HilfeempfängerInnen zu einem positiven Verlauf der Hilfe (Ressourcenorientierung) beigetragen haben oder was sie hindert. Sie hinterfragen auch immer wieder, was bei der Hilfeerbringung hilfreich und was hinderlich gewesen ist. In vielen unserer Systeme in der Bergischen Diakonie ist die gerade beschriebene Reflexion dieses Prozesses institutionalisiert und fest in den Alltag der Hilfeerbringung eingebunden. Dadurch tauchen im Bericht Inhalte auf, die sich mit dem Erleben der HilfeempfängerInnen decken. Dies erfordert die Bereitschaft von allen im Hilfe-Dreieck beteiligten Personen, die Hilfe von den Hilfeempfangenden aus zu denken. Egal, ob es ein alleinerziehender Vater, ein Jugendlicher oder ein Kind ist. Dies beginnt übrigens mit der Sprache: Ist der Bericht für die Hilfeplanung so geschrieben, dass die HilfeempfängerInnen ihn verstehen, und sind die Bewertungen der Fachkräfte nachvollziehbar? Ein weiteres relevantes Thema in diesem Zusammenhang sind die sog. „SMART“-Ziele. Hier werden das „A“ und das „R“ häufig vergessen; nicht nur spezifisch, messbar und terminiert sollten die Ziele sein, sondern auch akzeptiert und realistisch, und zwar aus Sicht derjenigen, die die Hilfe erhalten. Wie realistisch ist ein täglicher Schulbesuch für Jugendliche, die die Schule Monate lang nicht gesehen haben? Wie realistisch ist es, seine Impulsdurchbrüche merklich zu reduzieren, wenn das erlebte Trauma noch nicht ansatzweise bearbeitet ist? Wie attraktiv ist es für eine 14-Jährige, morgens um 6: 30 Uhr selbstständig aufzustehen und ihr Zimmer regelmäßig aufzuräumen? Unsere Vorstellungen davon, wie z. B. eine Jugendliche zu leben hat, decken sich nicht immer zu 100 % mit den Vorstellungen der Jugendlichen selbst. Dies gilt es einzubeziehen und uns nicht ständig selbst zum Maßstab zu erheben. Häufig ergeben sich auch Lücken, weil sich niemand zuständig fühlt. In einer gut geführten Wohngruppe kommen die Jugendlichen gut vorbereitet zum Gespräch. Wenn es jedoch keinen eigenen Auftrag oder keine Ressourcen gibt, mit den Eltern zu arbeiten (was für sich genommen schon schwierig ist), stellt sich die Frage, wer eigentlich die Eltern vorbereitet. Die Rolle der Jugendämter ist in diesen Prozessen immens wichtig. Einerseits ist es auch pädagogisch für den Hilfeprozess hilfreich, dass im „Außen“ noch jemand ist, demgegenüber man rechenschaftspflichtig ist. Sowohl für die Einrichtung, die die Hilfe auftragsgemäß erbringt, als auch für die HilfeempfängerInnen, die die Chance haben, ihre Mitwirkung darzustellen. Diese Bereitschaft, sich unverstellt zu öffnen, setzt wiederum ein Klima des Vertrauens voraus. Allzu häufige personelle Wechsel bei den öffentlichen Trägern sind hier nicht hilfreich. Sollten diese nicht vermeidbar sein, dann wäre zumindest darauf zu achten, dass „der/ die Neue“ vom Jugendamt sich nicht erst im Hilfeplangespräch vorstellt. 