unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Forschungsergebnisse aus dem Projekt "Resiliente Sozialräume und Radikalisierungsprävention"
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2022
Britta Elena Hecking
Victoria Schwenzer
Das Praxisforschungsprojekt „Resiliente Sozialräume und Radikalisierungsprävention“ (2019-2022) untersucht am Beispiel zweier innerstädtischer Quartiere sozialraumspezifische Risiko- und Schutzfaktoren für die Resilienzbildung gegenüber religiös begründeter Radikalisierung.
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146 unsere jugend, 74. Jg., S. 146 - 157 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art22d © Ernst Reinhardt Verlag Forschungsergebnisse aus dem Projekt „Resiliente Sozialräume und Radikalisierungsprävention“ Das Praxisforschungsprojekt„Resiliente Sozialräume und Radikalisierungsprävention“ (2019 - 2022) untersucht am Beispiel zweier innerstädtischer Quartiere sozialraumspezifische Risiko- und Schutzfaktoren für die Resilienzbildung gegenüber religiös begründeter Radikalisierung. von Dr. Britta Elena Hecking Jg. 1978; ist seit 2021 als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Camino und arbeitet in den Themenfeldern Radikalisierungsprävention und urbane Sicherheit Projektbeschreibung und empirisches Vorgehen Zentrales Ziel des Praxisforschungsprojektes, das im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben! “ vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird, ist es, das Resilienzpotenzial von Sozialräumen näher in den Blick zu nehmen und Handlungsempfehlungen für eine sozialraumorientierte Prävention abzuleiten. Diese sollen auf einer Perspektive beruhen, die gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse mitdenkt und klassismus- und rassismuskritische sowie gendersensible Ansätze einbezieht. Das Praxisforschungsprojekt untersucht das Resilienzpotenzial von Sozialräumen in drei Phasen. Als erstes wurden mögliche Affinisierungs- und Radikalisierungsprozesse in zwei ausgewählten Stadtteilen dokumentiert und Risikofaktoren identifiziert. Darauf aufbauend wurden sozialräumliche Resilienzfaktoren und Strategien von Akteuren im Sozialraum betrachtet, die Radikalisierungstendenzen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen entgegenwirken. Abschließend wurden auf Basis der empirischen Ergebnisse des Forschungsprojektes Schlussfolgerungen für die Präventionsarbeit in Quartieren und sozialräumlichen Netzwerken abgeleitet. Auf Basis der erhobenen Daten entsteht Mitte 2022 ein Handlungsleitfaden für die sozialräumliche Präventionspraxis. Zwei Jugendeinrichtungen sind als Praxispartner eng in das Projekt einbezogen. Sie entwickeln eigene Praxisbausteine zur Thematik Resilienz und Radikalisierung und setzen sie um. Am Beispiel der Praxisbausteine analysieren wir die Wirkung von Präventionsprojekten auf Jugend- Victoria Schwenzer Jg. 1968; ist seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Camino und setzt Evaluationen und Praxisforschungsprojekte in den Themenfeldern Demokratieförderung und Radikalisierungsprävention, Sport, Migration sowie soziale Teilhabe um 147 uj 4 | 2022 Resiliente Räume und Radikalisierungsprävention liche. Forschungsteam und Praxispartner befinden sich im ständigen Austausch, der dazu dient, die Forschungsfragen anhand der Erfahrungen aus der Praxis zu schärfen und die (Zwischen-) Ergebnisse zu reflektieren. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden dazu sowohl sozialräumliche Methoden aus der Stadtsoziologie und -ethnologie als auch qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung angewendet. Ein besonderer Fokus liegt auf einer genderorientierten und rassismuskritischen Forschungsperspektive, die sowohl Radikalisierungsprozesse als auch Präventionsansätze unter einem kritisch-analytischen Blickwinkel beleuchtet. Angewandte Methoden sind u. a. qualitative ExpertInneninterviews mit professionellen und semi-professionellen Akteuren im Sozialraum, Gruppendiskussionen und biografische Interviews mit Jugendlichen/ jungen Erwachsenen sowie teilnehmende Beobachtung im Sozialraum, z. B. Quartiersbegehungen und Mapping- Methoden zur Bedeutung des Sozialraums im Alltag der BewohnerInnen. Ziel unserer empirischen Erhebungen ist eine multiperspektivische Analyse des Risiko- und Ressourcenpotenzials in den zwei ausgewählten Sozialräumen in Bezug auf das Phänomen der religiös begründeten Radikalisierung. Anhand der empirisch erhobenen Daten wollen wir neue Perspektiven auf das Zusammenspiel von Raum, Radikalisierung und Resilienz gewinnen und so einen Beitrag zur Schließung der Forschungslücke der raumbezogenen Radikalisierungsforschung und Resilienzstärkung im Themenfeld der religiös begründeten Radikalisierung leisten. Unter dem Begriff der „religiös begründeten Radikalisierung“ verstehen wir einen Prozess, in dem ein Individuum oder eine Gruppe religiös begründete Denk- und Handlungsweisen mit Bezug auf extremistische Ideologien