unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2022
741
Inklusive Leistungserbringung - Finanzielle und strukturelle Herausforderungen angehen
11
2022
Daniel Kieslinger
Zur Umsetzung der ,Hilfen aus einer Hand‘ bedarf es neuer struktureller Handlungs- und Kooperationsmodelle, um die Leistungserbringung effizient und effektiv zu gestalten. Dabei gilt es, Denkverbote hinter sich zu lassen und neue Wege zu beschreiten.
4_074_2022_001_0002
2 unsere jugend, 74. Jg., S. 2 - 10 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Inklusive Leistungserbringung - Finanzielle und strukturelle Herausforderungen angehen Zur Umsetzung der ,Hilfen aus einer Hand‘ bedarf es neuer struktureller Handlungs- und Kooperationsmodelle, um die Leistungserbringung effizient und effektiv zu gestalten. Dabei gilt es, Denkverbote hinter sich zu lassen und neue Wege zu beschreiten. von Daniel Kieslinger Jg. 1991; Mag. Theol, B. A., Projektleitung des Modellprojekts „Inklusion jetzt! “ „Man muss befürchten, dass es dem Kapitalismus gelingt, noch jede gute Idee zur Gestaltung der sozialen Welt sich zu eigen zu machen und zu pervertieren.“ (Winkler 2018, 79) Vor dem Hintergrund der Diskussion um die Rolle der Ökonomisierung von Sozialer Arbeit unterstreicht dieses durchaus provokante Zitat Winklers im Zusammenhang der‚Inklusiven Lösung‘ im SGB VIII das Dilemma, mit welchem das Feld der Kinder- und Jugendhilfe und der Erziehungshilfen im Speziellen schon seit mindestens 30 Jahren konfrontiert ist (vgl. Buehstrich/ Wohlfahrt 2008, 17): Fachlich erkannte Handlungsmaximen, wie z. B. Beteiligung von AdressatInnen, prozesshaft ausgerichtete Hilfearrangements oder die systemische Bearbeitung von Bedarfslagen stehen einem wesentlichen Kostendruck seitens der Politik sowie der öffentlichen Haushalte gegenüber (vgl. bspw. Peters 2013, 151; Schäfer 2016, 1369). Umsetzen des Inklusionsparadigmas In den fachlichen und politischen Auseinandersetzungen rund um die Novellierung des SGB VIII wird mit der Engführung des Inklusionskonzeptes auf junge Menschen mit Behinderungen „vor allem die ältere Diskussion um die Integration“ (Oehme/ Schröer 2016, 287) erweitert und führt so nicht zu einer substanziellen Veränderung und Verbesserung bereits bestehender Strukturen. Im Folgenden soll die Perspektive geweitet und ein umfassender Inklusionsbegriff Anwendung finden, der das Recht aller jungen Menschen auf Teilhabe an der Gesellschaft unterstreicht. Inklusion für die Hilfen zur Erziehung meint dabei„das Wahrnehmen und Anerkennen unterschiedlichster Bedarfe, die aus vielfältigen Lebenskontexten entstehen. Diesen sollte in einer partizipativen Weise entwicklungsfördernd entsprochen werden, um die Selbstbestimmung der Hilfesuchenden und Anspruchsberechtigten zu unterstützen. Den Kinderschutz als Maxime gilt es Gefahren für ein gelingendes Heranwachsen abzuwehren, gleichzeitig aber die Eltern und Personensorgeberechtigen in den Prozess miteinzubeziehen. Inklusion als teilhabeermöglichendes Paradigma hat bezogen auf erzieherische Hilfen immer abzuwägen zwischen hochspezialisierten Angeboten und sozialräumlicher Perspektive, wobei der Wille der Hilfesuchenden oberste Priorität hat“ (Kieslinger 2021, 145). 