eJournals unsere jugend 74/4

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2022
744

"Mehr als zwei Seiten"

41
2022
Mehmet Can
Julia Marie Grau
„Mehr als zwei Seiten“ ist ein kreatives Comic-Projekt, das SchülerInnen selbst zu Wort kommen lässt. Der Comic wurde gemeinsam mit den Jugendlichen geschrieben und handelt von der siebentägigen Projektfahrt mehrerer SchülerInnen der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli nach Israel und in die Palästinensischen Gebiete im Sommer 2019.
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166 unsere jugend, 74. Jg., S. 166 - 171 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art24d © Ernst Reinhardt Verlag „Mehr als zwei Seiten“ Ein Comic über eine Reise von Berlin-Neukölln nach Israel und in die Palästinensischen Gebiete „Mehr als zwei Seiten“ ist ein kreatives Comic-Projekt, das SchülerInnen selbst zu Wort kommen lässt. Der Comic wurde gemeinsam mit den Jugendlichen geschrieben und handelt von der siebentägigen Projektfahrt mehrerer SchülerInnen der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli nach Israel und in die Palästinensischen Gebiete im Sommer 2019. Von der Gesellschaft gezeichnet zu werden, das kennen die SchülerInnen des Campus Rütli in Neukölln. Das Projekt „Mehr als zwei Seiten“ bietet ihnen die Möglichkeit, sich selbst zu zeichnen, ihre eigene Geschichte zu erzählen und dadurch nicht nur eigene Vorurteile zu irritieren, sondern auch die der LeserInnen. Diese authentische Auseinandersetzung mit dem Thema inspiriert nicht nur die direkt beteiligten SchülerInnen, sondern wird auch von anderen jungen Menschen wahrgenommen, die sich in dem Comic wiedererkennen. I: Möchtest du kurz etwas über dich erzählen? Mehmet Can: Ich bin Lehrer am Campus Rütli in Berlin-Neukölln und unterrichte dort Geschichte und Politik. Ich war jahrelang in der außerschulischen Bildungsarbeit tätig, v. a. zu den Themen Antisemitismus, Rassismus, Israel, und Gedenkstättenpädagogik. Auch wenn das Themen von zentraler Bedeutung - nicht nur für meine SchülerInnen - sind, finden sie an vielen Schulen nicht immer einen angemessenen Raum. Meine Schule ist eine sehr projektorientierte Schule, sodass sich mir die Möglichkeit bietet, diese Themen, die ich außerschulisch verfolgt habe, in meine tägliche Arbeit mit einzubringen. I: Kannst du etwas über die Jugendlichen erzählen, mit denen du arbeitest? M.C.: Unsere Schülerschaft hat mehrheitlich eine migrantische Familiengeschichte: vor allem arabisch, insbesondere palästinensisch, libanesisch, zum Teil auch türkisch. Aber natürlich auch Herkunftsdeutsche und SchülerInnen aus anderen Gegenden Europas oder der Welt. Ein großer Teil der Schülerschaft stammt aus bildungsbenachteiligten Familien. Ein Interview mit Mehmet Can Lehrer am Campus Rütli und Mitinitiator des Projekts geführt von Julia Marie Grau Jg. 1994, Studentin im Masterstudiengang Development Studies an der Universität Bayreuth und studentische Mitarbeiterin bei Camino gGmbH 167 uj 4 | 2022 Mehr als zwei Seiten: eine Reise nach Nahost I: Inwiefern spielt denn das Thema „Radikalisierung, religiöse Radikalisierung“ bei den Jugendlichen eine Rolle? M.C.: Es ist ein Thema, das uns begleitet, also das Thema an sich, aber auch die Wahrnehmung dieses Themas. Wir haben bei uns in der Schule verschiedene Angebote, die zum einen Bedürfnisse der SchülerInnen aufgreifen und zum anderen sich auch mit dem Thema Radikalisierung und generell Prävention von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beschäftigen. Ein