entwickelt oder übernimmt, die den Normen und Werten einer pluralen und an Menschenrechten orientierten demokratischen Gesellschaft widersprechen, und diese unter Umständen auch mit Gewalt umzusetzen versucht. Im Folgenden geben wir zunächst einen zusammenfassenden Überblick über die für unser Forschungsvorhaben relevanten Ergebnisse aus dem Forschungsstand zu Raum, Radikalisierung und Resilienz und stellen anschließend unsere empirischen (Zwischen-)Ergebnisse zu Risiko- und Resilienzfaktoren dar. Forschungsüberblick Raum, Radikalisierung und Resilienz Im Fokus des Forschungsprojekts liegt das resiliente Potenzial von (Sozial-)Räumen (Schnur 2013; Longstaff et al. 2010). Als „resiliente Räume“ werden hierbei solche Sozialräume verstanden, die die Fähigkeit besitzen, Bedrohungen und Krisen abzufedern oder zu transformieren. Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Konzept der Resilienz (Edler 2019; Rahner 2021) ist die Annahme, dass bestimmte Nachbarschaften - trotz Radikalisierung begünstigender Faktoren - sich nicht zu von Radikalisierung geprägten Räumen entwickeln und folglich über Eigenschaften verfügen müssen, die sie gegenüber potenziellen Risiken „resilient“ machen (Morina et al. 2019; Wimelius et al. 2018). Hierzu untersuchen wir sowohl die Angebote im Sozialraum, die sich explizit als Präventionsangebote verstehen, als auch solche, die ohne präventiven Auftrag dazu beitragen, Schutzfaktoren zu stärken und somit die Ausbildung von Resilienz befördern. Sozialraum Im Rahmen des Praxisforschungsprojekts wird „Sozialraum“ als territorial definierter Stadtteil und sozialer Raum gefasst, der entsprechend den jeweiligen Aktivitäts- und Alltagsräumen der BewohnerInnen auch über die Grenzen des Stadtteils hinausgeht und sowohl in translokale als auch in digitale Sozialräume eingebettet ist (Projekt „Netzwerke im Stadtteil“ 2005). In unserer Empirie untersuchen wir vordergrün- 148 uj 4 | 2022 Resiliente Räume und Radikalisierungsprävention dig Risiko- und Schutzfaktoren in den territorial definierten Interventionsräumen sozialer Stadtentwicklungspolitiken. Auf diese Weise können wir mit unserem Präventionsleitfaden, den wir entwickeln werden, an den bestehenden sozialraum- und quartiersorientierten Ansätzen anknüpfen. Gleichzeitig betrachten wir Raum als Prozess einer fortlaufenden sozialen Raumproduktion (Lefebvre 1991), an der eine Vielzahl von Akteuren - BewohnerInnen, StadtplanerInnen, WissenschaftlerInnen, Fachkräfte der sozialen Arbeit - beteiligt ist. Nach Lefebvre (ebd.) umfasst die Produktion des Raums die wechselseitigen Beziehungen zwischen gelebtem, konzipiertem und wahrgenommenem Raum und ist dabei stets ein machtgeladener Vorgang. Das heißt, dass sich gesellschaftliche Machtverhältnisse in Räumen abbilden und Macht zugleich auch durch den Raum (z. B. über Stadtplanung oder die Aneignung und Besetzung von Räumen) ausgetragen wird. Ein Konzept der Resilienzstärkung, das nicht nur darauf abzielt, Gefahren abzuwenden oder Krisen zu überstehen, sondern auch positive Entwicklungen zu begünstigen, muss von der Offenheit und „Multiplizität“ (Massey 2005) des Raums ausgehen, um eindeutige Zuschreibungen zu vermeiden, die z. B. dazu beitragen können, Stigmatisierung und damit einhergehende negative Entwicklungen zu befördern. Gleichzeitig ist dieses Raumverständnis jedoch auch notwendig, um Radikalisierungsursachen und -verläufe nicht territorial-räumlich einzugrenzen und sowohl den digitalen Raum als auch andere Orte, die im Alltag der Jugendlichen eine Rolle spielen, in der Analyse von Risiko- und Schutzfaktoren mitzudenken. Der territorial definierte Sozialraum wäre demnach ein Knotenpunkt in den Alltags- und Aktivitätsräumen der BewohnerInnen. Aktivitätsräume definiert Massey wie folgt: „the spatial network of links and activities, of spatial connections and of locations, within which a particular agent operates“ (Massey 1995, 54). Ob der Sozialraum eine Bedeutung für die Resilienzstärkung gegenüber religiös begründeter Radikalisierung hat, hängt demnach nicht nur von den Angeboten im Sozialraum, sondern vor allem auch davon ab, ob und wie diese von den BewohnerInnen genutzt werden. Raum und Radikalisierung Radikalisierung begünstigende Faktoren können auf der individuellen, familiären, sozialräumlichen und gesamtgesellschaftlichen Ebene liegen. Durch die räumliche Analyse kann das Zusammenspiel zwischen personellen und strukturellen Faktoren (Vidino et al. 2017, 77) gut in den Blick genommen werden. Das Bild von Armutsquartieren als potenzielle „Hochburgen der Radikalisierung“ (Vidino et al. 2017; Varvelli 2016; Hüttermann 2018) ist in medialen Diskursen weit verbreitet, in der Forschung jedoch umstritten. Vidino et al. betonen, dass es keinen monokausalen Zusammenhang zwischen dem Aufwachsen in einem „marginalisierten“ Sozialraum und damit einhergehender mangelnder sozioökonomischer Integration und Radikalisierung gibt (Vidino et al. 2017, 84). Allerdings kann, so auch