unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Universelle Radikalisierungsprävention in der Arbeit mit Jugendlichen
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2022
Maryam Kirchmann
Christian Kautz
„Wenn Jugendliche nach ihrer Teilnahme an Bildungsangeboten den Eindruck haben, mit ihren Positionen in der Debatte als gleichwertig wahrgenommen worden zu sein, dann ist das für uns eine Wirkung und auch ein Erfolg politischer Bildung - unabhängig davon, wie die einzelnen Positionierungen oder Reflexionen gelaufen sind.“ (Götz Nordbruch, Gründungsmitglied von ufuq. e.V.)
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158 unsere jugend, 74. Jg., S. 158 - 165 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art23d © Ernst Reinhardt Verlag Christian Kautz Jg. 1993; Bildungsreferent in der Fachstelle für Pädagogik zwischen Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus in Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus (KN: IX). Zudem leitet er das Projekt„DDD - Gegen Diskriminierung, für Demokratie und Diversität in Berliner Betrieben“. Zu den Arbeitsschwerpunkten des Sozialwissenschaftlers gehören Antidiskriminierung, Prävention und Verschwörungserzählungen. von Maryam Kirchmann Jg. 1992; Koordinatorin des Arbeitsbereichs „bildmachen - Politische Bildung und Medienpädagogik zur Prävention religiös-extremistischer Ansprachen in Sozialen Medien“ der Fachstelle für Pädagogik zwischen Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus in Berlin. Die Islamwissenschaftlerin arbeitet zu antimuslimischem Rassismus, kritischer Medienbildung und Hate Speech. Universelle Radikalisierungsprävention in der Arbeit mit Jugendlichen Beispiele aus der pädagogischen Praxis „Wenn Jugendliche nach ihrer Teilnahme an Bildungsangeboten den Eindruck haben, mit ihren Positionen in der Debatte als gleichwertig wahrgenommen worden zu sein, dann ist das für uns eine Wirkung und auch ein Erfolg politischer Bildung - unabhängig davon, wie die einzelnen Positionierungen oder Reflexionen gelaufen sind.“ (Götz Nordbruch, Gründungsmitglied von ufuq. e.V.) Einführung Die Art, miteinander zu kommunizieren, wird zunehmend schneller und der Wunsch nach einfachen Antworten in einer komplexen Welt wird immer lauter. Insbesondere Jugendliche, die sich auf der Identitätssuche befinden, können von der Flut an Informationen und Möglichkeiten überwältigt sein. Komplexe demokratische Prozesse und gesellschaftliche Pluralität auszuhalten, ist dabei nicht immer leicht und auch nicht besonders attraktiv für Jugendliche - denn einfache Antworten werden nicht gegeben. In einer digitalisierten und global vernetzten Welt sehen sich Jugendliche und junge Erwachsene zusätzlich mit einer Menge an Informationen und Daten konfrontiert, die in einigen Fällen zu einer Überforderung führen können. Gleichzeitig war es noch nie so leicht, sich über Ereignisse zu informieren und Personen zu finden, die eine ähnliche Meinung haben. Für Jugendliche, die auf der Suche nach der eigenen Identität verschiedene Rollen ausprobieren, bieten z. B. Soziale Medien eine gute Plattform, um die unterschiedlichsten Persönlichkeitsmerkmale miteinander zu vereinen. Wir befinden 159 uj 4 | 2022 Universelle Radikalisierungsprävention in der Praxis uns in einer gesellschaftlichen Situation, in der Kinder und Jugendliche ausschließlich eine Welt mit Internet und globaler Vernetzung kennenlernen, in der jedoch erwachsene Menschen über 30 Jahre noch (teilweise) in einer Welt ohne Internet aufgewachsen sind. Dies führt merklich zu einer Diskrepanz zwischen verschiedenen Lebensrealitäten. Zeitgleich steigen antipluralistische Einstellungen innerhalb der deutschen Gesellschaft. Laut den aktuellen Ergebnissen der „Mitte-Studie“ äußert ein nicht unerheblicher Anteil der Bevölkerung ein abschätziges Misstrauen gegenüber demokratischen Prozessen und Akteuren, obwohl sich ein Großteil der Befragten demokratisch verortet (Küpper/ Zick/ Rump 2021, 52). Eine Aufgabe politischer Bildung besteht vor diesem Hintergrund darin, Kinder und Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Werte- und Meinungsbildung zu unterstützen. Daraus ergibt sich zudem ein großer Handlungsbedarf für Akteure der politischen Bildung, einerseits die On- und Offline-Welt miteinander zu verbinden und andererseits lebensweltliche Themen anzusprechen, die im Schullehrplan keine Berücksichtigung finden. Soziale Medien können eine Rolle in Radikalisierungsprozessen spielen. Extremistische Akteure nutzen sie, um SympathisantInnen für sich zu gewinnen. Oftmals schüren sie über Opfernarrative Hass und Wut, mit denen sie ganz gezielt bestimmte Gruppierungen erreichen wollen. Beispiele hierfür sind regionale Konflikte oder aber die Debatten um die Zugehörigkeiten von MuslimInnen in Deutschland. Islamistische Gruppierungen konstruieren bspw. ein Narrativ, in welchem MuslimInnen die Opfer des „Westens“ seien und trotz aller Bemühungen nicht von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert werden würden. Die Lösung hierfür sei, sich zum „Wahren Islam“ zu bekennen und bestimmte Rollenanforderungen zu erfüllen. Dieses Versprechen kann in einer Welt, in der Jugendliche alltäglich Überforderungen und Abwertungen ausgesetzt sind, sehr attraktiv wirken. Bedeutung der Universalprävention Die Zunahme von Polarisierungsphänomenen, die Konflikte um die Migrationsgesellschaft sowie die zunehmende Salonfähigkeit von Rassismus und antipluralistischen Äußerungen (aber auch von Protesten und Bewegungen dagegen) sind in Klassenzimmern, Lehrerzimmern und in der pädagogischen Arbeit deutlich zu spüren. Die Workshops von ufuq.de richten sich an alle Jugendlichen und nicht gezielt an gefährdete oder bereits ideologisierte Jugendliche. Damit sind sie im Bereich der sogenannten Universalprävention anzusiedeln. Im Rahmen der Workshops für Jugendliche und SchülerInnen werden Räume geschaffen, in denen sie über persönliche Erfahrungen und Eindrücke sprechen können. Dabei geht es häufig um Rassismus und Diskriminierung, um Wertvorstellungen, Geschlechterrollen und Identität. Die Jugendlichen kommen über diese Themen miteinander ins Gespräch, können sich austauschen, Gemeinsamkeiten feststellen, aber auch unterschiedliche Perspektiven kennenlernen. Dabei geht es nicht darum, ausschließlich Wissen zu vermitteln, sondern vielmehr um die Unterstützung zur Werte- und Haltungsbildung. In Bezug auf die Workshops für Jugendliche verfolgt ufuq.de einen Peer-to-Peer-Ansatz. Die Workshops werden von TeamerInnen in Schulklassen und Jugendeinrichtungen durchgeführt. Die TeamerInnen sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, mehrheitlich muslimischer Herkunft und mehr oder weniger religiös. Mit ihrer Persönlichkeit und Biografie bieten sie eine Repräsentations- und Identifikationsmöglichkeit und erleichtern somit das Gespräch, insbesondere auch mit muslimisch sozialisierten SchülerInnen. Gleichzeitig ermöglichen sie einen niedrigschwelligen Einstieg in Fragen rund um die Themen Islam, antimuslimischer Rassismus und Islamismus, ohne dabei als „IslamexpertInnen“ oder TheologInnen zu agieren. 