Beispiel dafür ist der Kurs „Glauben und Zweifeln“. Das ist ein interdisziplinärer Kurs, der versucht, Themen wie Fake News, Verschwörungstheorien, aber auch Themen wie Islamismus und unterschiedliche Auslegungen des Islam sowie Antisemitismus und Rassismus aufzugreifen, um im Unterricht einen Platz für diese Themen zu finden. Denn das sind Themen, die im regulären Rahmenlehrplan bisher vergleichsweise unterrepräsentiert sind, obwohl das Interesse der SchülerInnen sehr hoch ist. Darüber hinaus gibt es teilweise eine bestimmte Wahrnehmung auf unsere Schülerschaft. Das ist unseren SchülerInnen auch bewusst, wie sie zum Teil gezeichnet werden. Schulen in Neukölln, aber auch der gesamte Stadtteil müssen häufig als Symbol herhalten, wenn verschiedene aktuelle Debatten nachgezeichnet werden: sei es die Bildungspolitik oder die Integrationspolitik oder der Umgang mit Radikalisierung. Bei dem Comic-Projekt war es uns daher wichtig zu berücksichtigen, dass wir nicht im luftleeren Raum operieren, und auch mitzudenken, welche Diskurse herrschen, die wir zum Teil eben nicht bedienen wollen. Wir wollen natürlich auf der anderen Seite nichts verharmlosen. Wir wissen um Entwicklungen, die wir angehen müssen, deswegen machen wir diese Angebote. Ich glaube, die Schwierigkeit ist hier, beides mitzudenken: in keine Dramatisierung zu verfallen, aber auf der anderen Seite auch nicht zu vergessen, dass zum Beispiel der Nahostkonflikt vor allen Dingen in seinen hitzigen Phasen immer wieder dazu führt, dass bei vielen unserer SchülerInnen mit ihrer Familiengeschichte teilweise eine hohe Emotionalität vorhanden ist und der Konflikt und seine Ursachen sehr einseitig gesehen werden. Dennoch: Mit wirklich radikalisierten Jugendlichen haben wir es nicht zu tun. Wir haben Jugendliche, die vereinzelte Ideologieelemente vertreten, wie es unter Jugendlichen so ist. Das sind keine festgefahrenen, feststehenden, geschlossenen Weltbilder. Und von daher ist es vor allen Dingen eine Frage der Pädagogik. I: Kannst du uns über euer Projekt „Mehr als zwei Seiten“ erzählen? Wie kam es zustande? M.C.: Die Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt und Schülerreisen nach Israel und Palästina sind unserer Schule sehr wichtig. Eine dieser Reisen habe ich gemeinsam mit einer Kollegin durchgeführt. Wir waren ungefähr sieben Tage im Großraum Jerusalem und haben dann im Nachgang der Reise gehofft, dass wir eine Möglichkeit haben, an dieser Thematik weiterzuarbeiten. Denn Begegnungen können zentrale Aspekte in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus oder Rassismus sein, aber Begegnung an sich oder Begegnungspädagogik kann immer nur ein erster Schritt sein. Unser Illustrator hatte dann die scherzhafte Idee, dass er bei der nächsten Reise mitfährt und einen Comic daraus macht. Wir fanden die Idee so großartig, dass wir sofort zustimmten. I: Dann habt ihr also die Reise gemacht. Wohin genau? Und welchen Hintergrund hatten die SchülerInnen, die mitgefahren sind? Hatten sie selbst einen palästinensischen Hintergrund? M.C.: Gemischt, also die Mehrheit war arabisch, palästinensisch beziehungsweise libanesisch. Wir hatten weiterhin eine Geflüchtete aus Syrien, eine aus Afghanistan, sowie herkunftsdeutsche SchülerInnen und SchülerInnen aus anderen europäischen Ländern. Wir waren in einer jüdischen Schule bei Tel Aviv, auf dem Tempelberg in Jerusalem, in Bethlehem, in einem arabischen Dorf in Israel und in Yad Vashem, der Gedenkstätte für die Opfer der Shoah. 