unsere Annahme, die Verdichtung und das Zusammentreffen von Risikofaktoren, die im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit stehen (z. B. schulische Misserfolge, Perspektivlosigkeit, das Fehlen attraktiver Jugendangebote, Konflikte mit der Polizei sowie Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen im Alltag) bei gleichzeitiger Präsenz radikaler Akteure im Quartier möglicherweise Radikalisierung begünstigen. Dies kann besonders dann zutreffen, wenn deren Anwerbestrategien gezielt an die Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen der BewohnerInnen anknüpfen und diesen Erfahrungen ein starkes Gefühl von Gemeinschaft und Ermächtigung sowie attraktive Freizeitangebote für Jugendliche entgegensetzen. Diese Anwerbestrategien können auch im digitalen Raum erfolgen. Es kann dann von einer erhöhten Gefahrenaussetzung oder Exposure (Bouhana 2019) gesprochen werden, die sich aus dem Zusammen- 149 uj 4 | 2022 Resiliente Räume und Radikalisierungsprävention wirken individueller, sozialräumlicher und struktureller Risikofaktoren und „Gelegenheiten“, also aus radikalen Angeboten, die online und/ oder im Sozialraum verfügbar sind, ergibt. Um eine weitere Stigmatisierung von Stadtteilen und ihren BewohnerInnen durch diesen Fokus zu vermeiden, ist es wichtig, die Mechanismen der Marginalisierung, die Exposure und die daraus resultierende Vulnerabilität der BewohnerInnen als Erklärung in den Vordergrund zu stellen. Die daraus abgeleiteten zuschreibenden Kategorien, die häufig als Indikatoren für eine Vielzahl von Problemen genannt werden, wie z. B. die Anzahl alleinerziehender Haushalte, der Anteil an Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ etc., tragen mehr zur Stigmatisierung als zur Erklärung der Mechanismen bei: „Der Migrationshintergrund oder das Quartier allein tragen keine Erklärungskraft. Für eine Erklärung brauchen wir einen Mechanismus. Ein Problem mit marginalisierten Jugendlichen ist also primär ein Problem der Exklusion aufgrund von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital“ (Blokland/ Šerbedžija 2018, 7). Ebenso muss betont werden, dass sich die Mehrheit der BewohnerInnen marginalisierter Räume nicht radikalisiert, die oben genannten Faktoren also immer im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren wirken und bei Weitem nicht alle Radikalisierungsbiografien auf die Kontexte marginalisierter Quartiere zurückzuführen sind: So deckt sich die „Karte der Radikalisierung“ nicht mit der „Karte verarmter Nachbarschaften“ (Roy 2017, 34). Dem Sozialraum kommt, so unsere Annahme, vor allem in der Resilienzstärkung gegenüber Radikalisierung eine hohe Bedeutung zu, weil hier Potenziale liegen, Jugendliche sowie ihre Familien durch langfristige und umfassende Präventionsstrategien zu stärken und an bereits vorhandene Netzwerke, soziale Angebote und sozialräumliche Potenziale anzuknüpfen. Wenn wir davon ausgehen, dass Radikalisierung ein komplexer multikausaler Prozess ist, dann liegt das Potenzial des raumbezogenen Blicks auf Radikalisierung vor allem darin, langfristige und auf die Bedürfnisse eines Sozialraums zugeschnittene Strategien zur Resilienzstärkung zu entwickeln. Resiliente Sozialräume In der Forschung, die sich mit der Resilienz von Räumen, Quartieren oder Communities befasst, wird unabhängig vom „Bedrohungsszenario“ die Fülle und Diversität von Ressourcen als wichtige Voraussetzung für die Ausbildung von Resilienz benannt. Um die Ressourcen einer Community in ihrer Fülle und Diversität nutzen zu können, bedarf es laut Longstaff et al. (2010) der Anpassungsfähigkeit (adaptive capacity). Diese Fähigkeit basiert auf den Möglichkeiten von Personen und Gruppen, Erfahrungen zu bewahren und zu erinnern und diese zu nutzen, um daraus zu lernen und Innovationen zu entwickeln. Anpassungsfähigkeit bedeutet auch die Fähigkeit, Ressourcen neu zu organisieren, um sich an die sich ändernden Anforderungen der Umgebung anzupassen. Wichtig ist außerdem für die Anpassungsfähigkeit eines Sozialraums oder einer Community, dass sich die Akteure mit anderen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft vernetzen, um Erfahrungen und Wissen zu kommunizieren, sich gegebenenfalls zu (re-)organisieren oder um Ressourcen von außen zu erhalten (Longstaff et al. 2010, 7). Die Fähigkeit einer Community, zu lernen und innovativ zu sein, hängt darüber hinaus von den Möglichkeiten der einzelnen Mitglieder und Gruppen der Community ab, aus Versuchen und Fehlern zu lernen (trial and error). Denn daraus entstehen Wissen und eine „institutionelle Erinnerung“ (institutional memory) daran, welche neuen Ideen, Prozesse und Organisationsformen funktionieren und welche nicht (Longstaff et al. 2010, 8). Für die Resilienzstärkung gegenüber religiös begründeter Radikalisierung und die sozialraumorientierte Präventionsarbeit würde dies folglich bedeuten, modellhafte Ansätze zu entwickeln, die das Fehler-Machen zulassen und 150 uj 4 | 2022 Resiliente