160 uj 4 | 2022 Universelle Radikalisierungsprävention in der Praxis Mithilfe von verschiedenen Übungen werden Reflexionsprozesse von Jugendlichen angestoßen und ihre Sprechfähigkeit gestärkt. Das Ziel ist es, ein reflektiertes Selbstverständnis und den konstruktiven Umgang mit religiösen und nichtreligiösen Normen und Werten zu fördern: Unter anderem kann die Stärkung von Ambiguitätstoleranz dazu beitragen, Jugendliche im Umgang mit Ambivalenzen und Widersprüchen zu stärken sowie einfachen Wahrheiten und damit radikalisierungsbegünstigenden Tendenzen entgegenzuwirken. Dabei werden immer wieder Bezüge zu jugendlichen Lebensrealitäten hergestellt und Diskriminierungen adressiert. Im Mittelpunkt jedes Workshops steht - egal, ob wir über Religion, Geschlechterbilder und Sexismus oder über antimuslimischen Rassismus sprechen - die Frage, welche Werte im gemeinsamen Zusammenleben wichtig sind, wie wir gemeinsam leben wollen und was jede und jeder Einzelne dazu beitragen kann. Damit sind auch die Diskussionen um Kontroversen und Spannungsfelder in der (Migrations-)Gesellschaft sowie Grenzen der Meinungsfreiheit fester Bestandteil unserer universellen Präventions- und politischen Bildungsarbeit. Als Projekte der Universalprävention stehen sowohl „bildmachen“ als auch „Wie wollen wir leben? “ vor der Herausforderung, sensible Inhalte zu thematisieren, ohne die Zielgruppe als das besprochene Problem zu markieren. Wenn es bspw. um problematische und abwertende Aussagen von islamistischen Akteuren in Sozialen Medien geht, besteht die Aufgabe darin, die gesellschaftliche Nichtanerkennung der Diskriminierungserfahrungen von jungen MuslimInnen aufzugreifen, die Strategien von extremistischen Akteuren offenzulegen und dabei der Stigmatisierung von MuslimInnen als vermeintlich anfällige Gruppe für islamistische Propaganda entgegenzuwirken. Denn junge MuslimInnen und Menschen mit familiären Migrationsbiografien erleben selten, dass ihre Erfahrungen anerkannt, wertgeschätzt und als wichtiger Teil der Gesellschaft betrachtet werden. In der medialen Berichterstattung sind Themen rund um die islamische Religion negativ besetzt. Die islamische Religion wird mehrheitlich monolithisch dargestellt und sehr häufig mit Terror, Frauenunterdrückung und Rückständigkeit in Verbindung gebracht (Hafez/ Schmidt 2020). Beispiele hierfür sind islamistische Terroranschläge oder auch die jüngsten gewaltvollen Ereignisse in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Beide Themen sind Beispiele, die auch von extremistischen Akteuren genutzt wurden, um Jugendliche zu manipulieren. Nicht alle Jugendlichen, die in diesem Kontext problematische Aussagen treffen, sind gefährdet, sich zu radikalisieren. Es können auch ganz bewusste alterstypische Provokationen sein. Insbesondere Jugendliche mit Lebensbezügen zu konfliktbehafteten Regionen in der Welt erleben häufig eine nicht altersgemäße Überforderung und Emotionalität, wenn ihre Perspektiven und ihr Schmerz unsichtbar bleiben und nicht aufgegriffen werden. Für viele Jugendliche bedeutet die Besprechung dieser Themen in geschützten Räumen vorrangig Erleichterung. Darüber hinaus werden sie mithilfe von praktischen Methoden für extremistische Narrative, Fake News und das kritische Hinterfragen von Inhalten sensibilisiert (Asisi/ Abushi 2020). Die Frage ist also, wie es in einer heterogenen Gruppe gelingt, gerade Themen und Konflikte ins Gespräch zu bringen, die religiös, kulturell oder ethnisch konnotiert und aufgeladen sind, ohne dabei Stigmatisierungen zu reproduzieren. Wir sprechen mit SchülerInnen über„den Islam“ als Teil unserer Gesellschaft, wir sprechen über Islamismus als eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, und wir beschäftigen uns mit den Themen Rassismus, Diskriminierung und insbesondere mit antimuslimischem Rassismus oder mit Geschlechterrollen, Identität und Zugehörigkeiten als Probleme und Themen, die uns alle angehen. Im Folgenden werden nun zwei Methoden aus den ufuq.de-Praxisformaten „Wie wollen wir leben? “ und „bildmachen“ beispielhaft vorgestellt. 161 uj 4 | 2022 Universelle Radikalisierungsprävention in der Praxis Fallbeispiel 1: „Wie funktioniert Diskriminierung? “ aus dem Praxisformat „Wie wollen wir leben? “ Die „Wie wollen wir leben? “-Workshops bieten Raum für Auseinandersetzungen mit Fragen zu Religion, Identität und Zugehörigkeit und fördern die Teilhabe von Jugendlichen in der Gesellschaft. Sie sensibilisieren für demokratie- und freiheitsfeindliche Einstellungen und bieten Alternativen zu islamistischen Diskursen. Dabei bietet ufuq.de aktuell sechs Workshopmodule zu unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten an, die sich für Altersgruppen von der 5. bis zur 12. Klasse eignen. Wie bereits ausgeführt, ist es Ziel der Workshops, ein reflektiertes Selbstverständnis und einen konstruktiven Umgang mit religiösen und nichtreligiösen Normen und Werten zu fördern und alternative Orientierungen und Handlungsoptionen zu antimuslimisch-rassistischen und islamistischen Weltbildern aufzuzeigen. Religiöse Fragen, die viele Jugendliche beschäftigen, sind der Aufhänger für unsere Workshops. Hierbei geht es ausdrücklich nicht um „Religionsunterricht“. In den Workshops werden diese Fragen in allgemeine ethische und gesellschaftliche Fragen „übersetzt“, bei denen religiöse und nichtreligiöse Perspektiven eine Rolle spielen können. Wenn bspw. ein Jugendlicher im Workshop sagt, dass Ungläubige in die Hölle kämen, könnte der Frage nach Machtverhältnissen und Wertigkeiten von Menschen innerhalb einer Gesellschaft nachgegangen werden. Auch Fragen rund um die Praktik des Fastens oder religiöse Kleidungsvorschriften sind gängige Gesprächseinstiege. Die Workshops sollen dazu dienen, das Gespräch in der Gruppe anzuregen und unterschiedliche Perspektiven deutlich zu machen. Die Workshops werden von Schulen und Jugendeinrichtungen kurzfristig und nach akutem Bedarf bzw. zu den jeweils aktuellen Themen unter den Jugendlichen angefragt. So können die TeamerInnen ohne längeren Vorlauf direkt auf die jeweilige Situation in den Klassen und Jugendeinrichtungen reagieren. Didaktisch und methodisch sind die Workshopmodule der Praxisformate vielseitig aufgebaut, ähneln sich jedoch in ihrem grundsätzlichen Ablauf. Jedes Workshopformat ist in dreimal 90 Minuten unterteilt, ein Projekttag umfasst somit drei schulische Doppelstunden. In den ersten 90 Minuten, im ersten Block, lernen sich TeamerInnen und Jugendliche kennen und es gibt einen thematischen Einstieg. Der zweite Block zielt darauf ab, über die Positionen der Jugendlichen zu bestimmten Themen ins Gespräch zu kommen. Zeitgleich erfolgt im zweiten Block der „Problemaufriss“ respektive die methodisch aufgearbeitete Sensibilisierung zu bestimmten Themenfeldern wie bspw. Diskriminierungsmechanismen und Machtverhältnisse im Allgemeinen oder auch antimuslimischer Rassismus und Sexismus im Spezifischen. Im dritten Block schließlich werden Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit den gewonnenen Erkenntnissen gemeinsam erarbeitet sowie Feedback eingeholt. Die Übung „Wie funktioniert Diskriminierung? “ wird in verschiedenen Workshopmodulen durchgeführt, darunter in den Modulen „Diskriminierung und Empowerment. Über Erfahrungen, die Jugendliche mit antimuslimischem Rassismus machen - und was man dagegen tun kann“ sowie „Alle MuslimInnen sind … Über Stereotype, Diskriminierung und die Rolle von Medien“. Die Übung findet zumeist im zweiten Block der dreiteilig aufgebauten Workshopmodule statt und fokussiert die Sensibilisierung über die Formen, Mechanismen und Wirkweisen von Diskriminierung, deren Akteure und die Ebenen, auf denen diskriminiert wird. Zudem soll die Übung die Reflexion über den Zusammenhang von Diskriminierung und gesellschaftlichen Machtverhältnissen anstoßen (Omar/ Yavaş 2019, 30). Anhand von Karten mit Fragen und Begriffen (s. Abb. 1) wird in Einzel- und Gruppenarbeit sowie im Plenum ein Verständnis von Diskriminierung erarbeitet. Diese Karten erheben 162 uj 4 | 2022 Universelle Radikalisierungsprävention in der Praxis Abb. 1: „Wie funktioniert Diskriminierung? “ - Übersicht der genutzten Karten 163 uj 4 | 2022 Universelle Radikalisierungsprävention in der Praxis keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit: Das gemeinsam erarbeitete Verständnis darüber, dass es unterschiedliche Formen von Diskriminierung gibt, die jedoch ähnlich funktionieren, soll vielmehr das Gefühl von Gemeinsamkeit bei den Teilnehmenden hervorrufen und die Komplexität sozialer Zusammenhänge nachvollziehbarer machen. Die Aufgabe der Moderation ist hierbei, einzelne Diskriminierungsformen mit den Teilnehmenden zu klären und in einen Kontext zu setzen (Omar/ Yavaş 2019, 30). Je nach Klassenstufe und Vorwissen innerhalb der Gruppe können Fragen ausgelassen oder gemeinsam besprochen werden, ohne dass diese zuvor in Kleingruppenarbeit geklärt werden müssen - die Fragen „Welche Formen von Diskriminierung gibt es? “ sowie „Über welche Merkmale werden Menschen diskriminiert? “ sollten jedoch in jedem Fall besprochen werden. Im Zuge einer abschließenden Auswertung werden letzte Verständnisfragen geklärt sowie die Fragen besprochen, wo Diskriminierung im eigenen Alltag auftaucht sowie was dagegen unternommen werden kann. Letztere Frage leitet in eine konkrete Übung zu Handlungsstrategien gegen Diskriminierung über. In unserer pädagogischen Praxis machen wir grundsätzlich sehr gute Erfahrungen mit dieser Übung, da sie je nach Zielgruppe und Bedarf angepasst werden kann sowie ein übersichtliches Schaubild mit den für uns wesentlichen Merkmalen und Wirkweisen von Diskriminierung hervorbringt. Die größten Herausforderungen bei der Durchführung dieser Methode sind unterschiedliches Wissen/ ungleiche Wissensverteilung in der Gruppe, der Umgang mit (potenziell) Betroffenen von Diskriminierung sowie der Umgang mit dem Auftreten von Konflikten durch polarisierende Gruppen, bspw. wegen des Nahostkonflikts. Diese treten unserer Ansicht nach jedoch bei vielen Methoden im Bereich der (universellen) Radikalisierungsprävention und politischen Bildung auf und sind somit keine spezifisch auf diese Methode zurückzuführenden Herausforderungen. Auch wenn wir an dieser Stelle nicht weiter auf die Lösung dieser Herausforderungen eingehen werden, so sehen wir einen kontinuierlichen Bedarf, sich mit diesen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen und Fragen nach dem pädagogischen Umgang mit diesen immer wieder (neu) auszuhandeln. Fallbeispiel 2: Medienempowerment durch Memes beim Praxisformat „bildmachen“ In den bildmachen-Workshops geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit Sozialen Medien und um die präventive Sensibilisierung für extremistische Ansprachen. Derzeit bietet „bildmachen“ drei verschiedene Module zu den Themen Diskriminierung, Gender und Verschwörungserzählungen an, die sich in ihrem grundsätzlichen Ablauf ähneln. Zielgruppe der Workshops sind Jugendliche ab der 5. Klasse. Die Workshops sind grob in zwei Bereiche, nämlich Werteaustausch und aktive Medienarbeit, eingeteilt und umfassen fünfmal 90 Minuten. Mithilfe von verschiedenen Übungen wird im ersten Teil des Workshops ein thematischer Einstieg in das Thema gegeben und zur Diskussion und Meinungsbildung angeregt. Im Fokus des Workshops stehen dabei die Lebensrealitäten der Jugendlichen. Es soll also kein Wissen „frontal“ vermittelt werden, sondern gemeinsam über gesellschaftliche Werte, eigene Erfahrungen und Inhalte diskutiert werden. Die Anerkennung von