168 uj 4 | 2022 Mehr als zwei Seiten: eine Reise nach Nahost I: Und wie sah der weitere Prozess nach der Reise aus? M.C.: Wir haben uns nach der Reise mit den Jugendlichen regelmäßig in der Gruppe getroffen und an dem Comic-Projekt gearbeitet. So haben die Jugendlichen prägende Erfahrungen herausgearbeitet und überlegt, welche Inhalte sie in dem Comic haben wollen. Sie haben gemeinsam mit dem Zeichner Dialoge überlegt. Und sie haben sich auf ein Maskottchen geeinigt: Es ist eine Falafel geworden, weil die Falafel ihrer Meinung nach Berlin, Israel und Palästina verbindet. Der Zeichner hat dann immer wieder Zeichnungen von ihnen angefertigt - das war nicht immer einfach. Die SchülerInnen wollten sich nicht nur wiedererkennen, sondern - genau wie wir Erwachsenen - natürlich auch schön gezeichnet werden. Und dann musste der Zeichner neue Entwürfe herstellen. Die Idee war einerseits, mit dem Comic eine Erinnerung an diese Reise für uns zu haben, und andererseits, diese Erinnerung mit anderen SchülerInnen, auch an anderen Schulen, zu teilen. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der konkreten Geschichte, die sich auf unsere Reise bezieht, und einer allgemeinen Erzählung, in der wir übergreifende Punkte aufgreifen, die vielleicht auch für andere SchülerInnen von Interesse sind. Dieses Spannungsfeld hat uns immer wieder beschäftigt. Für uns war es dabei wichtig, dass die konkrete Reise der Ausgangspunkt sein muss. D. h. der Comic sollte weitestgehend eine authentische Erzählung sein, deshalb wählten wir Inhalte, die die Jugendlichen als besonders prägend wahrgenommen haben. Diese doppelte Zielsetzung hat sich als eine große Herausforderung erwiesen: Wir haben unterschätzt, wie aufwendig es ist, wenn man ein Projekt umsetzt, das eine konkrete Reise erzählt, aus der heraus gleichzeitig eine allgemeine Handreichung im Sinne von übergreifenden Fragestellungen und Unterrichtsmaterialien entwickelt werden soll. Während die Reise in erster Linie ein schulisches Projekt war, war der Comic eher ein Gemeinschaftsprojekt. Die pädagogische Werkstatt am Campus Rütli hat uns unterstützt, weiterhin der Zeichner und eine Teamerin der außerschulischen politischen Bildung, die auch auf der Reise dabei war - damit hatte die Gruppenarbeit einen anderen Charakter als Schule. I: Was waren die zentralen Themen, die die Jugendlichen im Comic festhalten wollten? M.C.: Wir haben beispielsweise eine Organisation besucht, in der israelische und palästinensische Eltern, die ihre Kinder im Konflikt verloren haben, zusammenarbeiten. Das war tatsächlich sehr bewegend und sehr prägend, auch weil es dichotome Vorstellungen von „Die“ und „Wir“ irritiert hat. Das klingt jetzt vielleicht banal, aber man darf nicht unterschätzen, dass es in so einer dichotomen Wahrnehmung für die Jugendlichen wirklich wichtig ist zu sehen, dass ein Jude von einem Araber oder eine Araberin von einem Juden als Person spricht, die einem näher ist als die eigene Familie. Das hat tatsächlich großen Eindruck hinterlassen. Allgemein waren Begegnungen wichtig, besonders wenn unsere Jugendlichen mit jüdischisraelischen SchülerInnen zusammengetroffen sind. Sie waren zu Beginn unsicher, wie sie aufgenommen werden würden. Vor Ort war es dann tatsächlich kein Problem. Da sind die Erwachsenen dann eher überflüssig, die Jugendlichen hören alle dieselbe schlechte Musik und sind auf Instagram vernetzt und zum Teil bis heute noch in Kontakt. I: Du meintest vorhin, dass Begegnungen immer nur ein