eJournals unsere jugend 74/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Inklusion durch spezialisierte Angebote

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2022
Daniel Hahn
Die Entwicklungsgeschichte eines spezialisierten Angebots zur Ermöglichung niederschwelliger und schneller Hilfen für Menschen mit einem ganz besonderen Bedarf. Können so Inklusionsgrenzen überwunden werden und gelingt es dabei, den einzelnen Menschen mit seinen Besonderheiten wahrzunehmen?
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11 unsere jugend, 74. Jg., S. 11 - 13 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art03d © Ernst Reinhardt Verlag von Daniel Hahn Verheiratet, zwei Kinder, er ist stellvertretender Direktor im Erzbischöflichen Kinderheim Haus Nazareth in Sigmaringen. Seine Aufgabe ist es, die Einrichtung mit all ihren differenzierten Angebotsformen fachlich weiterzuentwickeln und den Bedarfen der Zeit anzupassen. Inklusion durch spezialisierte Angebote Autismuskompetenzzentrum Haus Nazareth Sigmaringen Die Entwicklungsgeschichte eines spezialisierten Angebots zur Ermöglichung niederschwelliger und schneller Hilfen für Menschen mit einem ganz besonderen Bedarf. Können so Inklusionsgrenzen überwunden werden und gelingt es dabei, den einzelnen Menschen mit seinen Besonderheiten wahrzunehmen? Die Erinnerung an die Anfänge des Autismuskompetenzzentrums, welches wir im Jahr 2019 unter dem Dach unserer Einrichtungen eröffnet haben, ist bei mir, obwohl die ersten Angebote in diesem Bereich bereits mehr als zehn Jahre zurückliegen, sehr lebendig und präsent. Ich war zum damaligen Zeitpunkt als Referatsleiter in unserer Einrichtung tätig und als solcher wurde ich damit betraut, weitere Antworten bzw. Hilfeformen für die auffällig schnell ansteigende Anzahl von Hilfesuchenden im Bereich des Autismus-Spektrum bei Kindern und Jugendlichen zu entwickeln. Ich war mit einer Besonderheit konfrontiert, die mir in meiner Jugendhilfezeit so noch nicht begegnet war. So war eines der frühesten und gleichzeitig wichtigsten Erkenntnisse für mich, dass man, wenn man eine autistische Person kennt, exakt eine autistische Person kennt. So musste ich mich diesem neuen Bedarf sehr schnell fachlich annehmen, um mich den mannigfaltigen Themen und Realitäten der Menschen im Autismus-Spektrum angemessen nähern zu können. Denn die Zeit drängte. Es erreichten uns immer mehr Anrufe und E-Mails von Eltern, Jugendämtern und Vereinen, die große Not hatten, weil sie keine passenden Hilfestrukturen für ihre Kinder und Jugendlichen fanden und die Helfersysteme oft am Rande der Belastungsgrenze waren. Auch die Not der betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst kam in großem Umfang bei uns an. So kam es, dass wir bereits im Jahr 2010 die erste Intensivwohngruppe für Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum eröffneten und in den darauffolgenden Jahren zwei weitere folgten. Die vierte Wohngruppe für 12 uj 1 | 2022 Inklusion durch spezialisierte Angebote Mädchen im Autismus-Spektrum wurde im Oktober dieses Jahres eröffnet. So können wir dem hohen Bedarf zumindest teilweise gerecht werden. Autismus ist in den Grundzügen zwar beschreibbar, beinhaltet jedoch so viele unterschiedliche Facetten und Besonderheiten, dass eine Verallgemeinerung oder generalisierte Betrachtungsweise zu kurz greift und nicht zielführend wäre. Ich stellte mir in dieser Zeit z. B. häufig die Frage, ob es sich bei Autismus tatsächlich um eine Störung handelt oder ob dies nicht vielmehr als eine Besonderheit zu werten ist, die innerhalb der Normalität unserer generalisierten Gesellschaft nicht integrierbar ist. Denn obwohl das Wort Autismus vom altgriechischen Wort „αύτός (autós - selbst)“ abstammt und man manchmal durchaus den Eindruck gewinnen kann, unterliegt man einem Trugschluss, wenn man davon ausgeht, dass sich ein Mensch im Autismus-Spektrum um sich selbst dreht, gar egoistisch ist. Dies entspricht in keiner Weise der Wahrheit. Ich konnte vielmehr beobachten, dass je höher das Anspannungslevel der Kinder und Jugendlichen aufgrund äußerer Einflussfaktoren war, desto mehr zogen sie sich in sich selbst zurück und schotteten sich durch verschiedenste Verhaltensweisen ab. Dies taten sie jedoch nicht aus einer Ignoranz gegenüber ihrer Umwelt, sondern um sich selbst zu schützen. Denn die Reize und Störungen, die innerhalb der generalisierten Gesellschaft tagtäglich auf uns alle einströmen, versetzen die betroffenen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes in Angst und Schrecken. Dazu kommt, dass sie dauerhaft unter einem hohen Anpassungsdruck stehen, was für den Einzelnen oft kaum auszuhalten ist. Entgegen den Vorurteilen, die man Menschen im Autismus-Spektrum nachsagt, konnte ich jedoch sehr wohl die Erfahrung machen, dass Betroffene Beziehung und Bindung eingehen und Emotionen auf ganz eigene Art und Weise spüren können. Mit diesem Hintergrund stellte ich mir die Frage, welche Veränderungen bzw. Inklusionsinstrumente es bräuchte, um die Barrieren, die Menschen im Autismus-Spektrum in der generalisierten Gesellschaft vorfinden, abbauen zu können, um so Zugänge und Integration zu ermöglichen. Die Herausforderung in meiner Arbeit bestand unter anderem darin, einen Weg zu finden, die Normalität mit all ihren Herausforderungen nicht von den Kindern und Jugendlichen fernzuhalten und es so zu riskieren, einen Kokon zu schaffen, der einer Verinselung gleichkommt und Inklusion verhindert. Vielmehr war und ist es unser Wunsch, mit den Betroffenen gemeinsam zu üben, welche Methoden und Mechanismen sie innerhalb der Normalität erlernen können, um Unsicherheit und Angst, die durch Lärm, Nichtplanbares und Unvorhersehbares entstehen, besser steuern zu können. So kann es gelingen, Barrieren Stück für Stück abzubauen und Inklusion zu fördern. So stellten wir beispielsweise fest, dass die Beschulungssituation oftmals der Ursprung der hohen Belastungssituation der Betroffenen und des Helfersystems war. Wir beobachteten, dass unsere Kinder und Jugendlichen kognitiv sehr wohl in der Lage waren, einen guten Schulabschluss zu machen, aber dass das Setting „Schule“ aufgrund verschiedenster Reize nicht aushaltbar für sie war. Es war ihnen nicht vergönnt, im normalen Schulalltag ihre Möglichkeiten zu entfalten. Auf dieser Grundlage trafen wir die Entscheidung, dass es eine Beschulungsform braucht, die es einerseits ermöglicht, Normalität zu trainieren, aber andererseits auch den Nöten, Ängsten und Anspannungen, die das Lernen unmöglich machen, gerecht werden kann. So gründeten wir die Flexbzw. Balanceklassen. Kleine Beschulungseinheiten von maximal sieben SchülerInnen in einer Wohnungseinheit mit zwei Lehrkräften und PädagogInnen, die den Schultag begleiten. Wir machten außerordentlich gute Erfahrungen mit dieser neuen Schulform. 13 uj 1 | 2022 Inklusion durch spezialisierte Angebote Durch die Erfahrungen der letzten zehn Jahre sind wir davon überzeugt, dass dieser Weg, der für alle anstrengend und herausfordernd ist, der richtige ist. Allerdings ist es uns ein dringendes Anliegen, darauf hinzuweisen, dass wir uns ganz klar gegen therapeutische Methoden wie die Applied Behavior Analysis (ABA) oder ähnliche konfrontative und konditionierende Therapieformen aussprechen, weil diese, unserer Meinung nach, die Würde der betroffenen Menschen missachten. Ein jeder darf und soll sich Zeit lassen können, um Stück für Stück im eigenen, selbstbestimmten Tempo zu lernen, sich sicher und mit einem guten Gefühl in der Normalität zu bewegen. Trotz dieser Bemühungen und toller Erfolge, sowohl schulisch als auch im ganz normalen Alltag, stellten wir fest, dass es einen großen Beratungs- und Begleitungsnotstand der Familien gab. Dabei muss man sagen, dass Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum häufig bei uns stationär aufgenommen werden mussten, weil die Eltern und die Betroffenen am Rande ihrer Belastungsgrenze waren. Wir sind der Meinung, dass stationäre Aufnahmen dann vermieden werden können, wenn Eltern frühzeitig eine gute pädagogisch-therapeutische Beratung und Begleitung erhalten. Uns wurde deutlich, dass auch dieser Bedarf durch professionelle Beratungsstrukturen gedeckt werden musste. Deshalb entwickelten wir die Säule der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Durch unsere Kooperationspartner, den Erziehungsberatungsstellen der angrenzenden Landkreise, wurde es möglich, auch diesem Bedarf gerecht zu werden. Darüber hinaus war eine der schmerzlichsten Erfahrungen der betroffenen Eltern die Unübersichtlichkeit der Hilfeangebote und Zuständigkeiten, um Hilfe zu bekommen. So hörten wir häufig resignierte Familien, die nicht mehr daran glaubten, dass es passende Hilfen für sie und ihre Kinder geben würde. Der Hauptgrund hierfür liegt darin, dass die Vernetzung der Hilfen im Thema Autismus oft nur lückenhaft vorhanden ist. So sehen wir es als unsere Aufgabe an, als Koordinierungsstelle zu fungieren, um passgenaue, schnelle und unbürokratische Hilfe anbieten zu können. Schließlich stellte es für die Betroffenen und ihre Familien eine Realität dar, dass es im Umkreis von mehr als 60 Kilometern keine Möglichkeit der fachärztlichen Diagnostik und Therapie gab. So eröffneten wir unter der Trägerschaft der Kinder- und Jugendpsychiatrie, mit der wir seit vielen Jahren eng kooperieren, eine psychiatrische Institutsambulanz (PIA) innerhalb unserer Einrichtung. Betroffene und ihre Familien können so ambulant Diagnostik und Therapie erhalten. Aus den oben beschriebenen Hilfesäulen und dank verschiedener Geldgeber konnten wir 2019 ein interdisziplinäres Autismuskompetenzzentrum eröffnen. So kann gewährleistet werden, dass die verschiedensten Hilfebedarfe im Autismus-Spektrum schnell, unbürokratisch, gut vernetzt und unter einem Dach bedient werden können. So sind wir als Einrichtung gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern stolz darauf, sagen zu können, dass es uns gelungen ist, Barrieren abzubauen, niederschwellige Zugänge im Sozialraum anbieten zu können. Wir wollen dadurch dazu beitragen, dass der Gedanke der Inklusion nicht nur ein Gedanke bleibt, sondern Tat wird. Zum Imagefilm des Zentrums: https: / / www.haus-nazareth-sig.de/ fileadmin/ user_upload/ Autismuszentrum_Film.mp4 Daniel Hahn Kinderheim Haus Nazareth Brunnenbergstr. 34 72488 Sigmaringen Tel. (0 75 71) 7 20 31 83 E-Mail: daniel.hahn@haus-nazareth-sig.de