Diskriminierungserfahrungen wie z. B. Rassismus, Sexismus oder Homofeindlichkeit und die Auseinandersetzung mit Meinungspluralität innerhalb der Gesellschaft und Klassengemeinschaften nimmt einen zentralen Stellenwert der Workshops ein. Es geht darum, darüber ins Gespräch zu kommen, welches Potenzial und welche Gefahren Soziale Medien mit sich bringen. Wir fragen uns: „Wer nutzt eigentlich Soziale Medien, um für die eigene Agenda Werbung zu machen? Gibt es gesellschaftliche Regeln auch im Internet? Welche Quellen sind vertrauenswürdig und wer verbirgt sich dahinter? “ Dabei geht es keineswegs 164 uj 4 | 2022 Universelle Radikalisierungsprävention in der Praxis darum, Soziale Medien abzuwerten, sondern vielmehr darum, eine kritische Haltung zu entwickeln und für extremistische Ansprachen zu sensibilisieren. Die Wirkung extremistischer Ansprachen und ihrer Opfernarrative ist nicht zu unterschätzen, denn diese knüpfen an alltäglich gelebte, reale Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen vieler Jugendlicher an und füllen eine thematische Lücke, die im Schullehrplan keinen Platz findet. In den Workshops werden dazu kontroverse Themen, die für die Lebensrealitäten der Jugendlichen von Bedeutung sind, aufgegriffen. Die bildmachen-Workshops eröffnen einen Raum für Jugendliche, sich über genau diese Themen auszutauschen. Es kann während eines Workshops, je nach Gruppenkonstellation, dazu kommen, dass vereinfachte Aussagen oder Argumentationsmuster von extremistischen Akteuren, wie bspw.: „Wir MuslimInnen versus die Mehrheitsgesellschaft“, von Jugendlichen für gut befunden werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass sogleich eine Radikalisierung vorliegt, sondern deutet vielmehr auf den Handlungsbedarf hin, über Diskriminierungserfahrungen und Rassismen zu sprechen. Fallen solche Äußerungen während des Workshops, besteht für die TeamerInnen eine Schwierigkeit darin, die Gruppendynamik aufzufangen und eine konstruktive Auseinandersetzung damit in der Gruppe zu ermöglichen. Eine gute Möglichkeit hierfür sind Kenntnisse im Konfliktmanagement, um bspw. einschätzen zu können, was als Provokation oder Störung eingestuft werden sollte. Denn nicht jeder problematische Kommentar bedarf einer Intervention oder Aufmerksamkeit. Darüber hinaus kann es hilfreich sein, in hitzigen Diskussionen eine Rednerliste zu führen. Im zweiten Teil des Workshops wird der Fokus auf aktive Medienarbeit gelegt. Die TeilnehmerInnen bekommen die Möglichkeit, in Kleingruppen an Tablets zu arbeiten, sich mit ausgewählten Inhalten aus Sozialen Medien auseinanderzusetzen und eigene Memes herzustellen. Bei Memes handelt es sich um Bilder, die mit einfachen Textbotschaften kombiniert werden. Auch GIFs, also Bewegtbilder, und kurze Videos werden unter dem Begriff „Meme“ subsumiert (Shifman 2013). Memes liegt eine Art universeller Humor zugrunde und sie werden zu beinahe allen gesellschaftlichen und individuellen Phänomenen gestaltet, oft als Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis oder Gefühl. Aus diesem Grund können sie von einer Kurzlebigkeit geprägt sein. Ein jüngstes Beispiel hierfür sind die zahlreichen Memes rund um den Besuch von Angela Merkel im Papageien-Vogelpark. Es gibt unzählige Vorlagen für die Erstellung von Memes und GIFs, die leicht in Apps und im Internet zu finden sind. Die Erstellung von Memes wird gemeinhin als niedrigschwellig betrachtet. Wird jedoch genauer hingeschaut, lässt sich erkennen, dass ein gewisses Wissen über gesellschaftliche Phänomene vorausgesetzt wird, um die Ebene des Humors pointiert zu treffen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit für PädagogInnen, sich das Wissen über politische und jugendkulturelle Themen anzueignen und