364 uj 9 | 2021 Kritische Betrachtung der Hilfeplanungspraxis Das leitet über zum eigentlichen HPG. Wer nimmt dort eigentlich teil? Ist das Gespräch so gestaltet, dass es einem/ einer Jugendlichen, einem Kind, einem verunsicherten Elternteil leicht fällt, sich dort zu öffnen? Hier lohnt wieder ein Perspektivwechsel. Die Eltern unter uns, auch noch so qualifizierte Fachleute, erleben sich doch immer wieder selbst als nicht wirksam. Jede Person, die ein Kind erzieht, hat schon Ohnmachtserfahrungen gemacht. Nun stellen Sie sich vor, Sie würden genau dazu befragt; Sie müssten über Ihre schwächsten Momente offen und ehrlich sprechen mit Menschen, die Sie entweder nicht gut oder - im schlimmsten Fall - gar nicht kennen. Stellen Sie sich nun vor, Ihre Kinder würden in Ihrem Beisein zur Entwicklung Ihrer „Erziehungsfähigkeit“ befragt. Ich sage hier nicht, dass nicht genau das manchmal dringend notwendig und geboten ist. Es sollte uns allerdings stets klar sein, was wir Menschen hier abverlangen. Dabei dürfen wir uns einige Fragen stellen: Ist es wirklich notwendig, dass alle Erwachsenen im Raum sind, wenn bspw. eine Zwölfjährige über die Schwierigkeiten berichtet, die sie im Alltag erlebt? Wer unterstützt dieses Kind in diesem Prozess, wen erlebt sie als Unterstützung? Wird das Gespräch so moderiert, dass die Hilfeempfängerin sich abgeholt fühlt und dass es ihr leicht fällt, sich einzubringen? Ist eigentlich die Teilnahme eines/ einer VertreterIn der wirtschaftlichen Jugendhilfe (wie es in manchen Teilen der Republik immer häufiger geschieht) wirklich für den Hilfeprozess förderlich oder eher für die Kämmerin? Ganz schwierig wird es, wenn von den KollegInnen des Jugendamtes eine demutsvolle Dankbarkeit der HilfeempfängerInnen erwartet wird. Nach dem Motto: „Deine Hilfe kostet viel Geld. Du kannst schon froh und auch ein wenig dankbar sein, dass du trotz leerer Kassen in den Genuss dieser Hilfe kommst.“ Um es klar zu sagen: Es gibt einen Rechtsanspruch auf die Hilfen zur Erziehung und das ist auch gut so. Die Hilfeerbringung zu gewährleisten, ist eine Verpflichtung der öffentlichen Hand. Sie zu erbringen, ist eine Pflichtaufgabe, die ein freier Träger für die Gesellschaft erbringt. Die HilfeempfängerInnen haben daran aktiv nach ihren Möglichkeiten mitzuwirken. Kein Kind, keine Jugendlichen, keine Familie muss dafür dankbar sein. Haben Jugendliche die Möglichkeit, sich altersgemäß zu präsentieren, z. B. mit einem Videoschnipsel, einer Collage, Bildern o. Ä.? Wir müssen damit aufhören, dass HilfeempfängerInnen sich unseren Systemen anpassen. Die Systeme der Jugendhilfe müssen vielmehr anschlussfähiger an die Systeme der HilfeempfängerInnen werden. Das schafft Augenhöhe, Vertrauen und letztendlich auch Nachhaltigkeit im Hilfeverlauf. Es gilt für die freie und öffentliche Jugendhilfe, sich immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen. Als Vertreter eines freien Trägers war und ist mir das in meiner Berufspraxis ein stetiges Anliegen. Es ist gut, dass in unseren Einrichtungen ein „Wir wissen schon, was für dich gut ist.“ einem „Wir bemühen uns, dich in deinem Erleben zu verstehen, und gestalten Veränderungen mit dir gemeinsam.“ zunehmend weicht. Es ist gut, wenn einem institutionellen Machtgefälle begegnet wird mit einem aktiven und auf die HilfeempfängerInnen zugeschnittenen Beschwerdemanagement und mit einer im Alltag erlebten Partizipation. All dies muss weiterentwickelt und vor dem Hintergrund des „Kinder-und-Jugend-Stärkungsgesetzes“ teilweise ganz neu gedacht werden. Gerade aber die Planung und die aktive Beteiligung der HilfeempfängerInnen am Hilfeprozess ist ein Maßstab für den Grad der Demokratisierung unseres Hilfesystems. Carsten Schüler BDS Bergische Diakonie Sozialdienstleistungen gGmbH Erfurthweg 28 42489 Wülfrath E-Mail: carsten.schueler@bergische-diakonie.de