Räume und Radikalisierungsprävention das Erfahrungswissen der BewohnerInnen und Akteure einer Kommune sammeln: Welche Konflikte gab es in der Vergangenheit? Wie wurde damit umgegangen? Wie könnte es heute besser gemacht werden? Ein weiterer Faktor, durch den Resilienz gegenüber Radikalisierung beeinflusst werden kann, ist die kollektive Wirksamkeit (Bouhana 2019; Schröder et al. 2019). Das Konzept der kollektiven Wirksamkeit kommt aus der Stadtsoziologie und Kriminologie (Sampson 2012). Als kollektive Wirksamkeit wird die Fähigkeit einer Community bezeichnet, Probleme gemeinsam zu lösen. Kollektive Wirksamkeit entsteht nach Sampson vor allem in Communities, in denen der Zusammenhalt ausgeprägt ist, basierend auf gemeinsamen Interessen und Werten, und in denen eine vertrauensbasierte Beziehung zu staatlichen Institutionen sowie zu sozialen und zivilgesellschaftlichen Akteuren besteht (ebd.). Die Feststellung, ob ein Quartier über kollektive Wirksamkeit verfügt, kann demnach ein Indikator für die Resilienz des Quartiers sein. Sampson (2012, 178) betont, dass kollektive Wirksamkeit nicht nur zur Gewaltreduzierung, sondern zum allgemeinen Wohlbefinden einer Community beiträgt. Auch zeigt sich, dass bestimmte Nachbarschaften trotz struktureller Problemlagen über eine ausgeprägte kollektive Wirksamkeit verfügen. Ein Grund hierfür ist die „collective civic action“ (ebd., 178) einer Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die community-orientiert arbeiten und damit die Folgen anhaltender Armut und anderer sozialer Herausforderungen abmildern (ebd., 209). Neben diesen spezifischen sozialräumlichen Schutzfaktoren tragen auch weitere Schutzfaktoren, die aus der Radikalisierungsforschung bekannt sind (wie z. B. funktionale Familienbeziehungen, Demokratiebildung, interreligiöser Dialog, Partizipationsmöglichkeiten, siehe auch Sieckelinck/ Gielen 2018), dazu bei, Resilienzen der Kinder und Jugendlichen und somit auch des Sozialraums zu stärken. Ausgehend von diesen theoriegeleiteten Annahmen zur sozialräumlichen Resilienz gegenüber religiös begründeter Radikalisierung und anhand unserer ersten empirischen Ergebnisse haben wir Risiko- und Resilienzfaktoren identifiziert, die in den beiden Stadtteilen in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlichen Konstellationen präsent sind. Empirische Ergebnisse: Risikofaktoren In beiden Fällen handelt es sich um innerstädtische Großstadtquartiere mit historischer Einwanderungsgeschichte. Beide Stadtteile, der eine davon stärker als der andere, sind marginalisierte Stadtteile im Kontext städtischer Ungleichheit. Durch den Status als Interventionsquartiere sozialer Stadtentwicklungspolitiken verfügen beide Sozialräume über eine gut ausgebaute soziale Infrastruktur mit vielfältigen Angeboten für die BewohnerInnen, die auch durch von BewohnerInnen gegründeten Initiativen und Projekten geprägt ist. Die Auswahl der beiden Stadtteile erfolgte auf der Annahme, dass in beiden Stadtteilen sowohl bestimmte Risikoals auch Schutzfaktoren vorhanden sind. Durch den sozialräumlichen Blick auf Radikalisierung haben wir zum einen Radikalisierungsfaktoren auf der individuellen (wie z. B. persönliche Krisenerfahrungen), gruppenbezogenen (wie z. B. Peer-Beziehungen) und strukturellen Ebene (wie z. B. Rassismuserfahrungen) in den Blick genommen, die sich im Sozialraum niederschlagen. Zum anderen analysieren wir auch sozialräumliche Faktoren - damit bezeichnen wir Faktoren, die im direkten Zusammenhang mit dem Sozialraum als Sozialisations-, Erfahrungs- und Begegnungsraum und/ oder mit den städtebaulichen Strukturen stehen. Die Faktoren auf den unterschiedlichen Ebenen stehen, wie durch die räumliche Analyse sehr deutlich wird, miteinander in Beziehung, sie addieren sich nicht einfach, sondern verschränken sich sowohl in der Beeinflussung der Anfälligkeit für Radikalisierung als auch in Bezug auf Radikalisierungsverläufe. Im Folgenden geben wir einen Überblick. 151 uj 4 | 2022 Resiliente Räume und Radikalisierungsprävention Im Sozialraum agierende islamistische Akteure und Rekrutierungsversuche Junge Menschen sind heute insbesondere durch das Internet immer und überall der Gefahr ausgesetzt, mit den Angeboten extremistischer Ideologien in Kontakt zu kommen. Die Rückkoppelung oder Wechselwirkung zwischen digitalen und lokalen Sozialräumen ist empirisch jedoch schwer zu erfassen. Festgestellt werden kann jedoch, dass sich die Exposure erhöht, wenn radikale Akteure in den Aktivitätsräumen der BewohnerInnen aktiv sind und dort gezielt versuchen, Jugendliche zu rekrutieren, indem sie an den Themen und Bedürfnissen der Jugendlichen anknüpfen: „Also diese Anwerbeversuche finden eigentlich so ähnlich wie die aufsuchende Arbeit statt. Also sie sind auch komplett im Kiez unterwegs und laufen herum und sprechen dich an, sprechen mich auch als Schwester an und den anderen als Bruder an und (fragen), ob die nicht mal Tee trinken wollen. Dann gibt es andere Versuche, also zum