3 uj 1 | 2022 Strukturelle Herausforderungen von Inklusion Mit der begonnenen Umsetzung des Inklusionsparadigmas in der Kinder- und Jugendhilfe steht dabei die nächste ‚gute Idee‘ - um in der Diktion Winklers zu bleiben - in der Gefahr, durch vermeintlich unausweichliche ökonomische Zweckrationalitäten entkernt zu werden. So beispielsweise durch den oftmals als Status-quo-Klausel kritisierten § 107 SGB VIII (vgl. AGJ 2021, 13), welcher Kostenneutralität in der Umsetzung vorschreibt und so droht, „dieser Reform […] von vornherein jeden gestalterischen Wind aus den Segeln“ (AGJ 2021, 13) zu nehmen. Kostenfrage nur unkonkret angesprochen Im Kontext des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes wird die Diskussion um (Mehr)kosten im Moment, so zumindest die Wahrnehmung des Autors dieses Artikels, immer nur in zweiter Instanz und eher unkonkret geführt. Die Kontroversen entflammen vielmehr entlang unterschiedlicher fachlicher Standpunkte wie beispielsweise der Stellung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) im Zuge der Entwicklung inklusiver Hilfeplanung (ausführlich dazu Hollweg/ Kieslinger 2021), der Einführung von VerfahrenslotsInnen (§ 10 b SGB VIII) sowie nicht zuletzt um das fachliche Mit- und Zueinander von Kinder- und Jugendhilfe sowie Eingliederungshilfe. Eines ist dabei jedoch klar: Dass die ‚inklusive Lösung‘ kommt, ist sicher, nur das ‚Wie‘ steht noch aus. Die Wirkmächtigkeit des ‚Wie‘ in der Konsequenz für die jungen Menschen wird sich an der Frage von Effektivität und Effizienz der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe entscheiden. Dieses Verhältnis ist dynamisch und wird gesellschaftlich ausgehandelt: Welche Ziele sollen durch die Maßnahmen erreicht werden und wie sind diese mit dem optimalen Einsatz von Personal-, Zeit-, und Geldressourcen zu erreichen? Der Bedarf der Kinder, Jugendhilfen und jungen Erwachsenen ist dabei der Maßstab für die zur Verfügung zu stellenden Ressourcen und hat immer Vorrang vor kurzsichtigen wirtschaftlichen Erwägungen. Zur Beantwortung dieses ‚Wie‘ gilt es, sich also bis 2027 - zur Verkündigung des neuen Bundesgesetzes - auch über die Finanzierungsstrukturen von Leistungen klar zu werden, die sich auf fachlicher Ebene in einem dialogischen Prozess von Politik, Gesellschaft sowie öffentlichen und freien Trägern entwickeln müssen, um subjektzentriert auf die Realisierung der Rechte von Kindern hinzuwirken. Der vorliegende Artikel versteht sich als ein erstes Herantasten an diese Aufgabe, neue und erneuerte Finanzierungsstrukturen für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe zu entwickeln. Den Horizont bildet dabei das, aus der oben angesprochenen Ökonomisierung der Sozialen Arbeit abgeleitete, Spannungsverhältnis von wirtschaftlicher und fachlich-pädagogischer Jugendhilfe. Dabei wird in zwei Schritten vorgegangen: Zunächst werden zwei Thesen herausgearbeitet, welche die Grundlage für die anschließende Analyse einer Befragung von Führungskräften bilden: (1) Die Jugendhilfeplanung ist ein Schlüssel zur Entwicklung einer effektiven und effizienten Leistungserbringung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe und (2) systemimmanente Lösungen zur Kostenregulation sind begrenzt, weshalb es eines neuen Denkens in Bezug auf Strukturierung und Finanzierung von Leistungen bedarf. Die Jugendhilfeplanung als Schlüssel für inklusive Leistungserbringung Die Forderung nach einer inklusiven Weiterentwicklung der Jugendhilfeplanung ist nicht neu. So unterstrich die IGfH bereits im Jahr 2012 die Notwendigkeit der inklusiven Ausgestaltung der Jugendhilfeplanung (IGfH 2012, 7) und 2019 verwies der AFET im Kontext des Prozesses ‚Mitreden Mitgestalten‘ darauf, dass „ohne qualifizierte Jugendhilfeplanung keine inklusive Jugendhilfe“ (Graßhoff et al. 2019, 15) möglich sei. 4 uj 