eJournals unsere jugend 73/9

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2021.art61d
91
2021
739

Rechtsansprüche von Eltern und Kindern nach dem SGBVIII

91
2021
Reinhard Joachim Wabnitz
Der folgende Beitrag behandelt ein für die Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) sehr wichtiges Thema, nämlich das des Bestehens oder Nichtbestehens von Rechtsansprüchen, und zwar - hier - von Eltern und Kindern (umfassend zum Ganzen: Wabnitz 2005). Ausgeklammert werden Rechtsansprüche von Volljährigen sowie von Institutionen und Rechtsträgern. Auch auf die neuen Bestimmungen aufgrund des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) wird bereits hingewiesen. Im Folgenden zitierte Paragrafen sind solche des geltenden SGB VIII, soweit es sich nicht um andere Gesetze handelt.
4_073_2021_9_0008
386 unsere jugend, 73. Jg., S. 386 - 399 (2021) DOI 10.2378/ uj2021.art61d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Der folgende Beitrag behandelt ein für die Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGBVIII) sehr wichtigesThema, nämlich das des Bestehens oder Nichtbestehens von Rechtsansprüchen, und zwar − hier − von Eltern und Kindern (umfassend zum Ganzen: Wabnitz 2005). Ausgeklammert werden Rechtsansprüche von Volljährigen sowie von Institutionen und Rechtsträgern. Auch auf die neuen Bestimmungen aufgrund des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) wird bereits hingewiesen. Im Folgenden zitierte Paragrafen sind solche des geltenden SGB VIII, soweit es sich nicht um andere Gesetze handelt. Rechtsansprüche von Eltern und Kindern nach dem SGB VIII von Prof. Dr. jur. Dr. phil. Reinhard Joachim Wabnitz Assessor jur., Magister rer. publ., Ministerialdirektor a. D.; bis 1998 Leiter der Abteilung Kinder und Jugend im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; seit 2000 Professor für Rechtswissenschaft, insbesondere Kinder- und Jugendhilferecht und Familienrecht an der Hochschule RheinMain, Fachbereich Sozialwesen, Wiesbaden; 2010 bis 2013 Vorsitzender der unabhängigen Sachverständigenkommission für den 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung; 2016 bis 2019 Präsident der Hessischen Krankenhausgesellschaft; Autor von über 450 wissenschaftlichen Abhandlungen und Fachveröffentlichungen, darunter 47 Buchpublikationen, und zahlreichen Rechtsgutachten 1. Objektive Rechtsverpflichtungen und subjektive Rechtsansprüche nach dem SGB VIII Objektive Rechtsverpflichtungen stellen gleichsam staatsinterne Verpflichtungen („Perspektive des Staates“) dar − zumeist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die jedoch vonseiten der BürgerInnen grundsätzlich nicht eingeklagt werden können. Demgegenüber können die BürgerInnen subjektive Rechtsansprüche, etwa auf eine Leistung nach dem SGB VIII, einklagen („Perspektive der BürgerInnen“) und damit ggf. vor den Verwaltungsgerichten gegenüber den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe durchsetzen (Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, vor Kap. 2 Rz. 4ff, 7ff; Schellhorn et al. 2017, Einführung Rz. 42ff; Wiesner 2015, vor §§ 11ff Rz. 6ff ). Dies entspricht der Legaldefinition des „Anspruchs“ in § 194 Abs. 1 BGB als „Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen“. In Gesetzen ist zumeist in diesem Sinne von „Anspruch“ die Rede. „Rechtsanspruch“ meint dasselbe und ist in der Kinder- und Jugend- 387 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern hilfe der wohl überwiegend verwendete Begriff. Dort, wo Rechtsansprüche bestehen, richten sich die Träger der öffentlichen Jugendhilfe in der Regel darauf ein und schaffen die erforderlichen finanziellen und infrastrukturellen Voraussetzungen dafür, dass entsprechende Leistungen erbracht werden (können), etwa im Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder und der Kindertagespflege oder der Hilfe zur Erziehung. Dort jedoch, wo lediglich objektive Rechtsverpflichtungen bestehen, etwa im Bereich der (Kinderund) Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit, des Erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes oder teilweise der Familienförderung, stagnieren demgegenüber Angebote, sind prozentual, bezogen auf die Gesamtausgaben der Kinder- und Jugendhilfe, sogar rückläufig oder jedenfalls vielfach nicht ausreichend. Deshalb ist es für Kinder, Jugendliche und deren Eltern vorzugswürdig, wenn Rechtsnormen des SGB VIII (einklagbare) Rechtsansprüche beinhalten. Welche Arten von objektiven Rechtsverpflichtungen (der Träger der öffentlichen Jugendhilfe) und von subjektiven Rechtsansprüchen (von BürgerInnen und Trägern der freien Jugendhilfe) gibt es? Es gibt einerseits objektive Rechtsverpflichtungen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe („Perspektive des Staates“) in Form von 1.1 Muss-Bestimmungen („muss“, „hat“, „ist“, „sind“), z. B. § 11 Abs. 1, 1.2 Soll-Bestimmungen („soll“ = in der Regel „muss“), z. B. § 13 Abs. 1, 1.3 Kann-Bestimmungen („kann“, „können“ = Ermessen), z. B. § 13 Abs. 3. Und es gibt andererseits subjektive, einklagbare Rechtsansprüche von jungen Menschen/ Personensorgeberechtigten („Perspektive der BürgerInnen“) in Form von 2.1 unbedingten Rechtsansprüchen, z. B. gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1; die entsprechenden Leistungen sind „ohne Wenn und Aber“ zu erbringen; 2.2 Regel-Rechtsansprüchen, z. B. nach § 19 Abs. 1 Satz 1; diese korrespondieren mit den Sollbestimmungen auf der objektivrechtlichen Seite, bestehen also in der Regel, aber nicht ausnahmslos; 2.3 Rechtsansprüchen auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über „Kann“-Leistungen, z. B. gemäß § 13 Abs. 3. Über die Leistungsgewährung entscheidet der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach seinem Ermessen. Bietet er allerdings entsprechende Leistungen an, muss er willkürfrei über deren Vergabe entscheiden. Insoweit besteht ein Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I. Rechtsansprüche nach dem SGB VIII ergeben sich (dazu ausführlicher Wabnitz 2020, Kap. 3.2; Wabnitz 2005, 119ff; Wabnitz in Wabnitz/ Fieseler/ Schleicher 2018, § 2 Rz. 19f; vgl. auch juris PK-SGB VIII/ Luthe 2014/ 2018, § 2 Rz. 23ff ): 1. entweder explizit aus dem Text der jeweiligen Norm des SGB VIII („hat/ haben Anspruch“) 2. oder ggf. aufgrund einer Interpretation (Auslegung) der jeweiligen Norm nach den in der Rechtswissenschaft üblichen Auslegungsmethoden (nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Ziel/ Zweck und/ oder Systematik der Norm) sowie unter Beachtung der Grundrechte und Wertentscheidungen des Grundgesetzes. 