Beispiel bei uns, da sind sie mit so fetten Autos vorbeigekommen. Richtig so Mercedes, BMW und sagen so: ,He komm, wollen wir nicht mal eine Tour machen? ‘“ (I_A_1 b) Hier können nach Ansicht von InterviewpartnerInnen vor allem die gute materielle Ausstattung und die attraktiven Freizeitangebote islamistischer Gruppierungen eine Rolle in der erfolgreichen Anwerbung spielen. Auch die Anerkennung und das starke Gemeinschaftsgefühl sowie eine leicht verständliche religiöse Sprache und ein Gerechtigkeitsdiskurs, der u. a. auch Ausgrenzungs- und Rassismuserfahrungen der Jugendlichen aufgreift, können zum Erfolg der Rekrutierung beitragen. Manchmal versuchen radikale Akteure auch, aus Moscheen heraus zu agieren und andere Gläubige zu rekrutieren. Hier kann ein frühes Eingreifen durch den Imam oder den Moscheevorstand, z. B. durch ein Rekrutierungs- oder Hausverbot, dazu beitragen, dass diese sich nicht im Quartier verankern. Peer- und Familienkonflikte im Sozialraum Die Präsenz von Gewalt und Kriminalität im Stadtteil kann zum Risikofaktor für Radikalisierung werden, weil die Radikalisierungsforschung zeigt, dass Gewalt- und Kriminalitätserfahrungen eine Rolle in Radikalisierungsbiografien spielen (Neumann 2020) und es verschiedene Schnittstellen zwischen kriminellen und extremistischen Milieus gibt (Ilan/ Sandberg 2019). Eine Bedeutung spielt z. B. die ideologisch begründete Legitimation krimineller Handlungen: „Ich glaube, niemand würde sich ja selber als den wilden Jungen oder das böse Mädchen betrachten. Und ich meine, wenn man quasi die Aussicht hat, das Ganze ist religiös legitimiert, wie ich mich verhalte (…), ist das im Zweifelsfall natürlich attraktiver, als nur kriminell zu sein oder nur der böse Junge zu sein.“ (I_A_13) In Bezug auf den Risikofaktor „Gewalt“ spielt der Sozialraum sowohl als Sozialisations-, Erfahrungs- und Begegnungsraum eine Rolle, z. B. auch in Bezug auf den Einfluss von Peer-Beziehungen. So können Jugendliche über ihre FreundInnen mit radikalen Angeboten in Berührung kommen, insbesondere wenn diese sich in Alltagsräumen bewegen, die keine Berührungspunkte mit den sozialen Einrichtungen im Quartier haben und sie somit nicht von pädagogischen Fachkräften beaufsichtigt und begleitet werden. Diese Gefahr ist besonders dann groß, wenn diese Jugendlichen in instabilen oder dysfunktionalen Familien aufwachsen und auch hier keine an den Bedürfnissen des Kindes orientierte Kommunikation stattfindet oder positive Bindungen vorhanden sind. Gibt es in einer Familie z. B. keine offene Gesprächskultur oder werden Themen tabuisiert, werden womöglich bestimmte Bedürfnisse der Jugendlichen oder Frühwarnzeichen für Radikalisierung nicht bemerkt. Gut funktionierende familiäre Beziehungen oder Bindungsarbeit durch Fachkräfte sind hingegen ein wichtiger Schutzfaktor: 152 uj 4 | 2022 Resiliente Räume und Radikalisierungsprävention „Und da hilft es, dass man die Eltern dazu immer ermutigt und sagt, wie wichtig das ist (ergänzt: den Kontakt zu den Kindern zu halten), weil die Eltern früher immer glücklich waren, wenn die Kinder im Zimmer waren. ,Ach, mein Kind ist ganz lieb, der macht ja nichts. Was will die Lehrerin mir da erzählen über mein Kind! Der ist doch die ganze Zeit in seinem Zimmer.‘ Aber was in dem Zimmer läuft, mit dem Handy läuft oder mit der Playstation läuft, wissen die gar nicht, welche Freunde sie haben, wissen die gar nicht. Und die gehen nur davon aus, mein Kind ist ganz lieb und zu Hause und ganz ruhig (…). Und das ist ja mit der Radikalisierung auch so. Wenn das Kind ganz ruhig zu Hause ist und immer im Zimmer ist, dann denken die Eltern, da läuft alles gut. Und diese Einsicht zu ändern, dass die Eltern sich doch mehr einbringen sollen, ist sehr wichtig.“ (I_A_9) Häufig spielen in Radikalisierungsprozessen jugendphasentypische Faktoren eine Rolle: Die Hinwendung zu radikalen Gruppen kann ein Ausdruck für provozierendes Verhalten und eine Form des Protests gegenüber der Gesellschaft oder dem Elternhaus sein. Dabei kann die Desillusion über gesellschaftliche Differenzen zwischen Realität und jugendlichen Idealen eine Rolle spielen sowie angestaute Frustrationen und persönliche Krisenerfahrungen, z. B. Coming-of-Age-Probleme. Auch so genannte provokative oder konfrontative religiöse Aussagen und Praktiken, die mit dem Islam begründet werden, z. B. in Bezug auf das Thema Fasten oder die „richtige“ Kleidung, wurden von unseren InterviewpartnerInnen teilweise mit dem Thema der religiös begründeten Radikalisierung in Verbindung gebracht. Diese müssen unserer Einschätzung nach jedoch nicht unbedingt ein eindeutiges Zeichen für eine Radikalisierung sein, dennoch erfordern sie in jedem Fall pädagogische Interventionen (vgl. Nordbruch 2016). Mit Blick auf den Sozialraum müssen die pädagogischen Interventionen sich daran orientieren, dass der Sozialraum für alle Jugendlichen ein sicherer und inklusiver Raum bleibt und sich nicht bestimmte Dominanzen etablieren, die mit Ausgrenzung und Abwertung einhergehen. Neben den individuellen und gruppenbezogenen Faktoren spielen in den von uns untersuchten Sozialräumen strukturelle Faktoren eine Rolle, die mit Ungleichheiten und dem Mechanismus der Marginalisierung in Verbindung stehen. Auch diese liefern keine monokausalen Erklärungen, können sich jedoch mit den anderen Faktoren verschränken. Benachteiligungs- und Ausgrenzungserfahrungen von BewohnerInnen Jugendliche, die in marginalisierten Quartieren aufwachsen, sind oftmals auf mehreren Ebenen von Benachteiligung und Diskriminierung betroffen, was mitunter dazu führen kann, dass Jugendliche nicht nur aufgrund ihrer Herkunft und ihres sozialen Status, sondern auch aufgrund ihrer Adresse stigmatisiert werden. Oftmals schon früh gescheiterte Bildungskarrieren können Orientierungs- und Perspektivlosigkeit verursachen und jungen Menschen das Gefühl vermitteln, „abgehängt zu sein“. Hinzu kommen Einkommensarmut und daraus folgende Unsicherheiten im Alltag sowie oftmals beengte Wohnverhältnisse und damit das Fehlen von Rückzugsräumen für Jugendliche sowohl zu Hause als auch im öffentlichen Raum - insbesondere dann, wenn Jugendliche im öffentlichen Raum der Stadt als Sicherheitsproblem wahrgenommen werden und dadurch womöglich auch diskriminierenden Polizeipraktiken ausgesetzt sind. Rassismus erleben Jugendliche auch in der Schule, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und in allen Bereichen des Alltags: 153 uj 4 | 2022 Resiliente Räume und Radikalisierungsprävention „Weißt du, du hast diese Diskriminierung, diesen Rassismus eigentlich immer, ja, du hast ihn immer. Es kommt immer darauf an, wie du damit umgehst. Ich finde, es spielt eine sehr große Rolle, weil du eigentlich die ganze Zeit dabei bist, dich beweisen zu müssen, ja. Und es ist nur, weil du einen anderen Namen hast. Du hast ja nicht mal eine andere Herkunft. (…) Genau, (…) und du musst wirklich immer kämpfen, du musst halt dein Leben lang, dein Leben lang kämpfen, ja, weil du nicht Barbara, sondern Basak heißt.“ (I_A_1b) Zwischenfazit Da sich bestimmte individuelle, gruppenbezogene, sozialräumliche und strukturelle Faktoren im Quartier verdichten und diese Faktoren wiederum gezielt von radikalen Akteuren in ihren Ansprachen online oder vor Ort aufgegriffen werden, kann von einer erhöhten Exposure für Radikalisierung in den von uns untersuchten Sozialräumen gesprochen werden. Dennoch bleibt die religiös begründete Radikalisierung in den von uns untersuchten Sozialräumen eine Randerscheinung. Daraus folgern wir, dass es in den beiden Stadtteilen auch Schutzfaktoren geben muss, die in ihrem Zusammenspiel dazu beitragen, „resiliente Sozialräume“ zu schaffen. Resilienzfaktoren Radikalisierung wird in der Forschung als komplexes Phänomen und multifaktorieller Prozess beschrieben, der niemals durch monokausale Zusammenhänge erklärt werden kann und auch nicht eindeutig vorhersehbar ist, z. B. in Bezug auf soziale Profile und/ oder mögliche Gründe für Radikalisierungsprozesse. Daraus folgt, dass es auch nicht den einen richtigen Ansatz der Prävention oder den wichtigsten Resilienzfaktor gibt. Der sozialräumliche Fokus bringt auch hier den Vorteil, das Zusammenspiel verschiedener Schutzfaktoren in den Blick zu nehmen und je nach der Präsenz und Gewichtung von Risikofaktoren vor Ort sozialraumspezifische Konzepte zur Resilienzstärkung und Radikalisierungsprävention zu entwickeln. Viele dieser Faktoren haben auch unabhängig vom Bedrohungsszenario eine das Quartier stärkende und somit positive Entwicklungen fördernde Wirkung. Wichtig ist zu betonen, dass wir die positiven Entwicklungen hier aus einer machtkritischen und emanzipatorischen Perspektive heraus definieren und dabei den Fokus auf die Sicherheit, das Empowerment und die Teilhabe der BewohnerInnen richten. Die Vielzahl der von uns identifizierten Schutzfaktoren haben wir in Bezug auf folgende Kriterien sortiert: 1. Sozialräumliche Resilienzfaktoren 2. Strategien und Ansätze zur Resilienzstärkung 3. Radikalisierungsprävention Sozialräumliche Resilienzfaktoren Unter sozialräumlichen Resilienzfaktoren verstehen wir solche Faktoren, die mit der baulichen, sozialen und kulturellen Textur des Sozialraums zusammenhängen. Oftmals sind das im Sozialraum vorhandene Rahmenbedingungen, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben. Somit sind viele der von uns identifizierten sozialräumlichen Resilienzfaktoren auch nur langsam oder durch langfristige Strategien veränderbar. Eine wichtige Voraussetzung für die Ausbildung von Resilienz ist die Fülle und Diversität von Ressourcen und sozialen Infrastrukturen. Dazu gehören auch die gute Vernetzung und etablierte Zusammenarbeit zwischen Akteuren des Sozialraums, z. B. zwischen Quartiers-, Sozial- und Jugendarbeit sowie zwischen kommunaler Verwaltung und Polizei. 