1 | 2022 Strukturelle Herausforderungen von Inklusion Zieht man jedoch die aktuellen Daten der durch das Institut für soziale Arbeit e.V. erhobenen Untersuchung heran, so ist die Realität der Jugendhilfeplanung noch ein ganzes Stück weit davon entfernt: In der Benennung von Wichtigkeit und Priorität landet das Thema Inklusion nur im Mittelfeld (4,4 bzw. 3,7 von maximal 6 Punkten) (vgl. ISA 2021, 40). Auch gestaltet sich die Jugendhilfeplanung in Deutschland sehr heterogen und ist keineswegs in allen kommunalen Strukturen in der Form etabliert, dass es als funktionales Instrument das Feld der Hilfen voranbringen könnte: „Der Diskurs zur Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (so er sich im Rahmen einer Gremienstruktur niederschlägt) erfolgt somit in vielen Jugendämtern auf der Grundlage einer oft lückenhaften empirischen Datenbasis - gleichsam ‚im Nebel‘, der eine zielgerichtete Fachplanung und Ressourcensteuerung behindert“ (ISA 2021, 26). Wie auch immer die konkrete Umsetzung des KJSG in den kommenden Jahren aussehen wird, klar ist, dass mit einem Anstieg der Inanspruchnahme im Bereich der Hilfen zur Erziehung zu rechnen ist (vgl. BT Drucksache 19/ 26107, 8) und damit Steuerung und zielgerichtete Planung noch mehr Gewicht bekommen. Dabei dürften die qualitativen Anforderungen weiter steigen, verpflichtet doch der angepasste § 79 a die öffentliche Jugendhilfe, die Weiterentwicklung der Angebote an „Qualitätsmerkmale[n] für die inklusive Ausrichtung der Aufgabenwahrnehmung und [der] Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse von jungen Menschen mit Behinderungen“ zu messen. Dies wird nicht ohne Folgen für die nach § 78 b SGB VIII abzuschließenden Leistungsvereinbarungen bleiben und mittelfristig auch die Entgeltvereinbarungen beeinflussen. Die qualitative inklusive Weiterentwicklung des Feldes ist eng mit den Steuerungsinstrumenten verbunden, die dem öffentlichen Träger zur Konzeption und Planung von Angeboten zur Verfügung stehen. Als eines der wichtigsten planungstechnischen Instrumente wird dabei die Jugendhilfeplanung im novellierten § 80 SGB VIII - ebenso wie die Qualitätsentwicklung in § 79 a SGB VIII - auf die Implementierung des inklusiven Gedankens verpflichtet. These eins lässt sich somit derart formulieren: Die Umsetzung eines möglichst wirksamen, vielfältigen, inklusiven und aufeinander abgestimmten Angebotes von Jugendhilfeleistungen (vgl. § 80 Abs. 2 S. 1 SGB VIII) verlangt dabei unterschiedliche Herangehensweisen an die „komplexen Herausforderung(en) der Jugendhilfeplanung“ (ISA 2021, 14). Gemeinsam mit dem Jugendhilfeausschuss und den Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII ist dies auf kommunaler Ebene die wichtigste Stellschraube, um die Hilfen zur Erziehung und das gesamte Feld der Kinder- und Jugendhilfe inklusiv zu gestalten und die notwendige Vernetzung unterschiedlicher Professionen sowie der AdressatInnen zu ermöglichen. Die Wirkung systemimmanenter Lösungen ist begrenzt Die Beschreibung von komplexen Strukturen und den systemimmanenten Abhängigkeiten bleibt immer unvollständig. Mit Blick auf die Finanzierungs- und Kostenzusammenhänge im Feld der Kinder- und Jugendhilfe gilt es einige Indikatoren zu identifizieren, welche auf die Weiterentwicklungsperspektiven im Hinblick auf die Umsetzung des inklusiven Paradigmas hindeuten. So ist zu konstatieren, dass trotz der Einführung der §§ 78 a ff Ende der 90er Jahre und der damit verbundenen Abkehr von der bis dato praktizierten retrospektiv orientierten Zuwendungsfinanzierung über Selbstkostendeckung in den teilstationären und stationären Angeboten der Erziehungshilfen ein Kostenanstieg von 7,1 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf rund 13 Milliarden Euro im Jahr 2019 zu verzeichnen ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2020). 