2. Explizite Rechtsansprüche nach dem SGB VIII („Anspruch“) Explizite Rechtsansprüche („Anspruch“) sind in einer Reihe von Einzelnormen des SGB VIII enthalten (dazu Wabnitz 2005, insb. 106 - 121; Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, vor Kap. 2 Rz. 4ff; 388 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern Wiesner 2015, vor § 11ff Rz. 7ff ). Mit dem Inkrafttreten des KJHG/ SGB VIII 1990/ 1991 gab (und gibt) es die folgenden zehn expliziten (Rechts-)Ansprüche gemäß ➤ § 18 Abs. 1, § 18 Abs. 2, § 18 Abs. 3, § 18 Abs. 4 (auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge), ➤ § 21 Abs. 1 Satz 1 (auf Beratung und Unterstützung bei notwendiger Unterbringung zur Erfüllung der Schulpflicht; in den neuen Bundesländern ab dem 1. 1. 1995), ➤ § 23 Abs. 2 Satz 2 (auf Beratung in Fragen der Kindertagespflege), ➤ § 27 Abs. 1 (auf Hilfe zur Erziehung), ➤ § 37 Abs. 2 Satz 1 (auf Beratung und Unterstützung bei Vollzeitpflege), ➤ § 53 Abs. 2 (von PflegerInnen und Vormündern auf Beratung und Unterstützung) sowie ➤ § 75 Abs. 2 (von Trägern der freien Jugendhilfe nach drei Jahren auf Anerkennung). Weitere zehn explizite Ansprüche sind seit 1993 hingekommen, und zwar gemäß ➤ § 35 a (von seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen auf Eingliederungshilfe; mit Wirkung vom 1. 4. 1993), ➤ § 24 Abs. 1 Satz 1 (von Kindern ab dem vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt auf den Besuch einer Tageseinrichtung; mit Wirkung zunächst vom 1. 1. 1996, sodann verschoben auf den 1. 1. 1999); jetzt: § 24 Abs. 3 Satz 1 ➤ § 17 Abs. 1 (auf Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung; ab 1. 7. 1998), ➤ § 18 Abs. 3 Satz 1 (von Kindern und Jugendlichen auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts; ebenfalls ab 1. 7. 1998), ➤ § 6 Abs. 1 Satz 3 (auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts; ab 1. 10. 2005), ➤ § 23 Abs. 2 Abs. 4 Satz 1 (auf Beratung in Fragen der Kindertagespflege), ➤ § 43 Abs. 4 (auf Beratung in Fragen der Kindertagespflege unabhängig vom Beratungsanspruch nach § 23 Abs. 4 Satz 1; ab 16. 12. 2008), ➤ § 8 Abs. 3 (auf Beratung von Kindern und Jugendlichen in Not- und Konfliktlagen; ab 1. 1. 2012) sowie ➤ § 8 b Abs. 1 und 2 (jeweils mit Blick auf Fragen des Schutzes von Kindern und Jugendlichen: auf Beratung von Personen, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen sowie von Trägern von Einrichtungen; jeweils ab 1. 1. 2012). ➤ § 24 Abs. 2 (ab dem 1. 8. 2013 von Kindern ab Vollendung des ersten bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege). Aufgrund des KJSG sind weitere explizite Ansprüche hinzugekommen: ➤ § 10 b Abs. 1 Satz 1 (Verfahrenslotse − ab 2024) ➤ § 20 Abs. 1 (Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen) ➤ § 37 Abs. 1 (Beratung und Unterstützung der Eltern, Zusammenarbeit bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie) ➤ § 37 a Satz 1 (Beratung und Unterstützung der Pflegeperson). Damit wird die Zahl der expliziten Rechtsansprüche im SGB VIII („Anspruch“) seit 1990/ 1991 von zehn auf 25 anwachsen, wenn man auch den für die Zeit ab 2026 geplanten Rechtsanspruch von Schulkindern auf Ganztagsbetreuung mitzählt. Aber auch Erreichtes kann immer wieder gefährdet sein, wie z. B. eine im Jahre 2011 intensiv geführte Diskussion über eine eventuelle Abschaffung oder Relativierung des Rechtsanspruchs auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 Abs. 1 SGB VIII plastisch vor Augen geführt hat (siehe dazu Münder/ Wabnitz/ Wiesner/ Hammer in Neue Praxis 5/ 2011, 456, 461, 463, 468; Der Paritätische Gesamtverband 2011; Pörksen 2011, 10, 13). 389 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern 3. Rechtsansprüche aufgrund einer Interpretation einer (rein) objektiv-rechtlich formulierten Norm des SGB VIII Nicht selten kann über die im SGB VIII verankerten expliziten Ansprüche hinaus eine Interpretation (Auslegung) von Normen des SGB VIII ergeben, dass mit einer objektiven Rechtsverpflichtung auch dann ein subjektiver Rechtsanspruch korrespondiert, wenn dies nicht ausdrücklich im Gesetzestext zum Ausdruck gebracht worden ist (Wabnitz 2005, insb. 106ff; Wabnitz 2020, Kap. 3.2). Für den Fall, dass die jeweilige Norm des SGB VIII nicht eindeutig ist − anders als in § 24, wo der Gesetzgeber klar entschieden hat, ab wann welche Ansprüche bestehen oder nicht, gelten für die Begründung von Rechtsansprüchen durch Auslegung einer Norm des SGB VIII die folgenden Grundsätze. Ein Rechtsanspruch aufgrund einer Interpretation einer (insoweit nicht eindeutigen Norm) des SGB VIII besteht dann, wenn die folgenden vier Voraussetzungen erfüllt sind (Wabnitz a. a. O.; andere Autorinnen und Autoren gelangen hier zu ganz ähnlichen Ergebnissen und Begründungen, vgl. Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, vor Kap. 2 Rz. 6 bis 8): ➤ Die jeweilige Norm muss eine objektive Rechtsverpflichtung eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe enthalten. (Dies ist bei über 200 Vorschriften des SGB VIII der Fall; nicht zum Beispiel jedoch bei reinen Definitionen wie in den §§ 2 oder 7). ➤ Der Tatbestand dieser Norm muss hinreichend präzise bestimmt sein (wie z. B. bei § 20 oder § 42 Abs. 1 Satz 1, nicht jedoch bei § 11 Abs. 1 oder § 16 Abs. 1 und 3). ➤ Die Norm soll nicht nur öffentlichen Interessen, sondern zumindest auch den Interessen von jungen Menschen und/ oder Personensorgeberechtigten zu dienen bestimmt sein. (Dies dürfte zumeist der Fall sein, nicht jedoch etwa bei den §§ 79 oder 80). ➤ Die NormadressatInnen müssen schließlich individualisierbar oder zumindest als „kleine Gruppe abgrenzbar“ sein (z. B. bei § 41). Die jeweilige Norm darf sich also z. B. nicht (nur) an „junge Menschen“ richten (wie in § 11 Abs. 1). Diese vier Voraussetzungen sind häufig erfüllt. Das quantitative Gesamtergebnis einer Untersuchung aus dem Jahre 2004 (Wabnitz 2005) ist − gemessen am Wortlaut der zahlreichen Einzelbestimmungen des SGB VIII − geradezu verblüffend: danach korrespondierten (bereits bis zum Jahre 2004) m. E. mit etwa der Hälfte aller objektiv-rechtlichen Verpflichtungen der Träger der öffentlichen (Kinderund) Jugendhilfe auch subjektive Rechtsansprüche aufgrund einer Interpretation (Auslegung) der jeweiligen Muss-, Soll- oder Kann-Bestimmungen und zwar in Form von ➤ unbedingten Rechtsansprüchen, ➤ solchen dem Grunde nach, ➤ Regel-Rechtsansprüchen in Korrespondenz zu Soll-Vorschriften (gleich „Regel-Muss“) sowie von ➤ Rechtsansprüchen auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (bei Kann-Bestimmungen). Dabei war und ist manches umstritten, vieles aber auch unstreitig, z. B. u. a. mit Blick auf die folgenden Paragrafen des SGB VIII: 39, 40, 41, 42, 42 a, 43, 44, 45, 61 bis 65, 71 (teilweise), 78 b Abs. 1, 89 bis 89 e, 92 bis 94 (teilweise). 4. Rechtsansprüche im Bereich der Allgemeinen Vorschriften des SGB VIII 4.1 Recht auf Erziehung (§ 1) Der erste Satz des Gesetzestextes des SGB VIII lautet: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erzie- 390 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern hung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs. 1). Beinhaltet dieser Satz auch einen einklagbaren Rechtsanspruch eines jeden jungen Menschen? Dies wird fast durchgängig verneint (Wabnitz 2005, 124 - 128; Jans et al. seit 1991, § 1 Rz. 17; Mainberger in Hauck/ Stähr (zitiert nach Stand: 1995), § 1 Rz. 11; jurisPK-SGB VIII/ Luthe 2014/ 2018, § 1 Rz. 80; Krug/ Riehle 2011, § 1 II.; Kunkel/ Kepert in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 1 Rz. 5; Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 1 Rz. 4; Kern in Schellhorn et al. 2017, § 1 Rz. 4; Wiesner 2015, § 1 Rz. 11; a. A. wohl nur Fieseler in Wabnitz/ Fieseler/ Schleicher 2016, § 1 Rz. 5ff sowie in Möller 2020, § 1 Rz. 1, 2). Denn man kann m. E. bereits bestreiten, dass dieser Satz eine objektiv-rechtliche Verpflichtung (von wem auch? ) enthält. In jedem Fall fehlt § 1 Abs. 1 jegliche juristisch zu fordernde Konkretheit, die ein Rechtssatz haben muss, um aus ihm einen materiell und prozessual praktikablen Anspruch herleiten zu können. Die Vorschrift beschreibt das genannte „Recht“ jedes jungen Menschen nur ganz allgemein, ohne dass sich daraus konkrete Handlungspflichten ableiten lassen. Damit fehlen der Norm bereits in hinreichendem Umfang anspruchsbegründende Tatbestandsvoraussetzungen. Was bedeutet § 1 Abs. 1 aber dann? Münder/ Meysen/ Trenczek (a. a. O.) sehen in § 1 Abs. 1 eine „zentrale Auslegungsrichtlinie“ verbunden mit einem Appellcharakter; Luthe (a. a. O.) eine „Leitvorstellung des Gesetzes“; Wiesner (a. a. O.) einen „programmatischen Charakter der Vorschrift“. Meines Erachtens kann man in der Norm auch ein (nicht einklagbares) „Soziales Recht“ im Sinne der §§ 1 und 8 SGB I (Allgemeiner Teil) erblicken. 4.2 Wunsch- und Wahlrecht (§ 5) Anders ist dies m. E. bei § 5 Abs. 1 Satz 1: „Die Leistungsberechtigten haben das Recht, zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zu äußern.“ Dies beinhaltet eine klare objektiv-rechtliche Muss- Verpflichtung der sachlich zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 85 Abs. 1. Die Norm ist hinreichend präzise formuliert; die Leistungsberechtigten ergeben sich aus den §§ 11 bis 41. Die Norm dient dem Interesse der Leistungsberechtigten, die auf der Grundlage der §§ 11 bis 41 überwiegend auch individualisierbar sind. Mit § 5 Abs. 1 Satz 1 korrespondiert deshalb meines Erachtens ein subjektiver Rechtsanspruch aufgrund einer Interpretation der genannten Vorschrift (Wabnitz 2005, 136f; jurisPK-SGB VIII/ Luthe 2014/ 2018, § 5 Rz. 22; Kern in Schellhorn et al. 2017, § 5 Rz. 8; Wiesner 2015, § 5 Rz. 7); mit der Hinweispflicht nach § 5 Abs. 1 Satz 2 jedoch nicht (Wabnitz 2005, 138; Kern in Schellhorn et al. 2017, § 5 Rz. 19; Wiesner 2015, § 5 Rz. 11 b). Mit § 5 Abs. 2 Satz 1 und 2 korrespondieren m. E. (Regel-) Rechtsansprüche (Wabnitz 2005, 137f; Münder-Beckmann in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 5 Rz. 26). 4.3 Beteiligung von Kindern und Jugendlichen (§ 8) Gemäß § 8 Abs. 1 „sind“ Kinder und Jugendliche „entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. Sie sind in geeigneter Weise auf ihre Rechte im Verwaltungsverfahren sowie im Verfahren vor dem Familiengericht und dem Verwaltungsgericht hinzuweisen.“. Auch hier handelt es sich um objektiv-rechtliche Muss-Verpflichtungen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Die Vorschriften sind so präzise formuliert, dass man daraus die Voraussetzungen und Rechtsfolgen unschwer entnehmen kann; sie dienen dem Interesse der jeweiligen Kinder und Jugendlichen, die wiederum unschwer individualisierbar sind. Von daher korrespondieren meines Erachtens auch hiermit subjektive Rechts- 391 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern ansprüche aufgrund einer Interpretation der genannten Normen (Wabnitz 2005, 139f; Jans et al. 2008, § 8 Rz. 11; Kunkel/ Kepert in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 8 Rz. 4, 18; Meysen in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 8 Rz. 3; Wiesner 2015, § 8 Rz. 4; a. A. Kern in Schellhorn et al. 2017, § 8 Rz. 11; unklar Schürmann in Möller 2020, § 8 Rz. 10). Entsprechendes gilt m. E. auch für das Recht von Kindern und Jugendlichen nach § 8 Abs. 2, „sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung an das Jugendamt zu wenden“ (Wabnitz 2005, 140f; Jans et al. 2008, § 8 Rz. 39; Meysen in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 8 Rz. 8; Kern in Schellhorn et al. 2017, § 8 Rz. 16). § 8 Abs. 3 beinhaltet einen expliziten „Anspruch (von Kindern und Jugendlichen) auf Beratung ohne Kenntnis der Personensorgeberechtigten“. 4.4 Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (§ 8 a) In § 8 a Abs. 1 bis 5 werden dem Jugendamt in Konkretisierung von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG (Staatliches Wächteramt) umfangreiche Verpflichtungen bei Kindeswohlgefährdung auferlegt. Dies sind objektiv-rechtliche Verpflichtungen („Schutzauftrag“), bei deren Wahrnehmung dem Jugendamt ein Beurteilungsspielraum eingeräumt wird (Grühn in Wabnitz/ Fieseler/ Schleicher 2020, § 8 a Rz. 35; Meysen in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 8 a Rz. 37; Wiesner 2015, § 8 a Rz. 37). NormadressatInnen sind jedoch nicht Kinder, Jugendliche oder deren Personensorgeberechtigte, sodass mit § 8 a keine subjektiven Rechtsansprüche einzelner Personen korrespondieren (so auch Wiesner 2015, § 8 a Rz. 4; Schellhorn et al. 2017, § 8 a Rz. 2: „Verfahrensregelungen“; Münder / Meysen / Trenczek a. a. O. Rz. 2: „Verfahrensvorschrift“; jurisPK-SGB VIII/ Kößler 2014/ 2018, § 8 a Rz. 10: „zentrale Verfahrensvorschrift sowie eigene Aufgaben“). 5. Rechtsansprüche im Bereich der Förderung der Erziehung in der Familie 5.1 Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie (§ 16) Gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 sollen „Müttern, Vätern, anderen Erziehungsberechtigten und jungen Menschen Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie angeboten werden“, ergänzt um stichwortartige Umschreibungen der Familienbildung, -beratung und -erholung gemäß Abs. 2. Und gemäß § 16 Abs. 3 sollen „Müttern und Vätern sowie schwangeren Frauen und werdenden Vätern Beratung und Hilfe in Fragen der Partnerschaft und des Aufbaus elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen angeboten werden“. Explizite Ansprüche enthalten diese Normtexte nicht. Korrespondieren mit ihnen Rechtsansprüche aufgrund einer Interpretation der genannten Vorschriften? Dies wird − soweit ersichtlich − durchweg verneint (Wabnitz 2005, 157f; jurisPK-SGB VIII/ Sünderhauf 2014/ 2018, § 16 Rz. 25; Krug/ Riehle 2011, § 16 II.; Kunkel/ Pattar in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 16 Rz. 43, 18; Tammen in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 16 Rz. 4; Fischer in Schellhorn et al. 2017, § 16 Rz. 23). Zwar enthalten die genannten Vorschriften „Soll“-Verpflichtungen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe und die Normen dienen erkennbar den Interessen der angesprochenen AdressatInnenkreise. Diese sind jedoch weder individualisierbar noch enthalten die genannten Normen Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen mit Blick auf konkrete Leistungen. Beispiel: Hannah und Karl erwarten ein Kind und wünschen sich Beratung und Hilfe in Fragen des Aufbaus elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen. Sie wenden sich deshalb an das Jugendamt. Dieses ist aus personellen Gründen derzeit nicht dazu in der Lage, 392 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern ein entsprechendes Angebot gemäß § 16 Abs. 3 SGB VIII zu unterbreiten. Könnten die werdenden Eltern ein solches einklagen? Leider nein, da es keinen Anspruch auf eine solche Leistung gibt. 5.2 Beratung und Unterstützung; Betreuung in Notsituationen (§§ 17, 18, 20) § 17 beinhaltet einen expliziten „Anspruch“ auf Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung. Und in § 18 sind sogar fünf explizite Ansprüche auf Beratung und Unterstützung bei der Erlangung und Ausübung der Personensorge und des Umgangsrechts sowie bei der Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen etc. enthalten; seit Inkrafttreten des KJSG ebenso in § 20 Abs. 1 (Betreuung des Kindes in Notsituationen). 5.3 Gemeinsame Wohnformen für Mütter/ Väter und Kinder (§ 19) Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 „sollen“ Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, bei Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut worden. Damit korrespondiert meines Erachtens auch ein subjektiver (Regel-)Rechtsanspruch aufgrund einer Interpretation dieser Rechtsnorm (Wabnitz 2005, 164f; so auch: jurisPK-SGB VIII/ Sünderhauf 2014/ 2018, § 19 Rz. 41; Krug/ Riehle 2011, § 1 II. 2.1; Kunkel/ Kepert in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 19 Rz. 7, 18; Möller in Möller 2020, § 19 Rz. 5; Schleicher in Wabnitz/ Fieseler/ Schleicher 2015, § 19 Rz. 27; Fischer in Schellhorn et al. 2017, § 19 Rz. 13; a. A. Jans et al. 2006, § 19 Rz. 6: nur: „gebundenes Ermessen“; Struck in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 19 Rz. 1: nur „Soll-Leistung“). Denn § 19 Abs. 1 Satz 1 enthält eine klare objektiv-rechtliche Verpflichtung („soll“). Der Tatbestand von § 19 Abs. 1 Satz 1 enthält zwar (wie auch andere Regelungen im SGB VIII) unbestimmte Rechtsbegriffe („wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen“). Diese unbestimmten Rechtsbegriffe sind jedoch im konkreten Anwendungsfall hinreichend konkretisierbar. Die genannte Norm ist deshalb als tatbestandlich hinreichend präzise formuliert anzusehen. § 19 Abs. 1 Satz 1 dient nicht nur öffentlichen Interessen, sondern erkennbar gerade denen von Alleinerziehenden und ihren Kindern. Und die AdressatInnen der genannten Norm sind auch unproblematisch individualisierbar (hier: die jeweilige Mutter mit ihrem Kind nach der Geburt). Beispiel: Die 18-jährige Sabine hat ein Kind zur Welt gebracht. Allerdings ist sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung noch nicht dazu in der Lage, allein für ihr Kind und sich zu sorgen. Sie beantragt deshalb beim Jugendamt eine Leistung nach § 19 (Gemeinsame Wohnformen für Mütter/ Väter und Kinder). Könnte sie diese Leistung mit Aussicht auf Erfolg einklagen? Dies ist zwar strittig, wird aber überwiegend bejaht. Man kann deshalb Sabine raten, im Falle einer Ablehnung durch das Jugendamt und nach erfolglosem Widerspruchsverfahren eine entsprechende verwaltungsgerichtliche Klage anzustrengen. 5.4 Unterstützung bei notwendiger Unterbringung zur Erfüllung der Schulpflicht (§ 21) In § 21 hat der Gesetzgeber klare Regelungen getroffen: „Anspruch“ auf Beratung und Unterstützung bei notwendiger Unterbringung zur Erfüllung der Schulpflicht (Satz 1); und „Kann“- Leistungen nach den Sätzen 2 und 3 betreffend 393 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern der Übernahme von Kosten der Unterbringung etc. und der Gewährung von Leistungen ggf. auch über das schulpflichtige Alter hinaus. Darüber entscheidet der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach Ermessen; insoweit besteht nur ein Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I. 6. Rechtsansprüche im Bereich der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege In diesem mit Abstand größten Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe hat der Gesetzgeber sehr klar entschieden, mit Blick auf welche Leistungen und ab wann Rechtsansprüche („Anspruch“) und wo lediglich objektiv-rechtliche Verpflichtungen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe bestehen, in bedarfsgerechtem Umfang die Zurverfügungstellung entsprechender Angebote zu gewährleisten, oder wo es sich lediglich um „Kann“-Bestimmungen mit Leistungen nach Ermessen handelt. Deshalb ist es hier nicht möglich, sich im Wege der Interpretation über diese im Laufe der letzten 30 Jahre immer wieder neu bedachten und konkret getroffenen Entscheidungen des Gesetzgebers hinwegzusetzen. Im Bereich der Tageseinrichtungen gibt es derzeit gemäß § 24 nur die beiden folgenden expliziten Ansprüche: ➤ seit dem 1. 8. 2013 (dazu Wabnitz 2015, 155ff ) für Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres auf Förderung in einer Tageseinrichtung gemäß Abs. 2 Satz 1 − je nach dem individuellen Bedarf gemäß Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 3; ➤ seit dem 1. 1. 1999 (dazu Wabnitz 2015, 59ff, 79ff ) für Kinder, die das dritte Lebensjahr vollendet haben, bis zum Schuleintritt auf Förderung in einer Einrichtung (in einem nicht näher definierten zeitlichen Umfang) gemäß Abs. 3 Satz 1 (früher: § 24 Abs. 1). Im Bereich der Kindertagespflege gibt es gemäß § 24 Abs. 2 einen expliziten Anspruch für Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres je nach dem individuellen Bedarf; sowie gemäß § 23 Abs. 4 Satz 1 einen solchen der Erziehungsberechtigten und Tagespflegepersonen auf Beratung. Beispiel: Der zweijährige Max besucht ganztags eine Krippe. Er wird jetzt drei Jahre alt, und seine berufstätigen Eltern wünschen nunmehr eine Ganztagsbetreuung in einem Kindergarten. Das Jugendamt offeriert allerdings nur ein Halbtagsangebot. Hätte eine Klage von Max, vertreten durch seine Eltern, auf ein Ganztagsangebot in einem Kindergarten Aussicht auf Erfolg? Leider nein, denn gemäß § 24 Abs. 3 Satz 2 besteht nur eine objektiv-rechtliche Verpflichtung des Jugendamtes, dafür zu sorgen, dass Angebote an Ganztagsplätzen zur Verfügung stehen. Über diese klare Regelung des Gesetzgebers kann man sich auch nicht durch eine Interpretation der genannten Vorschrift hinwegsetzen. (Hinweis: Es wirkt natürlich unlogisch, dass ein Anspruch eines zweijährigen, aber nicht eines dreijährigen Kindes auf eine Ganztagsbetreuung in einer Kindertagesstätte besteht. Dies liegt daran, dass der Anspruch für Kinder im Alter von einem Jahr bis unter drei Jahren nach § 24 Abs. 2 wesentlich später (mit Wirkung vom 1. August 2013) geschaffen wurde als die bereits 1999 in Kraft getretenen Regelungen in § 24 Abs. 3 betreffend Kinder im Alter von drei Jahren bis zum Schuleintritt. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, hier für Abhilfe zu sorgen.) Für die Zeit ab 2026 soll schrittweise ein expliziter Anspruch von Schulkindern auf Ganztagsbetreuung hinzukommen. 394 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern 7. Rechtsansprüche bei Hilfe zur Erziehung und bei sog. „verwandten Leistungen“ 7.1 Hilfe zur Erziehung (§§ 27 bis 35) § 27 Abs. 1 ist die Grundnorm für alle Hilfen zur Erziehung und zugleich Voraussetzung für alle Varianten der Hilfeerbringung, insbesondere nach den §§ 28 bis 35. Danach haben Personensorgeberechtigte unter den im Gesetz bezeichneten Voraussetzungen, insbesondere bei Vorliegen oder Drohen eines sog. Erziehungsdefizits bei einem individuellen Kind oder Jugendlichen, einen expliziten„Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung)“. Gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII in dieser seit 1990/ 1991 geltenden Fassung ist also der Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung allein den Personensorgeberechtigten zugeordnet worden, weil nur diese InhaberInnen des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und die nach §§ 1626ff BGB Personensorgeberechtigten sind (so bereits die Gesetzesbegründung zum KJHG/ SGBVIII − Bundestags-Drucksache 11/ 5948, Einzelbegründung zum damaligen § 26 Abs. 1 SGB VIII; ebenso u. a. Jans et al. 2006, § 27 Rz. 26; Schmid-Obkirchner in Wiesner 2015, § 27 Rz. 3 - 5). Neben anderen Autorinnen und Autoren (z. B. Münder 2000, 123, 125ff; Marquard 2005, 352, 357; Stähr in Hauck/ Stähr (zitiert nach Stand 1995), § 27 Rz. 16; kritisch auch Tammen/ Trenczek in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 27 Rz. 7) spreche ich mich demgegenüber seit vielen Jahren dafür aus (Wabnitz 2005, 195f; Wabnitz 2015, 399 - 401), den Rechtsanspruch den Kindern oder Jugendlichen selbst zuzuordnen. Diese müssten natürlich nach den §§ 1626ff BGB durch die personensorgeberechtigten Eltern vertreten werden, sodass diesen im Ergebnis keine Rechte verwehrt oder genommen würden. Aber die gesetzgeberische Entscheidung (Anspruch der Personensorgeberechtigten) ist eindeutig; daran soll auch nach dem vorliegenden KJSG-RegE 2020 nicht gerüttelt werden. Beispiel: Die 12-jährige Martina ist mit ihrer elterlichen Erziehung nicht mehr zufrieden und begehrt vom Jugendamt Begleitung und Unterstützung durch einen Erziehungsbeistand. Könnte sie eine solche Leistung nach § 30 einklagen? Nein, denn einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 Abs. 1 haben nach dieser eindeutigen gesetzlichen Regelung nur die Personensorgeberechtigten, nicht jedoch Kinder und Jugendliche. Gemäß § 27 Abs. 2 Satz 1 wird Hilfe zur Erziehung „insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt“. Bei all diesen gesetzlich umschriebenen Regeltypen der Hilfe zur Erziehung − von Erziehungsberatung (§ 28) bis zur vollstationären Heimerziehung (§ 34), auch bei den sog. „unbenannten Hilfearten“ − ist jedoch immer Voraussetzung, dass gemäß § 27 Abs. 1 ein Erziehungsdefizit bei einem einzelnen Kind oder Jugendlichen besteht (oder konkret droht) und dass die dann jeweils ausgewählte Hilfeart „geeignet und notwendig“ ist. Ist dies der Fall, so hat die/ der Personensorgeberechtigte auch einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 Abs. 1 i.V. m. z. B. § 28 oder § 34 usw. (vgl. Wabnitz 2020, Kap. 7.1). 7.2 Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung (§ 35 a) Gemäß § 35 a Abs. 1 Satz 1 haben Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung (hier: selbst! ) bei Vorliegen der dort bezeichneten Voraussetzungen einen expliziten Anspruch auf Eingliederungshilfe. 7.3 Leistungen zum Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen und Krankenhilfe (§ 39 Abs. 1, 40) „Wird Hilfe nach den §§ 32 bis 35 oder nach § 35 a Abs. 2 Nr. 2 bis 4 gewährt, so ist auch der 395 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen.“ Mit dieser objektiv-rechtlich formulierten Muss-Bestimmung korrespondiert (nach offenbar einhelliger Auffassung) auch ein Rechtsanspruch aufgrund einer Interpretation der Vorschrift. Denn diese ist zwar knapp, aber denkbar präzise formuliert und dient den Interessen der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern, die wiederum unschwer individualisierbar sind. Beispiel: Für den 14-jährigen Martin ist Heimerziehung nach § 27 i. V. m. § 34 bewilligt worden, und zwar gemäß § 27 Abs. 3 Satz 1 in Form der Gewährung pädagogischer Leistungen. Hat Martin, vertreten durch seine Eltern, auch einen Anspruch auf die Gewährung der (wesentlich teureren) Leistungen zur Sicherstellung des notwendigen Unterhaltes? Ja, auch wenn § 39 Abs. 1 insoweit keinen expliziten Anspruch vorsieht. Strittig ist hier nur, ob der Anspruch den Eltern zuzuordnen ist − als „Annexleistung“ zum Anspruch der Eltern gemäß § 27 Abs. 1 auf Hilfe zur Erziehung (so die überwiegende Meinung: BVerwG FEVS 47, 433, 435; FamRZ 1997, 814; Fischer in Schellhorn et al. 2017, § 39 Rz. 10; Heuerding in Wabnitz/ Fieseler/ Schleicher 2015, § 39 Rz. 1; jurisPK-SGB VIII/ v. Koppenfeld-Spies 2014/ 2018, § 39 Rz. 10; Kunkel/ Pattar 2018, § 39 Rz. 9; Tammen in Münder / Meysen / Trenczek 2019, § 39 Rz. 4; Nix in Möller 2020, § 39 Rz. 2; Fischer in Schellhorn et al. 2017, § 39 Rz. 10; Schmid-Obkirchner in Wiesner 2015, § 39 Rz. 16) − oder dem Kind oder Jugendlichen selbst, vertreten durch die/ den Personensorgeberechtigten, da es hier nicht um Erziehung geht, sondern um den notwendigen Unterhalt (Wabnitz 2005, 212 - 214; Wabnitz 2020, Kap. 9.1.1; im Anschluss daran auch Krug/ Riehle 2015, § 39 Erl. IV.). Entsprechendes zum Rechtsanspruch gilt auch mit Blick auf § 40 (Krankenhilfe). 7.4 Mitwirkung, Hilfeplanung § 36 Abs. 1 lautet wie folgt: „Der Personensorgeberechtigte und das Kind oder der Jugendliche sind vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen. Es ist sicherzustellen, dass Beratung und Aufklärung nach Satz 1 in einer für den Personensorgeberechtigten und das Kind oder den Jugendlichen verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form erfolgen.“ Weitere Verfahrensvorschriften sind in § 36 Abs. 2 bis 5 enthalten. Auch mit Verfahrensvorschriften können sowohl explizite Ansprüche (der Eltern nach § 37 Abs. 1) als auch solche aufgrund einer Interpretation der jeweiligen objektiv-rechtlich formulierten Normen verbunden sein. Dies war bereits mit Blick auf § 36 Abs. 1 Sätze 1 bis 4 in der Fassung vor Inkrafttreten des KJSG der Fall (Wabnitz 2005, 208ff; Krug/ Riehle 2013, § 36 II.1.; Kunkel/ Kepert in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 36 Rz. 8, 26; Schönecker/ Meysen in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 36 Rz. 12; Schmid-Obkirchner in Wiesner 2015, § 36 Rz. 14; a. A. Fischer in Schellhorn et al. 2017 § 36 Rz. 8). Denn das Jugendamt wurde danach verpflichtet, in der genannten Weise vorzugehen. Die entsprechenden Normen sind präzise formuliert und dienen dem Interesse der betroffenen, unschwer zu individualisierenden jungen Menschen und Personensorgeberechtigten. Mit Blick auf § 36 Abs. 1 n. F. wird man dies genauso beurteilen müssen. Zum Hilfeplan nach § 36 Abs. 2 Satz 2, dem zentralen jugendamtsinternen Steuerungsinstrument, hieß es demgegenüber in der Begründung zum damaligen Gesetzentwurf der Bundesregierung (Bundestags-Drucksache 11/ 5948, 396 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern Einzelbegründung zu § 36 Abs. 2): „Der Hilfeplan dient in erster Linie als Instrument der Selbstkontrolle für das verantwortliche Jugendamt sowie als Koordinierungsinstrument zwischen dem Jugendamt und dem Träger der Einrichtung, der im Einzelfall tätig wird. Darüber hinaus bezieht er Vorstellungen, Annahmen und Erwartungen der Familien und Institutionen mit ein und macht diese transparent.“ Von daher beinhaltet § 36 Abs. 2 primär jugendamtsinterne Aufgaben und Funktionen und besteht insoweit im öffentlichen Interesse, nicht jedoch auch im subjektiven Interesse von Kindern/ Jugendlichen oder Personensorgeberechtigten. Rechtsansprüche korrespondieren damit nicht (Wabnitz 2005, 210; Krug/ Riehle 2016, § 36 a III.1.; im Ergebnis so auch: jurisPK-SGB VIII/ v. Koppenfeld-Spies 2014/ 2018, § 36 Rz. 37; Kunkel in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 36 Rz. 31; Schönecker/ Meysen in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 36 Rz. 34; Fischer in Schellhorn et al. 2017, § 37 Rz. 4; OVG Niedersachsen JAmt 2012, 271). Entsprechendes gilt mit Blick auf die neuen Verfahrensvorschriften nach den §§ 36 b ff, soweit dort nicht explizite Ansprüche verankert worden sind. 7.5 Steuerungsverantwortung, Selbstbeschaffung Wie verhält es sich mit Blick auf den im Jahre 2005 (dazu Wabnitz 2015, 146) in das SGB VIII eingefügten § 36 a (Steuerungsverantwortung, Selbstbeschreibung), wonach der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nur unter besonderen Voraussetzungen die Kosten der Hilfe trägt, die von anderer Seite initiiert worden sind? § 36 a Abs. 1 und 2 dienen allein öffentlichen Interessen bei der Wahrnehmung der Steuerungsverantwortung durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Gemäß § 36 a Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe allerdings gegenüber dem Leistungsberechtigten zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen betreffend die von ihm „selbst beschafften“ Hilfen (ausnahmsweise) verpflichtet, wenn die im Gesetz exakt bezeichneten Voraussetzungen erfüllt sind. Daraus ist zu folgern, dass mit dieser sehr präzise formulierten objektiv-rechtlichen Verpflichtung, die im Interesse der unschwer zu individualisierenden Leistungsberechtigten geschaffen worden ist, unter den genannten engen Voraussetzungen auch ein Rechtsanspruch auf Kostenübernahme aufgrund einer Interpretation von § 36 a Abs. 3 Satz 1 anzunehmen ist (so auch: jurisPK-SGB VIII/ v. Koppenfeld-Spies 2014/ 2018, § 36 a Rz. 29; Krug/ Riehle 2016, § 36 a III.1; Möller in Möller 2020, § 36 a Rz. 29; Jans et al. 2007, § 36 a Rz. 44: „Erstattungsanspruch“; wohl auch Kunkel/ Pattar in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 36 a Rz. 26f; Schönecker/ Meysen in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 36 a Rz. 55; Fischer in Schellhorn et al. 2017 § 36 a Rz. 32; Schmid-Obkirchner in Wiesner 2015, § 36 a Rz. 47). Beispiel: Die elfjährige seelisch behinderte Erna macht im Februar beim Jugendamt, vertreten durch ihre Eltern, einen Anspruch nach § 35 a (Anspruch des Kindes auf Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche) geltend. Sie begehrt die Bewilligung eines für sie hervorragend geeigneten und auch erforderlichen Platzes in der Schule für Erziehungshilfe in X, da die primär zuständige Schulverwaltung nicht in der Lage ist, ein solches Angebot zu unterbreiten. Das Jugendamt reagiert zunächst gar nicht und bearbeitet den Antrag dann so zögerlich, dass die Bewilligung der beantragten Leistung auch zu Beginn des neuen Schuljahres im August immer noch nicht absehbar ist. Daraufhin melden die Eltern Mitte Juli Erna in der in Rede stehenden Schule für Erziehungshilfe an und fordern das Jugendamt auf, die erforderlichen Aufwendungen zu übernehmen. Ist eine solche Form der „Selbstbeschaffung“ zulässig, und besteht 397 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern eine entsprechende Verpflichtung des Jugendamts? Ja. In einem solch eklatanten Fall von „Systemversagen“ liegen die Voraussetzungen des § 36 a Abs. 3 vor, und es besteht ein entsprechender Anspruch von Erna, vertreten durch ihre Eltern, wie er von den Verwaltungsgerichten in solchen Fällen auch wiederholt zugesprochen worden ist. 8. Rechtsansprüche im Bereich der „Anderen Aufgaben“ Die Frage: „Rechtsanspruch: ja oder nein? “ kann sich auch im Bereich der sog. „Anderen Aufgaben“ nach dem Dritten Kapitel des SGB VIII stellen. 8.1 (Vorläufige) Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen (§§ 42, 42 a) § 42 Abs. 1 Satz 1 lautet: „Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn 1. das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder 2. eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und … oder 3. ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorgenoch Erziehungsberechtigte im Inhalt aufhalten.“ Mit diesen knappen, aber sehr präzise formulierten Muss-Verpflichtungen des Jugendamtes, die den Interessen der betroffenen und unschwer zu individualisierenden Kindern und Jugendlichen dienen, korrespondieren subjektive Rechtsansprüche auf Inobhutnahme, wobei dies bei Nr. 2 kaum relevant werden dürfte. Dasselbe gilt auch mit Blick auf die Verpflichtungen des Jugendamts nach § 42 a Abs. 1 betreffend die Vorläufige Inobhutnahme von ausländischen Kindern und Jugendlichen nach unbegleiteter Einreise nach Deutschland. 8.2 Erlaubnis zur Kindertagespflege (§ 43) Die in § 43 Abs. 1 bezeichneten Personen bedürfen der Erlaubnis zur Kindertagespflege. Diese „ist“ (vom sachlich zuständigen Jugendamt) gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 „zu erteilen, wenn die Person für die Kindertagespflege geeignet ist“. Korrespondiert damit ein Rechtsanspruch auf Erlaubniserteilung aufgrund einer Interpretation dieser Norm, sofern die im Gesetz näher bezeichneten Eignungskriterien erfüllt sind? Dies ist zu bejahen. Denn es handelt sich um eine Muss-Verpflichtung des Jugendamtes mit Blick auf die zweifelsfrei zu individualisierenden Tagespflegepersonen und die Norm ist knapp, aber hinreichend präzise bestimmt und dient den Interessen der Betroffenen. Deshalb haben diese einen Rechtsanspruch aufgrund einer Interpretation von § 43 Abs. 2 Satz 1, die auch im Lichte der Freiheit der Berufswahl und Berufsausübung nach Art. 12 Abs. 1 GG zu erfolgen hat (Wabnitz 2005, 223f; jurisPK-SGB VIII/ v. Koppenfeld-Spies 2014/ 2018, § 43 Rz. 32; Krug/ Riehle 2013, § 43 V.; Möller in Möller 2020, § 43 Rz. 13; Nonninger in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 43 Rz. 12; Smessaert/ Lakies in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 43 Rz. 12; Mann in Schellhorn et al. 2017, § 43 Rz. 21). 8.3 Vollzeitpflege (§ 44) Dasselbe gilt auch mit Blick auf die Erteilung der Erlaubnis zur Vollzeitpflege gemäß § 44 Abs. 1, die gemäß Abs. 2 Satz 1 (nur) „zu versagen (ist), wenn das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen in der Pflegestelle nicht gewährleistet ist“. Im Umkehrschluss ist die Erlaubnis zu erteilen, wenn das Wohl des Kindes oder des Jugendli- 398 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern chen in der Pflegestelle gewährleistet ist. Und mit dieser objektiv-rechtlichen Verpflichtung korrespondiert erneut ein subjektiver Rechtsanspruch auf Erlaubniserteilung (Wabnitz 2005, 224f; Fieseler in Wabnitz/ Fieseler/ Schleicher 2016, § 44 Rz. 26; jurisPK-SGB VIII/ v. Koppenfeld-Spies 2014/ 2018, § 44 Rz. 37; Krug/ Riehle 2013, § 44 II.; Möller in Möller 2020, § 44 Rz. 13; Smessaert/ Lakies in Münder/ Meysen/ Trenczek 2019, § 44 Rz. 16; Mann in Schellhorn et al. 2017, § 44 Rz. 9; Mörsberger in Wiesner 2015, § 44 Rz. 16). Beispiel: Frau Meier möchte Kinder in Vollzeitpflege betreuen und beantragt beim Jugendamt eine Erlaubnis zur Vollzeitpflege nach § 44. Das Jugendamt lehnt diesen Antrag ab, weil es bereits mehr als genug Pflegepersonen im Jugendamtsbezirk gebe. Hätte eine verwaltungsgerichtliche Klage von Frau Meier auf Erlaubniserteilung Aussicht auf Erfolg? Ja. Denn aus den genannten Gründen besteht ein dementsprechender Rechtsanspruch von Frau Meier auf Erlaubniserteilung. Eine Ablehnung „aus Bedarfsgründen“ ist gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 rechtlich unzulässig. Etwas anderes wäre auch mit dem Grundrecht der Freiheit der Berufswahl und Berufsausübung nach Art. 12 Abs. 1 GG nicht vereinbar. (Hinweis: Eine andere Frage wäre, ob Frau Meier auch tatsächlich Kinder zur Vollzeitpflege durch das Jugendamt vermittelt werden.) 8.4 Beratung und Belehrung in Verfahren zur Annahme als Kind (§ 51) Gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 und 2 „hat“ das Jugendamt im Verfahren zur Ersetzung der Einwilligung eines Elternteils in die Annahme als Kind nach § 1748 Abs. 2 Satz 1 BGB den Elternteil über die Möglichkeit der Ersetzung der Einwilligung zu belehren und darauf hinzuweisen, dass das Familiengericht die Einwilligung erst nach Ablauf von drei Monaten nach der Belehrung ersetzen darf. Mit dieser sehr präzisen „Muss“- Bestimmung, die selbstverständlich dem Interesse der betroffenen und unschwer individualisierbaren Elternteile dient, korrespondiert auch ein entsprechender Rechtsanspruch aufgrund einer Interpretation der genannten Normen (Wabnitz 2005, 230f; Müller in Möller 2020, § 51 Rz. 24 zu § 51 Abs. 3). Es kommt hinzu, dass dieses Verfahren auch Voraussetzung dafür ist, dass dem betroffenen Elternteil gegen seinen Willen die Elternschaft entzogen werden kann − als größtmöglicher Eingriff in das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. 8.5 Beratung und Unterstützung bei Vaterschaftsfeststellung und Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen (§ 52 a) Gemäß § 52 a Abs. 1 „hat“ das Jugendamt unverzüglich nach der Geburt eines Kindes, dessen Eltern nicht miteinander verheiratet sind, der Mutter Beratung und Unterstützung insbesondere bei der Vaterschaftsfeststellung und der Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen anzubieten. Auch hier liegen alle vier Voraussetzungen für die Annahme eines damit korrespondierenden Rechtsanspruchs aufgrund einer Interpretation der genannten Norm vor (Wabnitz 2005, 232f; Bernzen in Wabnitz/ Fieseler/ Schleicher 2015, § 52 a Rz. 4; jurisPK-SGB VIII/ Fröschle 2014/ 2018, § 52 a Rz. 11; Kunkel/ Leonhardt/ Kemper in Kunkel/ Kepert/ Pattar 2018, § 52 a Rz. 6; Müller in Möller 2020, § 52 a Rz. 22, 24; Ivanits in Schellhorn et al. 2017, § 52 a Rz. 14). Im Übrigen hätte § 52 a auch in Zusammenhang mit § 18 und in Form eines expliziten Anspruchs ausgebracht werden können − oder gar: sollen. 9. Weitere Rechtsansprüche für Eltern und Kinder Schrittweise sollten m. E. noch weitere explizite Ansprüche für Eltern und Kinder eingefügt werden, und zwar in: ➤ § 13 (Jugendsozialarbeit) ➤ § 16 (Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie) 399 uj 9 | 2021 Rechtsansprüche von Eltern und Kindern ➤ § 24 Abs. 3 Satz 2 (Anspruch von Kindern ab dem vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt auch mit Blick auf Ganztagsplätze, wie dies für die jüngere Altersgruppe der Kinder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres in § 24 Abs. 2 bereits erfolgt ist). Prof. Dr. jur. Dr. phil. Reinhard Joachim Wabnitz Professor für Rechtswissenschaft Usinger Str. 104 61440 Oberursel E-Mail: reinhard.wabnitz@hs-rm.de Literatur Der Paritätische Gesamtverband (2011): Zu den Diskussionen unter dem Thema„Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung“, die viele Facetten haben - auch sehr problematische! Forum Jugendhilfe 4, 10 - 13 Deutscher Bundestag (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht (14. KJB). Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Bundestags-Drucksache 17/ 12200 vom 30. 1. 2013 sowie Publikation des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Hammer, W. (2011): Neue Praxis oder Paradigmenwechsel? Zur Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung und des Kinderschutzes. Neue Praxis 5, 468 - 476 Hauck, K., Stähr, A. (Hrsg.) (zitiert nach Stand 1995): Kinder- und Jugendhilfe. Kommentar, Loseblatt. Erich Schmidt, Berlin Jans, K.-W., Happe, G., Saurbier, H., Maas, U. (Hrsg.) (Stände 1998 bis 2020): Kinder- und Jugendhilferecht. Kommentar, Loseblatt. 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Krug, H., Riehle, E. (Hrsg.) (Stände 2010 bis 2021): SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe. Kommentar und Rechtssammlung, Loseblatt. Wolters Kluwer Luchterhand, Köln/ Neuwied Kunkel, P.-C., Kepert, J., Pattar, A. K. (Hrsg.) (2018): Sozialgesetzbuch VIII Kinder- und Jugendhilfe. Lehr- und Praxiskommentar (LPK-SGB VIII). 7. Aufl. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Luthe, E.-W., Nellissen, G. (Hrsg.) (2014/ 2018): SGB VIII Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe. 2014 juris Praxis Kommentar, Saarbrücken. 2018 2. Aufl. online. juris, Saarbrücken Marquard, P. (2005): TAG, KICK und KEG - Anmerkungen zur Novellierung des KJHG (SGB VIII). NDV, 352, 357 Möller, W. (Hrsg.) (2020): Praxiskommentar SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe. 3. Aufl. Bundesanzeiger Verlag, Köln Münder, J. (2000): Zehn Jahre Kinder- und Jugendhilfegesetz: Renovierungs-, Modernisierungs-, Reformbedarf. RdJB 2000, 123, 125ff Münder, J. (2011): Bessere Kinder- und Jugendhilfe ist preiswerter - oder: Abbau von Leistungen und Rechten. Neue Praxis 5, 356 - 460 Münder, J., Meysen, T., Trenczek, T. (Hrsg.) (2019): Frankfurter Kommentar zum SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe (FK-SGB VIII). 8. Aufl. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Pörksen, J. (2011): Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung - Was wir wirklich wollen (2011). Forum Jugendhilfe 4, 13 - 17 Schellhorn, W., Fischer, L., Mann, H., Schellhorn, H., Kern, C. (2017): SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe. Kommentar. 5. Aufl. Wolters Kluwer Luchterhand, Köln/ Neuwied Wabnitz, R. J. (2005): Rechtsansprüche gegenüber Trägern der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Diss. jur. Eigenverlag der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ), Berlin Wabnitz, R. J. (2011): Für den Fortbestand des Rechtsanspruchs auf Hilfe zur Erziehung im SGB VIII. Neue Praxis 5, 463 - 467 Wabnitz, R. J. (2015): 25 Jahre SGB VIII. Die Geschichte des Achten Buches Sozialgesetzbuch von 1990 bis 2015. Eigenverlag der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ), Berlin Wabnitz, R. J. (2020): Grundkurs Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit. 6. Aufl. Ernst Reinhardt, München Wabnitz, R. J., Fieseler, G., Schleicher, H. (Hrsg.) (Stände 2011 bis 2021): GK-SGB VIII Kinder- und Jugendhilferecht. Gemeinschaftskommentar zum SGB VIII, Loseblatt, Stände 2011 bis 2021. Wolters Kluwer Luchterhand, Köln/ Neuwied Wiesner, R. (Hrsg.) (2015): SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe. Kommentar. 5. Aufl. Beck, München