154 uj 4 | 2022 Resiliente Räume und Radikalisierungsprävention Zu den „gewachsenen“ Strukturen gehören z. B. auch das Miteinander und der Zusammenhalt im Quartier, der durch ein Gefühl der Zugehörigkeit zum Stadtteil/ zur Stadt gestärkt wird, und eine aktive Zivilgesellschaft, die sich mit Initiativen und Projekten einbringt: „Durch das Vorhandensein von vielen stadtteilbezogenen linken und migrantischen Gruppen, die das gemeinsam auf die Beine stellen. Das macht das Quartier so bunt und erfolgreich auch in dem Sinne, dass es extrem viele Leute auch anzieht, und das seit vielen, vielen Jahren schon. Und zumindest diese Struktur an Vereinen und Gruppierungen gibt es in anderen Stadtteilen tatsächlich nicht.“ (I_B_2) Nur wenn die BewohnerInnen einander vertrauen und ein Interesse am sozialen Gemeinwesen haben, können Gefahren oder Bedrohungen gemeinsam abgewendet werden. Hierfür spielen Erfahrungen kollektiver Wirksamkeit, also das Vertrauen, gemeinsam etwas erreichen zu können, eine Rolle, aber auch kollektive Erinnerungen, z. B. an erfolgreich bewältigte Probleme in der Vergangenheit, die ein Lernen aus Fehlern oder Erfahrungen ermöglichen. In einem der von uns untersuchten Sozialräume fand ein solcher Lernprozess am Beispiel erfolgreicher Gewaltprävention statt. In diversen Stadtteilen kann das Vorhandensein migrantischer Selbstorganisationen Resilienz stärkend wirken, insbesondere wenn diese Organisationen empowernde und Teilhabe fördernde Ansätze verfolgen und z. B. dafür sorgen, dass es für die im Quartier lebenden Minderheiten „Safer Spaces“ gibt. Letztendlich braucht ein Quartier auch informelle Begegnungsräume. Diese können sowohl im öffentlichen Raum vorhanden sein - z. B. ein öffentlicher Platz mit Sitzgelegenheiten - als auch ein offenes Café in einem Nachbarschaftstreff oder einen Kiosk umfassen. Solche Räume sind wichtig für den Austausch von Neuigkeiten, Informationen und Erfahrungen und können so zur Etablierung einer aktiven und solidarischen Nachbarschaftskultur beitragen. Strategien und Ansätze zur Resilienzstärkung Viele Ansätze wirken nicht nur spezifisch gegenüber der Gefahr der Radikalisierung, sondern auch gegen andere Bedrohungen oder Gefahren wie Phänomene gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Gewalt und Ausgrenzung. Eine wichtige Rolle für die Resilienzstärkung gegenüber religiös begründeter Radikalisierung im Quartier spielen Akteure aus dem sozialen Bereich. Eine wichtige Voraussetzung hierfür sind qualifizierte Fachkräfte. Denn schon allein eine professionelle Bindungsarbeit und Unterstützung bei alltäglichen Problemen und Herausforderungen trägt zur Resilienzstärkung bei. Bildungsangeboten kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Angebote zur schulischen Unterstützung und/ oder beruflichen Orientierung wirken gegen Perspektivlosigkeit und Frustration - ein häufig genannter Risikofaktor. Sie können zu Bildungsgerechtigkeit beitragen, weil sie mangelnde Bildungschancen und Benachteiligungen ausgleichen. Ansätze der religiösen, interreligiösen und politischen Bildung können dazu beitragen, Feindbilder und einseitige Perspektiven zu dekonstruieren. Häufig werden Angebote der religiösen oder politischen Bildung auch mit Ansätzen der Antidiskriminierungsarbeit und mit Empowerment-Strategien verknüpft, z. B. auch in Bezug auf die Auseinandersetzung mit und „Aneignung“ von sozialräumlichen Stigmata. Empowerment-Strategien werden zugleich aus rassismuskritischer und sexismuskritischer Perspektive entwickelt, um z. B. auch gezielt Mädchen und Frauen mit Rassismus- und Sexismuserfahrungen zu stärken. Auch Projekte aus dem Bereich der Gewaltprävention können eine Resilienz stärkende Wirkung gegenüber der religiös begründeten Radikalisierung haben, z. B. im Hinblick auf das Erlernen von Kompetenzen wie Widerspruchstoleranz oder Kompetenzen zum Umgang mit Konflikten. Von Fachkräften der Radikalisierungsprävention wird häufig bemängelt, dass Eltern nicht erreicht werden. Hier kann der sozialräumliche 155 uj 4 | 2022 Resiliente Räume und Radikalisierungsprävention Ansatz genutzt werden, um über mögliche „Brückenpersonen“ mit Eltern im Quartier zu arbeiten, was in den von uns untersuchten Quartieren gut gelingt. Eltern können auch durch Bildungsangebote gestärkt werden, z. B., um eine gute Kommunikationskultur in der Familie zu entwickeln, um mit ihren Kindern im Dialog zu bleiben und persönliche Krisen und Probleme rechtzeitig wahrzunehmen. „Und da ermutigen wir als Verein die Eltern sehr. Und dann haben wir auch sehr positive Rückmeldungen davon bekommen (…) Und dann sind die Kinder auch offener gegenüber den Eltern und nicht so verschlossen halt, weil wenn die Kinder sehen, ,Ach, meine Mutter hat ja gar kein Interesse an mir‘, dann wenden sie sich an jemand anderen, (…) statt zu sehen, ,Ah, meine Eltern haben doch Interesse, dann erzähle ich denen mal, was im Alltag so passiert.‘“ (I_A_9) Radikalisierungsprävention Wenn Radikalisierung als Bedrohung im Sozialraum wahrgenommen wird, ist es wichtig, dass spezifische Ansätze der Radikalisierungsprävention genutzt werden und z. B. ExpertInnen aus dem Themenfeld in die Sozialraumarbeit einbezogen werden, zum Beispiel wenn bekannt wird, dass Jugendliche im Internet oder vor Ort mit radikalen Angeboten in Kontakt kommen oder bestimmte Einstellungsmuster beobachtet werden, die auf eine Radikalisierung oder auf den Einfluss radikaler Akteure hindeuten können. In diesem Fall kann mit Ansätzen der Radikalisierungsprävention gearbeitet werden, die z. B. Bindungs- und Vertrauensarbeit mit politischen und religiösen Bildungsangeboten kombinieren. Diese können dann zu spezifischen Themen arbeiten, die im Radikalisierungsprozess womöglich eine Rolle spielen, z. B. mangelnde Ambiguitätstoleranz, eine Überhöhung der eigenen religiösen Identität und eine Abwertung anderer Religionen oder nichtreligiöser Menschen. Ebenso trägt die Qualifizierung der Fachkräfte dazu bei, Resilienz zu stärken, wenn diese in der Lage sind, Anzeichen für Radikalisierung zu erkennen, und/ oder wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie unsicher sind. Der Vorteil von ExpertInnen aus dem Kiez ist, dass die Präventionsarbeit dann auf der Bindungs- und Vertrauensarbeit aufbauen kann. Das ist insbesondere auch für die Fallbegleitung und Deradikalisierung von Vorteil. Gleichzeitig können auch externe Akteure beratend hinzugeholt werden. Hierzu ist es wiederum wichtig, dass der Sozialraum nicht nur intern, sondern auch über seine Grenzen hinaus vernetzt ist. „Da ging es eben darum, diskriminierungssensible Orte zu schaffen. Und da hatte X gemeint, dass es wichtig ist, dass es wirklich auf allen Ebenen stattfindet, dass es nicht reicht, irgendwie das Bodenpersonal zu schulen, sondern es muss auch die Leitungsebene mitziehen. Und bei so einem Projekt, Antiradikalisierung, da müssen einfach alle an einem Strang ziehen. Das ist die Kommune, das sind die Schulen, das ist die Polizei und das ist die Jugendarbeit. Aber man muss es immer gesamt denken, sowohl um Tendenzen zu erkennen und eben halt diese Fehler nicht zu machen, die dazu führen.“ (I_A_5) Fazit Das Potenzial des sozialräumlichen Blicks auf Resilienz gegenüber religiös begründeter Radikalisierung liegt in der multidimensionalen Betrachtung verschiedener Schutzfaktoren. Diese Perspektive bezieht sowohl räumliche als auch individuelle und strukturelle Ebenen ein. Der sozialraumorientierte Ansatz ermöglicht somit ein holistisches Vorgehen und fasst Radikalisierung sowie deren Prävention als multikausalen und komplexen Prozess. Er erleichtert Kooperationen - da diese häufig auf sozialräumlicher Ebene schon bestehen - und ermöglicht Zugänge, die in der Radikalisierungsprävention oft schwer zu erschließen sind, z. B. zu Eltern oder zu Jugendlichen, die nicht mehr die Schule besuchen oder 156 uj 4 | 2022 Resiliente Räume und Radikalisierungsprävention diese abgebrochen haben. Der sozialräumliche Blick ermöglicht, vorhandene Potenziale zu nutzen und aus vergangenen Erfahrungen zu lernen. Gleichzeitig birgt der sozialräumliche Blick auf das Thema Radikalisierung auch die Gefahr, Stigmatisierungen zu verstärken. Sozialraumorientierte Ansätze werden in der Sozial- und Jugendarbeit meist in marginalisierten Stadtteilen umgesetzt, deren BewohnerInnen oftmals von Mehrfachdiskriminierungen und dem „Stigma der Adresse“ betroffen sind. Ein genaues Hinschauen und Abwägen sollte darum der erste Schritt sein, wenn über ein sozialräumliches oder kommunales Konzept der Radikalisierungsprävention nachgedacht wird. Es gilt, den Sozialraum mit seinen unterschiedlichen Facetten - Problemlagen, aber auch Ressourcen - genau in den Blick zu nehmen und hierfür möglichst viele Akteure vor Ort einzubeziehen. Fachkräfte und ggf. BewohnerInnen sollten an der Situations-/ Problemanalyse und an der Entwicklung von lokalen Handlungskonzepten teilhaben. Gendersensible und rassismuskritische Ansätze sind zentrale Herangehensweisen in der Arbeit im Sozialraum und sollten die Grundlage von Präventionsmaßnahmen sein, die sich gegen Radikalisierung richten. Britta Hecking Victoria Schwenzer Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH Mahlower Str. 24 12049 Berlin E-Mail: brittahecking@camino-werkstatt.de victoriaschwenzer@camino-werkstatt.de Literatur Blokland, T., Šerbedžija, V. (2018): Gewohnt ist nicht normal. Jugendalltag in zwei Kreuzberger Kiezen. Logos Verlag, Berlin, http: / / dx.doi.org/ 10.18452/ 19952 Bouhana, N. (2019): “The Moral Ecology of Extremism: A Systemic Perspective”, prepared for the UK Commission for Countering Extremism, July 2019. 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Digitale Lernkarten für die kostenlose Lernsoftware Brainyoo gibt es zu den Themen: Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit (978-3-8463-0265-1); (978-3-8463-0266-8) mit integriertem E-Book Kinder- und Jugendhilferecht für die Soziale Arbeit Familienrecht für die Soziale Arbeit (978-3-8463-0267-5); (978-3-8463-02 68-2) mit integriertem E-Book Familienrecht für die Soziale Arbeit a www.reinhardt-verlag.de