tiefer in die jeweiligen Diskurse über bspw. Rassismuserfahrungen, aber auch Religiosität, Popkultur oder Geschlechterfragen einzutauchen. In der Arbeit mit Jugendlichen kann die Vermittlung von Memes in Kombination mit der Sensibilisierung für extremistische Ansprachen und der Besprechung von Diskriminierungsformen durchaus eine Herausforderung sein. Obwohl viele Jugendliche auf visueller Ebene mit Memes aus Sozialen Medien vertraut sind, ist nicht allen der Nutzen oder die Gestaltung bewusst. Es besteht somit die Gefahr, dass Jugendliche unwissend Rassismen und Diskriminierungsformen reproduzieren oder die Bildrechte von Dritten verletzen. Memes sind im bildmachen-Projekt jedoch nicht das Produkt des Workshops, sondern vielmehr die Grundlage, auf welcher Inhalte diskutiert werden können. Memes eröffnen Jugendlichen die Möglichkeit, an gesellschaftlichen Debatten teilzunehmen, ohne sprachliche Hürden überwinden und ihre Identität offenbaren zu müssen. Sie ermöglichen zudem den nötigen Schutz, sich nicht auf inhaltliche Diskussionen in Kommentarspalten 165 uj 4 | 2022 Universelle Radikalisierungsprävention in der Praxis einzulassen, und außerdem über eine humorvolle Ebene die Diskussion zu entschärfen. Erst durch die Besprechung der Metaebene entfalten Memes ihre eigentliche Bedeutung. Dabei lohnt es sich, bei problematischen Inhalten nicht sofort zu intervenieren, sondern vielmehr möglichst interessiert zu ergründen, was die Jugendlichen mit dem Meme eigentlich aussagen wollten. Erfahrungswerte der Praxis haben gezeigt, dass Jugendliche in solchen Fällen entweder nicht über das nötige Diskurswissen verfügten oder schlichtweg Grenzen austesten wollten. Der Kern der pädagogischen Auseinandersetzung mit den Memes liegt demnach wieder in der Diskussion und der differenzierten Wertebildung. Fazit Die Angebote von ufuq e.V. sind im Feld der Universalprävention angesiedelt und versuchen, schon vor Radikalisierungsanzeichen präventiv für die Gefahren von Ungleichwertigkeitsideologien und Ansprachen extremistischer Akteure zu sensibilisieren. Dabei geht es nicht darum, ausschließlich Wissen zu vermitteln, sondern vielmehr um die Unterstützung zur Werte- und Haltungsbildung. In der Durchführung der Workshops kann es herausfordernd sein, polarisierende Themen in einer heterogenen Gruppe zu besprechen, ohne dabei Stigmatisierungen zu reproduzieren. Dabei erscheinen der Peer-to-Peer-Ansatz und die regelmäßige Qualifikation derTeamerInnen als besonders notwendig, um eine Gesprächsgrundlage auf Augenhöhe herzustellen. Im Fokus der Workshops stehen die Partizipation der Jugendlichen an Diskussionen und der Werteaustausch. So wirken die Workshopangebote gewissermaßen „en passant“ in einem weiten und universellen Sinne präventiv, ohne dass Prävention ein Hauptziel der pädagogischen Intervention durch die Workshops ist. Maryam Kirchmann Christian Kautz Ufuq e.V. Dudenstraße 6 10965 Berlin E-Mail: christian.kautz@ufuq.de maryam.kirchmann@ufuq.de Literatur Hafez, K., Schmidt, S. (2020): Rassismus und Repräsentation: das Islambild deutscher Medien im Nachrichtenjournalismus und Film. In: www.bpb.de/ lernen/ digitale-bildung/ bewegtbild-und-politische-bildung/ 314621/ islambild-deutscher-medien, 29. 10. 2021 Omar, J., Yavaş, A. (2019): Wie wollen wir leben? Methoden für die pädagogische Arbeit zu Islam, Antimuslimischem Rassismus und Islamismus. ufuq.de, Berlin Asisi, P., Abushi, S. (2020): Die ,Anderen‘ empowern? Versuch einer Begriffsbestimmung für die politische Bildung und pädagogische Praxis. In: https: / / profes sion-politischebildung.de/ grundlagen/ diversitaets orientierung/ empowern/ , 29. 10. 2021 Shifman, L. (2020): Memes in Digital Culture. MIT Press, Cambridge/ Massachusetts