erster Schritt sein können. Kannst du das noch erläutern? M.C.: Ich meine damit, dass man den Effekt von Begegnungspädagogik auf die Auseinandersetzung mit Radikalisierung, mit Antisemitismus oder Rassismus nicht überbewerten sollte. Natürlich sollte man aber auch nicht unter- 169 uj 4 | 2022 Mehr als zwei Seiten: eine Reise nach Nahost schätzen, wie sehr ein solches Projekt Identitätszuschreibungen irritieren kann. Es kann ein Öffner sein. Es kann ein Ausgangspunkt sein, um die vielfältigen Begegnungen zum Beispiel über diesen Comic weiter zu vertiefen. Wichtig ist auch, dass die Personen, die wir treffen, und unsere Gastgeber nicht zu Stellvertretern einer bestimmten „Kultur“ gemacht werden. Wir treffen nicht die Israelis, sondern wir treffen in erster Linie Menschen, die in diesem Fall auch jüdische Israelis sind. Es ist wichtig bei der Begegnungspädagogik, nicht in diese Falle zu tappen. Natürlich war es eine Besonderheit, dass es jüdische Jugendliche waren, aber wir kündigen sie nicht als solche an oder reduzieren sie auf diese Rolle. Das wäre eine verkürzte Wahrnehmung von interkultureller Pädagogik. Genauso wie unsere Jugendlichen keine Stellvertreter für die Muslime sind. Ja, sie sind zum Teil muslimisch sozialisierte Jugendliche aus Neukölln, aber sie sind keine Stellvertreter. Das Thema ist natürlich ein Minenfeld. Wir wollten mehreren Seiten gerecht werden. Manchmal haben wir wirklich tagelang über einzelne Formulierungen nachgedacht und mit Sicherheit würden wir bei einer Überarbeitung einzelne Formulierungen auch wieder ändern. Das hat viel, viel länger gedauert als gedacht. Wir haben insgesamt über ein Jahr daran gearbeitet, auch weil Corona die Arbeit zusätzlich erschwert hat. Mit den Themen, die sich die Jugendlichen für den Comic ausgesucht haben, kam dann beispielsweise die Frage auf: Wie kann man das Thema Jerusalem und ausgewählte Konflikte und Begegnungen in dieser Form darstellen, ohne umfassender auf die Hintergründe einzugehen? Ich glaube, es wäre einfacher gewesen, wenn wir diesen Comic über irgendeine Reise geschrieben hätten. Dann hätte man losgelöst von dieser konkreten Reise in einer allgemeinen Erzählung alle Debatten aufgreifen können. Aber uns war wichtig, dass wir immer diese konkrete Reise im Blick hatten. Manchmal kam dann auch die Rückmeldung, der Comic sei idealisiert, aber das war das, was die Jugendlichen als prägend und besonders interessant wahrgenommen haben. Unsere Reise war vergleichsweise einfach und auch sehr konfliktarm und wir wollten nichts aus dramaturgischen Gründen überspitzen. Eine Sache, die uns auch immer wieder beschäftigt hat, ist, dass der Comic und diese Reise nicht im luftleeren Raum stattfanden und dass wir darauf achten müssen, wie wir unsere Jugendlichen schützen können. Pädagogik sollte ein geschützter Raum sein. Die Jugendlichen dürfen sagen, was sie wollen, und sie sollten über alles sprechen können. Und wenn problematische Sachen dabei sind, muss man das problematisieren. Aber der Comic ist ein öffentliches Produkt. Wir wollten bestimmte Haltungen authentisch und ehrlich wiedergeben, ohne die SchülerInnen in bestimmte Schubladen zu stecken. I: Wie kam der Comic denn bei den jungen Menschen an? M.C.: Ich war überrascht, wie gut das Projekt ankam. Ich habe einen großen Stolz bei den Jugendlichen bemerkt, als sie den Comic dann tatsächlich fertig in den Händen hielten und sich gezeichnet sahen. Wir waren erst unsicher, wie sie es aufnehmen würden, in der Öffentlichkeit zu stehen. