unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Gelingende Kooperation im Kinderschutz
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Lisa Schneider
Veit Gutmann
„Wenn die Jugendhilfe an der komplexen Lebenslage junger Menschen ansetzen will, so bedarf es einer ganzheitlichen Betrachtungsweise, die auch die Möglichkeiten und Grenzen anderer staatlicher Maßnahmen im Auge behält.“ (Prof. Dr. Dr. h. c. R. Wiesner 2006). Die Verantwortung für das Wohlergehen junger Menschen ist nicht nur eine Sache Einzelner: Kinderschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die in gemeinsamer Verantwortung wahrgenommen werden muss. Dabei sind Staat und Gesellschaft dafür verantwortlich, Rahmenbedingungen zu schaffen, in welchen verschiedene Fachdisziplinen zum Wohle junger Menschen wirksam zusammenarbeiten. Durch die Ausdifferenzierung von Hilfemöglichkeiten und -angeboten sowie zunehmender Spezialisierung von Institutionen ist dies sowohl mit großen Chancen als auch mit Herausforderungen verbunden. Im Kinderschutz tragen gelingende Kooperationsbeziehungen wesentlich zur Sicherheit betroffener junger Menschen bei, während misslingende Kooperationen als Risikofaktoren zu sehen sind. Wirksame Kooperation gelingt jedoch nicht „einfach so“ und ist keine Selbstverständlichkeit. Vielmehr besteht die Notwendigkeit, dass sich die beteiligten Institutionen über Kooperation verständigen, um so wirksame Kinderschutzarbeit an den Schnittstellen zu verschiedenen Fachdisziplinen vor Ort leisten zu können (vgl. Alle 2017, 169).
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72 unsere jugend, 74. Jg., S. 72 - 82 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art12d © Ernst Reinhardt Verlag Gelingende Kooperation im Kinderschutz Weshalb positive Kooperationsbeziehungen für den Kinderschutz so bedeutsam sind „Wenn die Jugendhilfe an der komplexen Lebenslage junger Menschen ansetzen will, so bedarf es einer ganzheitlichen Betrachtungsweise, die auch die Möglichkeiten und Grenzen anderer staatlicher Maßnahmen im Auge behält.“ (Prof. Dr. Dr. h. c. R. Wiesner 2006) Die Verantwortung für das Wohlergehen junger Menschen ist nicht nur eine Sache Einzelner: Kinderschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die in gemeinsamer Verantwortung wahrgenommen werden muss. Dabei sind Staat und Gesellschaft dafür verantwortlich, Rahmenbedingungen zu schaffen, in welchen verschiedene Fachdisziplinen zum Wohle junger Menschen wirksam zusammenarbeiten. Durch die Ausdifferenzierung von Hilfemöglichkeiten und -angeboten sowie zunehmender Spezialisierung von Institutionen ist dies sowohl mit großen Chancen als auch mit Herausforderungen verbunden. Im Kinderschutz tragen gelingende Kooperationsbeziehungen wesentlich zur Sicherheit betroffener junger Menschen bei, während misslingende Kooperationen als Risikofaktoren zu sehen sind. Wirksame Kooperation gelingt jedoch nicht „einfach so“ und ist keine Selbstverständlichkeit. Vielmehr besteht die Notwendigkeit, dass sich die beteiligten Institutionen über Kooperation verständigen, um so wirksame Kinderschutzarbeit an den Schnittstellen zu verschiedenen Fachdisziplinen vor Ort leisten zu können (vgl. Alle 2017, 169). von Lisa Schneider Jg. 1989; Sozialpädagogin in der Fachgruppe Qualitätsentwicklung Kreisjugendamt Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald, Koordinationsstelle Kinderschutz im Fachbereich Planung, Qualitätsentwicklung und Bildung Veit Gutmann Jg. 1981; Diplom-Sozialpädagoge (FH), Leitung der Fachgruppe Qualitätsentwicklung Kreisjugendamt Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald im Fachbereich Planung, Qualitätsentwicklung und Bildung 73 uj 2 | 2022 Kooperation im Kinderschutz Für eine gelingende Kooperation im Kinderschutz stellen sich folgende Fragen: ➤ Was zeichnet eine gelingende Vernetzung und Kooperation aus? ➤ Wie können Schnittstellen zwischen der öffentlichen Jugendhilfe und anderen Helfersystemen gestaltet werden? ➤ Wie können gemeinsam entwickelte Handlungsabläufe und Vereinbarungen zur Zusammenarbeit mit Leben gefüllt werden? Im vorliegenden Artikel sollen diese Fragestellungen aufgegriffen werden. Neben Grundlagen einer gelingenden Kooperation wird zu den einzelnen Fragestellungen jeweils beispielhaft aufgezeigt, wie die Kooperation mit dem Schulsystem im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald weiterentwickelt und verankert wurde. Kriterien gelingender Kooperation „Kooperation, das allgemeine gesellschaftliche Verhältnis, in dem Menschen aufeinander angewiesen sind: Produkte und Dienstleistungen können nur in Zusammenarbeit mehrerer Menschen erstellt werden.“ (Fuchs-Heinritz et al. 1994, 371) In der Sozialpsychologie wird unter Kooperation die Zusammenarbeit mehrerer Menschen bei der Befriedigung eines sozialen Bedürfnisses oder der Lösung einer Aufgabe verstanden (vgl. Fuchs-Heinritz et al. 1994, 371). Diese Definitionen machen deutlich, dass es in der Kooperation immer um ein gemeinsames Ziel geht, welches in Zusammenarbeit und gegenseitiger Unterstützung erreicht werden soll. Ein klares und umfassendes Bild von der Situation des jungen Menschen und seiner Familie ergibt sich meist erst durch die Zusammenführung verschiedener Beobachtungen und Expertisen. Die Fachkräfte im Kinderschutz, insbesondere die Kinder- und Jugendhilfe, das Gesundheitswesen, Schule, Polizei und Justiz unterscheiden sich dabei in Bezug auf Kompetenzen, Herangehensweisen und Handlungsmöglichkeiten deutlich voneinander. Global lassen sich jedoch auch einige Gemeinsamkeiten all dieser Partner im Kinderschutz feststellen. Das gemeinsame Ziel aller beteiligten Fachdisziplinen im Kinderschutz ist es, das Wohl des jungen Menschen sicherzustellen bzw. dieses wiederherzustellen. Dabei geht es darum, junge Menschen und deren Familien in herausfordernden Lebenssituationen so zu unterstützen, dass diese Entlastung erfahren, ihre Herausforderungen bewältigen können und perspektivisch wieder unabhängig vom Helfersystem werden. Die Kooperationspartner sind dabei bestrebt, in gegenseitiger Akzeptanz und Wertschätzung, Handlungsmöglichkeiten, Kompetenzen und Hilfen zu bündeln, damit diese nahtlos ineinander übergehen und von Familien bestmöglich genutzt werden können. Gelingt ein solches Ineinandergreifen nicht, so besteht gerade an den Schnittstellen zu anderen Institutionen und Helfersystemen ein hohes Risiko, dass der betroffene junge Mensch aus dem Blick gerät (vgl. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen 2007, 22ff ). Im Folgenden werden Gelingensfaktoren der Kooperation dargestellt und hierbei beispielhaft aufgezeigt, wie der Kooperationsprozess im Kinderschutz mit dem Schulsystem im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald gestaltet wurde. Dieser Prozess startete bereits im Jahr 2018. Sowohl vonseiten der Schulsozialarbeit als auch vonseiten der Schule wurde der Bedarf nach mehr Handlungssicherheit im Kinderschutz formuliert. Um diesem Bedarf gerecht werden zu können, wurde aus der Arbeitsgemeinschaft 78 Schulsozialarbeit eine Unterarbeitsgruppe gegründet, bestehend aus VertreterInnen der 74 uj 2 | 2022 Kooperation im Kinderschutz Grund- und weiterführenden Schulen, des Schulamtes, der Schulträger, der Schulsozialarbeit, der Schulpsychologischen Beratungsstelle und des Kreisjugendamtes. Mit dem Ziel, eine alltagspraktische Handhabung zu ermöglichen, wurden gemeinsam Verfahrenswege erarbeitet und visualisiert. Der entstandene Leitfaden soll Fach- und Lehrkräften mehr Handlungssicherheit und Unterstützung in den komplexen Fragestellungen des Kinderschutzes geben und möchte zur Auseinandersetzung mit diesem Thema anregen. Dieser ist im Internet frei zugänglich inklusive der praktischen Arbeitshilfen 1 . 1. Wissen und Umgang mit strukturellen Gegebenheiten unterschiedlicher Fachdisziplinen Eine wesentliche Grundlage für gelingende Vernetzungs- und Kooperationsprozesse ist das Wissen um die strukturellen Rahmenbedingungen sowie der Grenzen und Kompetenzen der beteiligten Helfersysteme. Im Bereich Kinderschutz treffen Fachkräfte aus verschiedenen Professionen und Fachdisziplinen aufeinander. Unterschiedliche Aufträge, unterschiedliche gesetzliche Grundlagen, unterschiedliche berufliche Selbstverständnisse und daraus resultierende unterschiedliche Arbeitsweisen prägen den jeweiligen beruflichen Alltag und damit auch das Zusammenspiel der interdisziplinären Arbeit. Die Grenzen zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und anderen Helfersystemen sind dabei durch unterschiedliche Sozialgesetze markiert, welche die jeweiligen Leistungen begründen. Beispielsweise werden Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe im Sozialgesetzbuch VIII beschrieben, während Leistungen des Gesundheitswesens im Sozialgesetzbuch V definiert werden. Diese unterschiedlichen Arbeitsaufträge und fachlichen Orientierungen müssen allen Kooperierenden bekannt sein. Dies ist die Basis für eine gegenseitige Akzeptanz und das Verstehen von Möglichkeiten und Sichtweisen im Handeln. So kann es gelingen, dass gemeinsame Schnittmengen erkannt, Leistungen und Hilfen sinnvoll miteinander koordiniert und Doppelstrukturen vermieden werden. Die Gefahr, dass Familien an den Übergängen zwischen Helfersystemen durch „Systemlücken“ fallen und weder in dem einen noch dem anderen System Unterstützung erhalten, kann durch das Nutzen von Synergieeffekten beteiligter Partner vermieden werden. Aber nicht nur das Wissen über das Vorgehen und die Aufgabenbereiche anderer Fachdisziplinen ist für eine gelingende Kooperation relevant. Ganz entscheidend ist auch, dass eigene Kernkompetenzen und Aufgabenbereiche klar beschrieben werden können. Im Werkbuch Vernetzung des Modellprojekts „Guter Start ins Leben“ wird in diesem Zusammenhang auf eine Untersuchung über die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei sexuellem Missbrauch aufmerksam gemacht (vgl. Ziegenhain et al. 2010, 41). Hier hat sich gezeigt, dass es den beteiligten Disziplinen sehr viel leichter fiel, Chancen, Grenzen und Aufgabenbereiche der Kooperationspartner zu beschreiben, als das für die eigene Fachdisziplin möglich war. Das zeigt, wie hilfreich es ist, die Sichtweisen der Kooperationspartner einzubeziehen und als eine Art „Spiegel“ für die eigene Institution zu nutzen. Dies unterstützt auch das Wissen über eigene Kernkompetenzen, fördert die realistische Einschätzung über eigene Grenzen und Hürden und trägt wesentlich dazu bei, dass eine wirkungsvolle Kooperation ohne Missverständnisse und Vorurteile gelingen kann. Um Letzteres sicherzustellen, wird von ExpertInnen empfohlen, zu Beginn einer jeden Kooperationsbeziehung Transparenz über die jeweili- 1 https: / / www.breisgau-hochschwarzwald.de/ pb/ Breisgau-Hochschwarzwald/ Start/ Familien+_+Bildung/ Kinder schutz+an+Schulen.html 75 uj 2 | 2022 Kooperation im Kinderschutz gen Herangehensweisen, Strukturen und Entscheidungswege herzustellen. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, über Gelingendes und über Erfolge in der bisherigen Zusammenarbeit zu sprechen. In der Praxis hat sich ein solches Vorgehen als wirksam im Hinblick auf die weitere Zusammenarbeit erwiesen (vgl. Ziegenhain et al. 2010, 40ff ). Impulsfragen: ➤ Auf welche positiven Kooperationserfahrungen kann bereits zurückgeblickt werden? ➤ Was war bisher hilfreich in der gemeinsamen Kooperation? ➤ Wie sind diese Erfahrungen zustande gekommen? ➤ Welche Fach- und Entscheidungskompetenzen liegen dem Kooperationspartner zugrunde? ➤ Welche Aufgabenbereiche übernimmt der Kooperationspartner? ➤ In welche Strukturen und Kommunikationswege ist der Kooperationspartner eingebettet? ➤ Welche Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit sind gegeben? ➤ Nach welchen Verfahrenswegen handelt der Kooperationspartner? Wie lange dauert ein solches Verfahren? Kooperationsprozess der Jugendhilfe mit dem Schulsystem im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald In der Kooperation der Jugendhilfe mit dem Schulsystem wurde zu Beginn des Prozesses innerhalb der Arbeitsgemeinschaft 78 Schulsozialarbeit, in welcher neben der Schulsozialarbeit auch Fach- und Lehrkräfte der Schule vertreten sind, über jeweilige Aufträge und über jeweilige strukturelle Gegebenheiten informiert. Somit wurde Verständnis für Arbeitsweisen, Handlungsgrenzen und Aufträge der beiden Systeme geschaffen. Auch wenn sowohl für Lehrkräfte durch § 4 KKG und § 83 des Schulgesetzes Baden-Württemberg als auch für die Schulsozialarbeit durch § 8 a Abs. 4 SGB VIII ein klarer Auftrag im Kinderschutz formuliert wird, passiert es in der Praxis immer wieder, dass das Thema Kinderschutz an die Schulsozialarbeit „abgegeben“ wird. Durch die rechtliche Darstellung innerhalb der AG 78 Schulsozialarbeit konnte deutlich gemacht werden, dass auch das Schulsystem per Gesetz einen Auftrag im Kinderschutz innehat. Innerhalb des Prozesses wurde auch das Thema der möglichen „Systemlücken“ zwischen der Schule und Schulsozialarbeit im Kinderschutz thematisiert. Fehlt eine Schweigepflichtentbindung, so ist eine Zusammenarbeit zwischen Schule und Schulsozialarbeit lediglich in anonymer Form möglich. Werden also beispielsweise sowohl vonseiten der Schule als auch vonseiten der Schulsozialarbeit Anhaltspunkte einer möglichen Kindeswohlgefährdung bekannt und ist es aufgrund datenschutzrechtlicher Bestimmungen nicht möglich, Informationen über ein Kind zusammenführen, wird jedes System im Rahmen seines gesetzlich definierten Auftrages tätig und leitet entsprechende Schritte zur Sicherstellung des Kindeswohls ein. Passiert dies nicht und verlassen sich möglicherweise beide Systeme aufeinander, kann es passieren, dass wichtige Informationen verloren gehen und das Kind aus dem Blick gerät. 2. Empathie als wesentliche Voraussetzung Neben den strukturellen Gegebenheiten sind auch emotionale Herausforderungen in der Kooperation im Kinderschutz zu berücksichtigen. Soziale Kompetenzen, wie beispielsweise die Fähigkeit zur Empathie, tragen wesentlich zum Gelingen oder Misslingen von Kooperation und Vernetzung bei. Nicht selten bestehen gegen- 76 uj 2 | 2022 Kooperation im Kinderschutz seitige Vorannahmen, hohe Erwartungen oder gar Befürchtungen, die sich hinderlich auf die Kooperation auswirken können. Wie im Kontakt und im Umgang mit betroffenen Familien, ist es auch in der Zusammenarbeit von Kooperationspartnern wichtig, sich in die individuellen Situationen, die Erwartungen und Absichten des jeweils anderen hineinzuversetzen. Dies ermöglicht es, Handlungen abzuschätzen und im konkreten Einzelfall eine Prognose darüber zu treffen, was von dem Partner verlangt und erwartet werden kann. Gesetzliche Rahmenbedingungen spielen dabei unter Umständen eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Gefühl darüber, wie das andere Helfersystem unter den bestehenden Rahmenbedingungen handeln wird. Dabei spielt vor allem das bisherige Verhalten des Partners, die gefühlte Verbundenheit und die eigene Wahrnehmung des anderen (z. B. als zuverlässig) eine wesentliche Rolle. Annahmen und Voraussetzungen über den anderen sind notwendig, um Entscheidungen treffen zu können und das weitere Vorgehen zu planen. Empathische Vorannahmen entstehen, wie bereits erwähnt, häufig auf der Grundlage vergangener Erfahrungen. Dies macht deutlich, dass Veränderungen nicht angeordnet werden können, sondern vielmehr erlebbar gemacht werden müssen. Vorurteile oder Vorbehalte können nur durch gemeinsame emotional geprägte Erfahrungen aufgelöst werden. Solche gemeinsamen Erlebnisse tragen dazu bei, dass Vorstellungen über den anderen verändert werden. Im Kooperationsprozess ist es daher bedeutsam, gemeinsame Erfahrungen beispielsweise in Form von gemeinsamen Fortbildungen oder Workshops zu kinderschutzrelevanten Themen zu organisieren. Hier kann eine neue Gemeinsamkeit entstehen sowie Verständnis über die jeweiligen Wahrnehmungen geschaffen werden. Solche gemeinsamen emotionalen Erlebnisse sind genauso wichtig wie gute Organisationsformen und Strukturen in der Kooperation (vgl. Ziegenhain et al. 2010, 45ff ). Impulsfragen: ➤ Welche Vorannahmen sind gegenüber dem Kooperationspartner wahrzunehmen? ➤ Welche Erwartungen habe ich und welche Erwartungen werden an mich gerichtet? ➤ Welche bisherigen gemeinsamen Erfahrungen prägen die Einstellung und Haltung zum Kooperationspartner? ➤ Sind Widerstände im Umgang mit dem Kooperationspartner erkennbar? Wenn ja: woher stammen diese und wie können sie abgebaut werden? ➤ Welche Haltung ist gegenüber dem Kooperationspartner hilfreich und notwendig? ➤ Wie können neue Gemeinsamkeiten und Haltungen entstehen? ➤ Wie kann ein Verständnis über die jeweiligen Wahrnehmungen geschaffen werden? Kooperationsprozess der Jugendhilfe mit dem Schulsystem im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald Durch die Zusammenstellung einer Unterarbeitsgruppe zum Thema Kinderschutz in der Schule gelang es im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald, Fachkräfte aus den unterschiedlichen Systemen zusammenzubringen. Dadurch war es möglich, sich fallunabhängig und ohne Handlungsdruck mit wichtigen Themen rund um den Kinderschutz zu beschäftigen, auszutauschen und konstruktiv zu diskutieren. Dies ermöglichte es, Verständnis für die Rahmenbedingungen und die Handlungsmotivationen des jeweils anderen Systems zu entwickeln. So wurde zum Beispiel deutlich, dass die Lehrkräfte und die SchulsozialarbeiterInnen tendenziell eher die Bedürfnisse der Kinder im Blick haben und sich als FürsprecherInnen der Kinder sehen, wogegen die Fachkräfte des Jugendamts ergänzend auch die Rechte und Pflichten der Eltern und deren individuelle Situation in den Blick nehmen müssen. Im gemeinsamen Prozess konnte die Notwendigkeit beider Perspektiven für den Kinderschutz verdeutlicht und ein gegenseitiges Verständnis erarbeitet werden. 77 uj 2 | 2022 Kooperation im Kinderschutz 3. Wertschätzende Grundhaltung und Handeln in einer Verantwortungsgemeinschaft Die Haltung der Kooperationspartner untereinander ist geprägt von einem wertschätzenden Umgang und einem Begegnen auf Augenhöhe. Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Vertrauen im Kontakt sind wesentliche Aspekte, die eine wertschätzende und respektvolle Grundhaltung ausmachen. Das bedeutet konkret, dass sich Wertschätzung auch darin ausdrückt, wie die Rahmenbedingungen gemeinsamer Fallarbeit gestaltet werden: Wie werden Absprachen und Vereinbarungen eingehalten? Wie wird mit Ideen und Einschätzungen anderer umgegangen? Wie werden unterschiedliche Einschätzungen behandelt? Zu bedenken ist dabei, dass sich Fachkräfte mit ihrem Arbeitgeber und Träger identifizieren und sich möglicherweise angegriffen fühlen, wenn die eigene Einrichtung oder Institution kritisiert oder abgewertet wird. Es sollte daher ein grundsätzliches Bewusstsein darüber bestehen, dass jede einzelne Person in ihrer Individualität und ihrer Perspektive auf den Fall wichtig und relevant ist, um das Wohl von jungen Menschen zu sichern (vgl. Alle 2017, 173). Durch die Nutzung unterschiedlicher Einschätzungsinstrumente sowie berufsfeldspezifische Wahrnehmungen und Beobachtungen kann es in der Praxis zu Unterschieden in der Gefährdungseinschätzung kommen. Beispielsweise erleben Fachkräfte von Kindertageseinrichtungen die Eltern in der Bring- und Abholsituation des Kindes, während die Sozialpädagogische Familienhilfe tiefere Einblicke in den Familienalltag erlangt. Der oder die zuständige KinderärztIn wiederum erlebt das Kind meist zusammen mit einem Elternteil im Kontext einer medizinischen Untersuchung, wohingegen das Jugendamt der Familie innerhalb eines Hausbesuchs oder im Rahmen eines Hilfeplangesprächs im Amt begegnet. Diese vielfältigen und unterschiedlichen Zugänge zur Familie in Verbindung mit unterschiedlichen diagnostischen Konzepten und Verfahrensstandards können in der Praxis zu widersprüchlichen Gefährdungseinschätzungen führen. Mit diesen Einschätzungen in der Praxis umzugehen, erfordert ein hohes Maß an Konfliktfähigkeit aller Beteiligten. Im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft im Kinderschutz muss es darum gehen, diese Unterschiede gemeinsam zu erörtern und in eine umfassende Gefährdungseinschätzung zu integrieren. Nur so kann es gelingen, dass die erneute Einschätzung der Gefährdungslage des jungen Menschen und die Anpassung des Schutzkonzeptes in angemessener und wirkungsvoller Form erfolgt. Zudem wird so verhindert, dass bei Dissens in der Gefährdungseinschätzung die alleinige Verantwortung für die abschließende Einschätzung an das Jugendamt delegiert wird bzw. Fachkräfte des Jugendamtes bei Dissens in der Gefährdungseinschätzung auf die hoheitliche Aufgabe des öffentlichen Trägers im Kinderschutz verweisen (vgl. Gerber/ Lillig 2018, 74ff ). Impulsfragen: ➤ Welche Gefühle, Haltungen und Gedanken sind beim Kooperationspartner wahrzunehmen? ➤ Welchen wichtigen Beitrag kann der Kooperationspartner zum Prozess leisten? ➤ Wie kann ein offener Umgang mit Kritik und Dissens gestaltet werden? ➤ Wie kann eine konstruktive Konflikt- und Streitkultur zwischen Kooperationspartnern entwickelt werden? ➤ Welche guten Absichten könnten hinter einem schwierig wahrgenommenen Verhalten stecken? ➤ Wann hat mich der Kooperationspartner positiv überrascht? ➤ Welches Potenzial sehe ich im Kooperationspartner? ➤ Wie kann ein Handeln in einer Verantwortungsgemeinschaft gelingen? 78 uj 2 | 2022 Kooperation im Kinderschutz Kooperationsprozess der Jugendhilfe mit dem Schulsystem im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald Die Moderation der Unterarbeitsgruppe sorgte durch eine strikte Ziel- und Lösungsorientierung für einen klaren Rahmen des Prozesses. Dabei stand die zukünftige Zusammenarbeit im Fokus und wie die weitere Zusammenarbeit im Kinderschutz konstruktiv gestaltet werden kann. Auch wenn schwierige Erfahrungen und Kooperationen aus der Vergangenheit wichtige Erkenntnisse lieferten, so war es durch die Ausrichtung auf die Zukunft möglich, sich nicht in Schuldzuweisungen oder Anklagen zu verstricken. Vielmehr entstand durch das gemeinsame Arbeiten an Handlungsleitlinien, in denen jeder Akteur eine wichtige Rolle hat, ein deutliches Gemeinschaftsgefühl. Es war erkennbar, dass sich mögliche Vorbehalte während des Prozesses in eine „positive Unterstellung“ umwandelten, dass jeder und jede das Beste im Sinne des Kinderschutzes erreichen möchte. Dazu trug auch die Klarheit bei, dass keine Meinung mehr wert war als andere und es somit keine Hierarchien im Prozess gab. Weder die Fachkräfte aus dem Schulsystem noch die der Jugendhilfe hatten mehr Redeanteile oder eine herausgestellte Position. Begegnen auf Augenhöhe war das Motto. 4. Gemeinsam abgestimmte Verfahren und Absprachen Damit Unsicherheiten in Bezug auf die Frage „Wer macht was? “ vermieden werden, ist es relevant, dass Vereinbarungen und Absprachen mit beteiligten Kooperationspartnern klar formuliert und genau besprochen werden. Jeder Kooperationspartner soll wissen, was seine Aufgaben sind, wo seine Zuständigkeiten liegen und wer wofür die Verantwortung übernimmt (vgl. Alle 2017, 174). Dies ist insbesondere im Rahmen eines komplexen Hilfesystems und länger andauernden Hilfeprozessen relevant. Nicht selten sind in solchen Konstellationen mehrere Fachkräfte unterschiedlichster Disziplinen gleichzeitig beteiligt. Dabei erleben die verschiedenen Fachkräfte den jungen Menschen und die Familie in sehr unterschiedlicher zeitlicher Intensität, an unterschiedlichen Orten und innerhalb unterschiedlicher Arbeitsaufträge. Damit die vielfältigen Erkenntnisse zu einem komplexen Bild zusammengesetzt werden können, braucht es konkrete Vereinbarungen darüber, welche Informationen und Wahrnehmungen von wem und in welcher Weise in die Einschätzung des Gefährdungsrisikos integriert werden. So kann es gelingen, dass alle Informationen, die im Hilfenetz verfügbar sind, im Rahmen der Gefährdungseinschätzung genutzt werden können (vgl. Gerber/ Lillig 2018, 71ff ). Ein weiterer wichtiger Faktor in der Zusammenarbeit beteiligter Helfersysteme ist ein gleichberechtigter Informationsaustausch und -stand. Wenn alle Fachkräfte relevante Informationen über die Familie und den jungen Menschen erhalten, kann eine aufeinander abgestimmte Zusammenarbeit zum Wohle des jungen Menschen gelingen. Deutlich muss hierbei für alle sein, welche Informationen und Beobachtungen relevant sind und wie zum Schutz der betroffenen Familien mit dem Datenaustausch (siehe Kapitel 5) umgegangen werden soll. Außerdem sollte Transparenz für alle Fachkräfte bezüglich des Inhaltes eines Schutzkonzeptes hergestellt sowie Hilfeziele deutlich benannt werden. Erhalten nicht alle beteiligten Fachkräfte diese Informationen, kann es passieren, dass Eltern widersprüchliche Signale von den HelferInnen erhalten, Hilfestrategien in Konkurrenz zueinanderstehen oder Hilfen nicht die gewünschte Wirkung erzielen (vgl. Alle 2017, 174). Damit es nicht zu einer Schutzillusion kommt, in welcher das Jugendamt davon ausgeht, dass sich Kooperationspartner melden, wenn sich (weitere) Gefährdungshinweise zeigen und 79 uj 2 | 2022 Kooperation im Kinderschutz Institutionen wiederum durch die Kontaktaufnahme des Jugendamtes mit der Familie davon ausgehen, dass der Schutz des Kindes durch die Information des Jugendamtes sichergestellt wird, müssen Anforderungen zum Schutz des jungen Menschen geklärt und mit allen Fachkräften vereinbart werden. Durch klare Absprachen im Hilfenetz kann verhindert werden, dass (weitere) Beobachtungen nicht an Bedeutung verlieren und Kooperationspartner beispielsweise auch nach einer Mitteilung das Jugendamt über weitere wichtige Hinweise informieren (vgl. Gerber/ Lillig 2018, 74ff ). Damit Hilfen, die zum Schutz des Kindes eingerichtet wurden, die gewünschte Wirkung erzielen, müssen zudem Arbeitsaufträge und Rollen klar und verbindlich kommuniziert werden. Unausgesprochene und professionsbezogene Kompetenz- und Verantwortungszuschreibungen erzeugen in einem komplexen Helfersystem Unklarheiten bezüglich der jeweiligen Fallverantwortung. Somit bleibt insbesondere bei hochkomplexen Problemlagen ungeklärt, wer sich konkret um welche Belange kümmert, also welche Person mit welchem Auftrag und welchen Zielen mit der Familie und dem jungen Menschen arbeitet. Wichtige Hilfeaspekte bleiben damit unbearbeitet. Um dem entgegenzuwirken, braucht es in der Praxis organisationsübergreifende Besprechungskulturen, in denen im konkreten Einzelfall Aufträge geklärt und Ziele abgestimmt werden können (vgl. Gerber/ Lillig 2018, 80). Impulsfragen: ➤ Wer hat welche Zuständigkeiten und Kompetenzen? ➤ Wer trifft welche Entscheidungen? ➤ Wie wird sichergestellt, dass alle Kooperationspartner relevante Informationen erhalten? Welche Kommunikationswege können hierzu genutzt werden? ➤ Welche Informationen sind für die Einschätzung der Gefährdung relevant? Wie kann sichergestellt werden, dass Kooperationspartner darüber informiert sind? Kooperationsprozess der Jugendhilfe mit dem Schulsystem im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald Innerhalb des Prozesses stand zum einen die Frage im Mittelpunkt, wie Schule und Schulsozialarbeit des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald im Kinderschutz wirksam kooperieren können und zum anderen, wie die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt gestaltet werden kann. Das Ergebnis des Prozesses ist ein abgestimmtes Ablaufschema, welches auf beide o. g. Fragestellungen Antworten gibt und Möglichkeiten der Kooperation in der konkreten Fallarbeit aufzeigt. Ganz entscheidend hierbei war auch die Klärung der Frage, wer im System Schule zu welchem Zeitpunkt die Fallführung übernimmt und damit auch dafür verantwortlich ist, relevante nächste Schritte einzuleiten und den Gesamtüberblick über den Fallverlauf zu behalten. Nur wenn Unklarheiten in Bezug auf die Fallführung ausgeräumt werden können, kann wirksame Kinderschutzarbeit gelingen. Damit es in der Kooperation mit dem Jugendamt nicht zur oben dargestellten Schutzillusion kommt, war es außerdem wichtig, das Thema der Mitverantwortung (trotz Mitteilung an das Jugendamt) aufzugreifen und dieses inhaltlich in das Ablaufschema zu integrieren. 5. Datenschutzfragen klären Durch das Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes im Jahr 2012 hat der Gesetzgeber gesetzliche Normen zur Informationsweitergabe geschaffen. BerufsgeheimnisträgerInnen haben nach § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) eine Befugnisnorm zur Informationsweitergabe an das Jugendamt, wenn Anhaltspunkte einer möglichen Kindeswohlgefährdung bekannt werden und eigene Möglichkeiten nicht ausreichen, um die Gefährdung abzuwenden. 80 uj 2 | 2022 Kooperation im Kinderschutz Die Bemühungen um mehr Klarheit durch gesetzliche Regelungen sind wichtig und trotzdem braucht es ein Bewusstsein darüber, dass der konkrete Einzelfall eine emotionale Herausforderung darstellt, in dem stets die Auswirkungen auf den Erhalt und Aufbau einer Vertrauensbeziehung zum Familiensystem berücksichtigt werden müssen. Das Abwägen von Für- und Widerargumenten im Einzelfall wird von Anna Freud als „Dilemma des Kinderschutzes“ bezeichnet, in dem „stets früh zu viel oder zu spät zu wenig“ getan wird (Freud/ Goldstein/ Solnit 1988). Dieses Dilemma bleibt trotz aller Veränderungen und Bemühungen des Gesetzgebers weiterhin bestehen. Das Bewusstsein über die Gefahrgeneigtheit des eigenen Handelns und die Aufarbeitung von Fehlern ist in diesem Zusammenhang unerlässlich. Zu bedenken ist im Bereich Datenschutz auch, wie mit Rückmeldungen an mitteilende Kooperationspartner umgegangen werden soll. Dem berechtigten Interesse zu erfahren, wie das Jugendamt im mitgeteilten Fall weiter verfährt, steht die Wahrung des Rechts der Eltern auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber (vgl. Ziegenhain et al. 2010, 43). Durch die jüngste SGB-VIII-Reform hat der Gesetzgeber darauf reagiert, indem er zum einen in § 8 a Abs. 1 SGB VIII festschreibt, dass das Jugendamt bei der Gefährdungseinschätzung mitteilende BerufsgeheimnisträgerInnen in die Gefährdungseinschätzung einbeziehen soll. Zum anderen wurde § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz insofern ergänzt, als dass vonseiten des Jugendamtes nach Eingang einer Mitteilung eine zeitnahe Rückmeldung an BerufsgeheimnisträgerInnen erfolgen soll. Inhaltlich soll rückgemeldet werden, ob das Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte einer Kindeswohlgefährdung bestätigt sieht und ob es zum Schutz des jungen Menschen bereits tätig geworden ist. Der Gesetzgeber bezieht sich mit diesen gesetzlichen Regelungen ausschließlich auf BerufsgeheimnisträgerInnen, worunter beispielsweise eine Erzieherin nicht fällt. Unabhängig davon, ob es sich bei der mitteilenden Person um eine/ n BerufsgeheimnisträgerIn handelt oder nicht, kann immer bei den betreffenden Eltern ein Einverständnis zur Rückmeldung an die mitteilende Institution bzw. Person eingeholt werden. In vielen Fällen ist aber bereits die Information über den Eingang der Mitteilung und die weitere Bearbeitung durch den zuständigen Mitarbeitenden ausreichend und Grundlage einer weiteren gelingenden Kooperation mit der mitteilenden Person bzw. Institution (vgl. Ziegenhain et al. 2010, 43). Kooperationsprozess der Jugendhilfe mit dem Schulsystem im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald Auch Fragen nach datenschutzrechtlichen Bestimmungen zwischen Schulsozialarbeit und Schule sowie zwischen dem Jugendamt und Schule sowie Schulsozialarbeit wurden innerhalb des Prozesses im Landkreis Breisgau- Hochschwarzwald diskutiert und im Ablaufschema festgehalten. Wie oben aufgeführt, besteht durch § 4 KKG für Lehrkräfte die Befugnis zur Datenweitergabe an das Jugendamt, wenn eigene Mittel nicht ausreichen, um die Gefährdung abzuwenden. Für die Schulsozialarbeit wurde in § 8 a Abs. 4 SGB VIII eine Informationspflicht an das Jugendamt formuliert, wenn die Gefährdung nicht anders abgewendet werden kann. In diesen Fällen dürfen Lehrkräfte und müssen SchulsozialarbeiterInnen Daten der Familie an das Jugendamt weitergeben. In Bezug auf die Kooperation von Schule und Schulsozialarbeit verhält sich der Datenschutz etwas komplexer, weshalb dieser Bereich in der Broschüre detailliert aufgenommen und bearbeitet wurde. Es hat sich gezeigt, dass dadurch bereits viele Unsicherheiten in der Zusammenarbeit abgebaut werden konnten. 81 uj 2 | 2022 Kooperation im Kinderschutz 6. Strukturelle Verankerung der Kooperation Die Praxiserfahrung zeigt, dass das Gelingen von Kooperationen oft personenabhängig ist und dass positive aufgebaute Kooperationsbeziehungen eines Mitarbeitenden mit einem Helfersystem nicht ohne Weiteres auf andere Mitarbeitende übertragen werden können. Neben der durchaus notwendigen personenabhängigen Kooperation braucht es daher auch eine klare strukturelle Verankerung der Kooperation, um Anstrengungen Einzelner nachhaltig zu gestalten und nicht vom guten Willen und Engagement einzelner Personen abhängig zu sein. Voraussetzungen hierfür sind ausreichende finanzielle und zeitliche Ressourcen für Kooperations- und Vernetzungsarbeit (vgl. Ziegenhain et al. 2010, 48). Hierzu empfiehlt es sich, neben Verfahrensstandards zur Kooperation im Einzelfall auch Strukturen der fallunabhängigen Kooperation festzuschreiben, zu etablieren und prozessbegleitend von allen beteiligten Helfersystemen zu reflektieren. Darüber hinaus können gegenseitige fallunabhängige Fachberatungen zum jeweiligen Aufgabengebiet dazu beitragen, ein gemeinsames Verständnis der jeweiligen Aufträge, Rollen und Zuständigkeiten zu erlangen. Dies erleichtert den Zugang zum jeweils anderen Helfersystem im konkreten Einzelfall. Im Sinne der nachhaltigen Verankerung von Wissen und Informationen muss sichergestellt werden, dass vereinbarte und festgeschriebene Verfahrens- und Kooperationsstandards kontinuierlich an die Mitarbeitenden weitergetragen und hierzu entsprechende Kommunikationsstrukturen geschaffen werden. Impulsfragen: ➤ Wie können gelingende Kooperationsstrukturen unabhängig von Personen verankert werden? ➤ Welche finanziellen und zeitlichen Ressourcen sind für eine fallunabhängige Kooperation erforderlich? ➤ Welche Strukturen können genutzt werden, um festgeschriebene Kooperationsstandards an die Mitarbeitenden weiterzutragen? Wie kann es gelingen, auch neue Mitarbeitende hierüber zu informieren? Kooperationsprozess der Jugendhilfe mit dem Schulsystem im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald Innerhalb der Unterarbeitsgruppe wurden auch nachhaltige Implementierungsmöglichkeiten diskutiert. Ganz entscheidend war es hierbei, bereits vorhandene Strukturen zu nutzen, um das Thema Kinderschutz zu verankern und gleichzeitig zu überlegen, ob neue Strukturen geschaffen werden müssen. Nach Erstellung der Broschüre erhielten alle Fach- und Lehrkräfte des Schulsystems ein Exemplar der Broschüre. Zudem wurde die Broschüre mit den erarbeiteten Arbeitshilfen auf der Webseite des Landratsamtes zum Download zur Verfügung gestellt. Neue Mitarbeitende der Schulsozialarbeit sind eng an die Fachberatung Schulsozialarbeit des Landratsamtes angebunden und erhalten zu Beginn ihrer Tätigkeit eine Mappe mit allen relevanten Informationen (z. B. Qualitätsstandards in der Schulsozialarbeit). Hier wurde auch die Broschüre zum Kinderschutz mit aufgenommen. Für die Schulsozialarbeit als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe werden außerdem jährlich ganztägige Fortbildungen zum Thema Kinderschutz angeboten, in welcher die Inhalte der Broschüre umfassend aufgegriffen und vertieft werden. Damit auch das Schulsystem erreicht werden kann, wurden Einführungsveranstaltungen zur Broschüre konzipiert, die jährlich in Kooperation mit dem Schulamt stattfinden. Diese Veranstaltungen richten sich an alle Fach- und Lehrkräfte 82 uj 2 | 2022 Kooperation im Kinderschutz im Schulsystem und somit an die Schulsozialarbeit, Träger der Schulsozialarbeit, Schulleitungen, Lehrkräfte, Träger der Schulen und die Schulpsychologische Beratungsstelle. Ziel ist es, über die Broschüre zu informieren und zentrale Inhalte wie das erarbeitete Ablaufschema vorzustellen. Somit gelingt es, dass die Kinder- und Jugendhilfe auch das Schulsystem mit dem Thema Kinderschutz erreicht und Wissen unabhängig von Personen weitergetragen wird. 7. Zusammenfassung Zusammenfassend wurde deutlich, dass gelingende Kooperationsprozesse dann möglich sind, wenn eine innere Haltung zur Zusammenarbeit entwickelt wird und Vorurteile zugunsten offener und transparenter Kommunikation weichen. Eigene Grenzen müssen im Hilfeprozess erkannt und rechtzeitig die Kompetenzen der Kooperationspartner in Anspruch genommen werden. Dabei ist ein respektvoller Umgang mit Kooperationspartnern im Hilfenetz wichtig, um junge Menschen und deren Familien zur Inanspruchnahme der jeweiligen Literatur Alle, F. (2017): Kindeswohlgefährdung. Das Praxishandbuch. Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (2007): Kinderschutz braucht starke Netze. Interdisziplinäre Zusammenarbeit - ein wesentliches Element für einen wirksamen Schutz von Kindern und Jugendlichen. Medienhaus Mintzel-Münch, München Freud, A., Goldstein, J., Solnit, A. (1988): Das Wohl des Kindes. Grenzen professionellen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt Fuchs-Heinritz, W., Lautmann, R., Rammstedt, O., Wienold, H. (1994): Lexikon zur Soziologie. 3. Aufl. Westdeutscher Verlag, Opladen Gerber, C., Lillig, S. (2018): Gemeinsam lernen aus Kinderschutzverläufen. Eine systemorientierte Methode zur Analyse von Kinderschutzfällen und Ergebnisse aus fünf Fallanalysen. Bericht. Beiträge zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz 9. Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH), Köln Wiesner, R. (Hrsg.) (2006): SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar. 3. Aufl. C. H. Beck, München Ziegenhain, U., Schöllhorn, A., Künster, A., Hofer, A., König, C., Fegert, J. (2010): Modellprojekt Guter Start ins Kinderleben. Werkbuch Vernetzung. Süddeutsche Verlagsgesellschaft, Ulm Hilfsangebote zu motivieren und über Verfahren zu informieren. Im Hilfenetz leistet dabei jeder einen wichtigen Beitrag zum Schutz des jungen Menschen. Dabei geht es darum, die Verantwortung im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft gemeinsam zu tragen − unabhängig der festgelegten Verantwortlichkeit für einzelne Schritte. Klare Vorgaben und Absprachen sind dabei unerlässlich, da sie zum einen zu einer wirksamen Zusammenarbeit verhelfen und zum anderen dem Schutz der Fachkräfte dienen (vgl. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen 2007, 39). Lisa Schneider und Veit Gutmann Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald Kreisjugendamt Fachbereich Planung, Qualitätsentwicklung und Bildung Berliner Allee 3 79114 Freiburg im Breisgau Tel. +49 (0) 7 61 21 87 26 10 E-Mail: lisa.schneider@lkbh.de veit.gutmann@lkbh.de