5 uj 1 | 2022 Strukturelle Herausforderungen von Inklusion Damit einher geht ein Anstieg der erzieherischen Hilfen im Jahr 2019 auf 1,02 Millionen Fälle, was einen neuen Höchststand und eine Ausweitung gewährter Hilfen um 22 % im Vergleich zu 2009 bedeutet. Mit dem quantitativen Anwachsen der Hilfen ging qualitativ fachlich eine Steigerung der Anforderungen einher. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass die Hilfen für junge Menschen mit einer Beeinträchtigung nach § 35 a SGB VIII in diesem Zeitraum um 156 % angestiegen sind und 2019 gut 10 % der gesamten Fälle ausmachten (Statistisches Bundesamt 2021). Trotz Versuchen, durch neue Kostensteuerungsinstrumente die Ausgaben im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe einzudämmen, ist mit dem Blick zurück ein weiterer Anstieg der Hilfen und der damit einhergehenden Kosten zu erwarten. Die mit der Umsetzung der SGB-VIII-Reform bis ins Jahr 2027 verbundenen Kosten werden auf rund 262 Millionen Euro geschätzt (BT Drucksache 19/ 26107, 57ff ), was vor dem Hintergrund der nur angerissenen anstehenden Aufgaben durch das KJSG sehr wenig erscheint. Ein weiteres Indiz für die Grenzen des bestehenden Finanzierungs- und Leistungssystems der Kinder- und Jugendhilfe und den Hilfen zur Erziehung im Speziellen sind die sogenannten ‚SystemsprengerInnen‘. Diese verweisen auf tieferliegende strukturelle Probleme, die oft nicht als solche erkannt und mittels systemimmanenter Lösungsansätze bearbeitet werden (vgl. Esser 2021, 86). Dies kann mit als ein Grund betrachtet werden, warum ca. 40 % begonnener erzieherischer Hilfen (vgl. Tornow 2019, 38) vorzeitig abgebrochen werden und nicht zum angestrebten Erfolg führen. Dieses umgangssprachlich als Drehtüreffekt bezeichnete Modell kann unter den oben genannten Gesichtspunkten sowohl als ineffizient als auch ineffektiv bezeichnet werden und wird weder finanziellen und schon gar nicht sozialpädagogischen Ansprüchen gerecht. These zwei lässt sich damit derart formulieren: Der systemimmanente Eingriff in die Finanzierungsstrukturen ist an seinen Grenzen angelangt. Es ist nun also in den Blick zu nehmen, ob es nicht einer Gesamtsystemerneuerung der Leistungsfinanzierung sowie der darunterliegenden Feststellung und Bearbeitung von Bedarfen und Bedürfnissen der AdressatInnen bedarf. Empirische Untersuchung - Das Zueinander von fachlichpädagogischer und wirtschaftlicher Jugendhilfe Mit den Thesen zu Kooperationsstruktur und Finanzierungsstruktur im Hintergrund fokussierte die durchgeführte empirische Erhebung darauf, wie das Zu- und Miteinander von fachlich-pädagogischer und wirtschaftlicher Jugendhilfe in der Praxis ausgestaltet ist und welche Stellschrauben es braucht, um die inklusive Umgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe voranzubringen. Der Rahmen der Befragung und Soziodemografie Die empirische Erhebung wurde durch den Autor dieses Artikels selbst durchgeführt und fand im Sommer 2021 statt. Sie war Teil einer größer angelegten onlinebasierten Mitarbeitendenstudie „InkluMa - Inklusion durch Mitarbeitende“ (Hollweg et al. 2021) im Rahmen des Modellprojekts Inklusion jetzt! - Entwicklung von Konzepten für die Praxis. Dabei wurde Beschäftigten auf höherer (Vorstand, Geschäftsführung, etc.) und mittlerer Leitungsebene (Bereichsleiter etc.) ein erweiterter Fragenkatalog vorgelegt. Durch dieses Vorgehen konnten 218 Leitungskräfte aus den Hilfen zur Erziehung erreicht werden. 49,3 % der Befragten waren 51 Jahre oder älter. Nur 4,6 % gaben an, jünger als 31 zu sein. 6 uj 1 | 2022 Strukturelle Herausforderungen von Inklusion Der Schwerpunkt des Angebotsspektrums der Befragten lag dabei im Bereich der stationären Leistungen (95 %). 88 % der Befragten gaben an, auch ambulante Dienste vorzuhalten und rund 76 % wiesen bereits Erfahrungen mit der Leistungserbringung nach § 35 a SGB VIII vor. Weniger als 1 % der Befragten gab an, sich im Leistungsbereich des SGB IX zu bewegen. Dies wirkt sich in der Auswertung der Befragung insofern aus, als dass fast ausschließlich aus Perspektive der Leistungserbringer der Erziehungshilfen auf die Fragestellungen geblickt wird. Wichtiges Instrument mit Potenzial - die Jugendhilfeplanung Der erste Fragenkomplex widmet sich der Jugendhilfeplanung. So stimmten 73,4 % der Befragten voll oder eher zu, dass Jugendhilfeplanung für die Ausgestaltung der Angebotsstruktur eine große Rolle spielte. Dies spiegelt sich auch in der Bewertung der Jugendhilfeplanung als Entwicklungsinstrument für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe in den unterschiedlichen Bereichen wider. So geben 73,9 % der Teilnehmenden an, dass Jugendhilfeplanung für die gesamte Kinder- und Jugendhilfe ein wichtiges Instrument zur inklusiven Ausgestaltung des Feldes sei. Ähnliche Werte werden in der detaillierteren Betrachtung zur Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung (75 %) und im Sozialraum (69,8 %) erzielt. Aus den gegebenen Einschätzungen folgt, dass die freien Träger das Instrument der Jugendhilfeplanung als eine wesentliche Stellschraube identifizieren, um an der kommunalen Jugendhilfeinfrastrukturentwicklung mitzuwirken. Die sich daran anschließende Frage ist, ob auch der Jugendhilfeausschuss und die Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII unter den Begriff der Jugendhilfeplanung gefasst werden oder nur das eigentliche Instrument nach § 80 SGB VIII. Der vorliegende Befund stützt somit die erste These dieses Artikels und unterstreicht die Wichtigkeit des Einbezuges der freien Träger in diesen Prozess. Als komplementärer und wichtigster Stakeholder des gesamten Prozesses sind ebenso die AdressatInnen der Hilfen mit in eine inklusive Infrastrukturentwicklung einzubeziehen, was allerdings in der Praxis zurzeit in noch zu geringem Umfang geschieht (vgl. ISA 2021, 28). Die Jugendhilfeplanung … … spielt für die Ausgestaltung der Angebotsstruktur meines Trägers eine große Rolle. …ist ein geeignetes Instrument zur inklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. …ist ein geeignetes Instrument zur inklusiven Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung. …ist ein geeignetes Instrument zur inklusiven Weiterentwicklung im Sozialraum. 8,3 2,8 4,2 5,1 18,3 23,4 20,8 25,0 39,0 45,0 45,8 44,4 34,4 28,9 29,2 25,5 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90%100% stimme überhaupt nicht zu stimme eher zu stimme eher nicht zu stimme voll zu Abb. 1: Die Jugendhilfeplanung als Instrument für die inklusive Angebotsentwicklung 7 uj 1 | 2022 Strukturelle Herausforderungen von Inklusion Strukturelle Grenzen der Innovation Blickt man in einem nächsten Schritt auf die Innovationsfähigkeit des bestehenden Finanzierungssystems und fragt danach, welche Spielräume dieses für Angebotsausweitungen in Richtung inklusiver Leistungen bietet, ergibt sich ein ernüchterndes Bild. 81,5 % der Befragten stimmen der Aussage, dass die derzeitige Finanzierungslogik der öffentlichen Jugendhilfe Raum für Innovation und Inklusion bietet, nicht oder eher nicht zu. Setzt man dazu die Antworten zur Frage, ob die Träger ausreichend an den Prozessen der Jugendhilfeplanung beteiligt sind, ins Verhältnis, zeichnet sich auch hier ein eher negatives Bild. Nur etwas weniger als ein Drittel der Befragten fühlen sich in angemessenem Umfang in die Jugendhilfeplanung eingebunden und bewerten die Aussage als zutreffend. Im Vergleich zu den Aussagen der wahrgenommenen Relevanz der Jugendhilfeplanung liegt hier noch ein zu hebendes Potenzial. An dieser Stelle gilt wieder, in zweiter Instanz zu fragen, ob nur die Jugendhilfeplanung im eigentlichen oder im erweiterten Sinn gemeint ist. Aus den beiden Fragen lässt sich zudem ableiten, dass eine engere Kooperation auf struktureller Ebene auch die bestehenden Finanzierungslogiken, die zwar von landesweiten Rahmenverträgen - so sie vorhanden sind - in gewissem Grad festgeschrieben sind, in einem fachlichen und kooperativen Miteinander neu bewerten und gemeinsam neue Wege suchen. In einem weiteren Schritt wurden die Befragten nach ihrer Einschätzung gefragt, welche (wirtschaftlichen) Rahmenbedingungen es braucht, um eine inklusive Jugendhilfeinfrastruktur zu entwickeln. Gleichauf mit jeweils 82,1 % wurden dabei die Kombination unterschiedlicher Hilfen sowie flexible Zusatzleistungen genannt, gefolgt von schnelleren Prozessen mit 73,4 % und flexibleren Leistungsvereinbarungen (71,1 %). Auch eine breitere Auslegung des Fachkräftegebots ist zwar genannt, jedoch mit 61 % nur knapp vor der individuellen Leistungsfinanzierung (57,3 %) und flexiblen Landesrahmenverträgen (50,5 %). Eine pauschale Leistungsfinanzierung wird nur von 22,5 % der Befragten als zielführend angesehen. Betrachtet man die vorgegebenen Auswahlmöglichkeiten, so sind dies ausschließlich systemimmanente Lösungen. Bei der Angabe „Sonstiges“ wurde die Möglichkeit von freien Antworten gegeben, die durchaus andere Wege der Finanzierungsmöglichkeiten beschreiben. So zum Beispiel eine Modulfinanzierung ähnlich den Eingliederungshilfen, kleineren Wohngruppen oder flexibel arrangierten Hilfe- Die derzeitige Finanzierungslogik der öffentlichen Jugendhilfe bietet Raum für Innovation und Inklusion 39,6 41,9 13,4 5,1 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90%100% stimme überhaupt nicht zu stimme eher zu stimme eher nicht zu stimme voll zu Die Leistungserbringer der Hilfsangebote sind (ausreichend) in die Jugendhilfeplanung mit eingebunden. 25,5 44,9 25,0 4,6 Abb. 2: Innovationsfähigkeit der aktuellen Strukturen 8 uj 1 | 2022 Strukturelle Herausforderungen von Inklusion konstellationen. Reflektiert man mit diesen Antworten über die zweite These, so bestätigt sich, dass sich bei der Entwicklung inklusiver Leistungen zunächst keine Denkverbote aufzuerlegen sind, da das bestehende System von den meisten Befragten als eher unflexibel und einengend mit wenig Innovationspotenzial gesehen wird. Fazit - Beteiligung und Kooperation Die kurze Reflexion der Befragung vor den aufgestellten Thesen deutet aus Sicht des Autors auf zwei wesentliche Bedarfe zur Entwicklung einer inklusiven Leistungsfinanzierung hin: 1. Die Kooperationsstrukturen von öffentlichen und freien Trägern sind unter Einbezug der AdressatInnen auszubauen. Dabei ist es notwendig, sich auf Augenhöhe über die bestehenden Bedarfe zu verständigen und effektive wie effiziente Lösungsansätze zu entwickeln. 2. Neben gemeinsamen Strukturen auf kommunaler und Länderebene ist ein umfassender Prozess auf Bundesebene anzustoßen, der neue innovative Wege eröffnet, die nicht nur systemimmanent, sondern auch systemkritisch die Leistungserbringung infrage stellen. Diesen Prozess hat der Gesetzgeber selbst vorgeschlagen, wobei „mit der Begleitung und Untersuchung des Umsetzungsprozesses […] unmittelbar mit Inkrafttreten des Gesetzes zu beginnen [ist], um möglichst frühzeitig Erkenntnisse für den weiteren Prozess zu erlangen“ (BT-Drucksache 19/ 26107, 119). Eines Spannungsverhältnisses gilt es sich dabei immer bewusst zu machen: Auf der einen Seite will der Sozialstaat seinen BürgerInnen ein hohes Maß an Teilhabe ermöglichen - und muss dies auch tun - andererseits hat der Einfluss neoliberal-kapitalistischer Marktlogik den sozialen Sektor fest im Griff. Daraus resultiert, dass sozialstaatliche Leistungen oft nicht nach deren langfristigen (positiven oder negativen) Effekten befragt werden, sondern nur nach deren kurzfristigen Kosten - die am besten so gering wie möglich sein sollten (vgl. Wiesner 2016, 1270). Der gordische Knoten, den es in den nächsten Jahren zu durchschlagen gilt, legt sich somit um den Fragenkomplex, welcher institutionellen Komposition es aus marktlicher, staatlicherr und gesellschaftlicher Steuerung bedarf, um für alle jungen Menschen das bestmögliche Kombination unterschiedlicher Hilfen Flexible Zusatzleistungen Schnellere Prozesse Flexible Leistungsvereinbarungen Breitere Auslegung des Fachkräftegebots Individuelle Leistungsfinanzierung Flexible Landesrahmenverträge Pauschale Leistungsfinanzierung Sonstiges 82,1 82,1 73,4 71,1 61,0 57,3 50,5 22,5 3,2 0,0 10,0 20,0 30,0 40,0 50,0 60,0 70,0 80,0 90,0 Abb. 3: Welche (wirtschaftlichen) Rahmenbedingungen braucht es, um inklusive Leistungserbringung zu finanzieren? 9 uj 1 | 2022 Strukturelle Herausforderungen von Inklusion Umfeld zu schaffen und echte Teilhabe und auch Teilgabe zu ermöglichen. Das Gebot der Wirtschaftlichkeit bezieht sich damit auf den effizienten Einsatz von Mitteln, um dieses Ziel effektiv zu erreichen, und nicht so sehr auf die Höhe der Ausgaben. Daniel Kieslinger Karlstr. 40 79104 Freiburg Tel. (07 61) 20 07 63 www.bvke.de Literatur Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe AGJ (2020): Was lange währt, wird endlich gut: Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen. Stellungnahme zum KJSG-RefE 2020 der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ, Berlin Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe AGJ (2021): Kurz vor dem Zieleinlauf - Weiterentwicklung im SGB VIII nutzen. Stellungnahme zum KJSG-RegE 2020 der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ, Berlin BT Drucksache 19/ 26107 (2021): Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG). In: https: / / dserver. bundestag.de/ btd/ 19/ 261/ 1926107.pdf, 7. 10. 2021 Buehstrich, M., Wohlfahrt, N. (2008): Die Ökonomisierung der Sozialen Arbeit. Aus Politik und Zeitgeschichte 12 - 13/ 2008, 17 − 24 Esser, K. (2021): Systemsprenger zeigen auf, wo das Jugendhilfesystem reformbedürftig ist. In: Kieslinger, D., Dressel, M., Haar, R. (Hrsg.): Systemsprenger*innen. Ressourcenorientierte Ansätze zu einer defizitären Begrifflichkeit. Lambertus, Freiburg, 72 − 90 Graßhoff, G., Hinken, F., Sekler, K. (2019): Utopie des Planbaren oder Machbarkeit von Jugendhilfeplanung in den Erziehungshilfen. Dialog Erziehungshilfe 2, 13 − 18 Herrmann, F. (2016): Jugendhilfeplanung. In: Schröer, W., Struck, N., Wolff, M. (Hrsg.): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe. Beltz, Weinheim/ Basel, 1029 − 1049 Hollweg, C., Kieslinger, D. (Hrsg.) (2021): Hilfeplanung inklusiv gedacht. Ansätze, Perspektiven, Konzepte. Lambertus, Freiburg Hollweg, C., Kieslinger, D., Rück, F., Schröer, W. (2021): InkluMa - Inklusion durch Mitarbeitende. Eine empirische Erhebung (im Erscheinen), Freiburg/ Hannover Institut für soziale Arbeit e.V. (ISA) (2021): Jugendhilfeplanung 2020. Schlaglichter einer quantitativen Befragung von Jugendämtern, Münster. In: https: / / isamuenster.de/ fileadmin/ documents/ ISA_Zwischen bericht_Jugendhilfeplanung.pdf, 7. 10. 2021 Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) (2012): Anhörung bei der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, Frankfurt Kieslinger, D. (2021): Individuelle Hilfeplanung und Jugendhilfeplanung - Innovationspotentiale für inklusive Erziehungshilfen. In: Hollweg, C., Kieslinger, D. (Hrsg.): Hilfeplanung inklusiv gedacht. Ansätze, Perspektiven, Konzepte. Lambertus, Freiburg, 138 − 160 Oehme, A., Schröer, W. (2018): Beeinträchtigung und Inklusion. In: Böllert, K. (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Springer VS, Wiesbaden, 273 − 290 Peters, F. (2013): Spezialisierung der Erziehungshilfen? Über Gründe und Abgründe der neuen Spezialisierung. Forum Erziehungshilfen 19, 151 − 155 Schäfer, K. (2016): Kinder- und Jugendhilfe und Politik. In: Schröer, W., Struck, N., Wolff, M. (Hrsg.): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe. Beltz, Weinheim/ Basel, 1364 − 1374 Statistisches Bundesamt (2020): Ausgaben für Kinder- und Jugendhilfe von 2009 bis 2019 verdoppelt. In: https: / / www.destatis.de/ DE/ Presse/ Pressemitteilun gen/ 2020/ 12/ PD20_504_225.html, 7. 10. 2021 Statistisches Bundesamt (2021): Immer mehr Eingliederungshilfen für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung. In: https: / / www.destatis.de/ DE/ Presse/ Pressemitteilungen/ 2021/ 05/ PD21_N027_2 21.html, 7. 10. 2021 Tornow, H. (2019): Extreme und Normalität in der Heimerziehung. In: Baumann, M., Oltrop, A. (Hrsg.): Bilderflut, die nicht nur Kinoleinwände sprengt … 10 uj 1 | 2022 Strukturelle Herausforderungen von Inklusion Der Film „Systemsprenger“ und seine Geschichten. Schöneworth, Hannover, 31 − 40 Wiesner, R. (2016): Rechtspolitische Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe. In: Schröer, W., Struck, N., Wolff, M. (Hrsg.): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe. Beltz, Weinheim/ Basel, 1267 − 1248 Winkler, M. (2018): Kritik der Inklusion. Am Ende eine(r) Illusion. W. Kohlhammer, Stuttgart 2., aktualisierte Auflage 2021. 276 Seiten. 13 Abb. 14 Tab. (978-3-497-03083-5) kt Für Studium und Praxis In Kliniken, in der medizinischen und sozialen Rehabilitation sowie in der Behinderten- und Altenhilfe spielt die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit eine große Rolle. Das umfassende Handbuch vermittelt das relevante Wissen sowohl für die Soziale Arbeit im Gesundheitswesen wie auch für den Gesundheitsbezug im Sozialwesen. Es bietet einen fundierten Überblick über theoretische und methodische Aspekte, rechtliche, gesundheits- und sozialpolitische Perspektiven und die Praxisfelder gesundheitsbezogener Sozialer Arbeit. Neu ab der zweiten Auflage ist u. a. das Unterkapitel „Infektionsschutz in der Sozialen Arbeit“. a www.reinhardt-verlag.de
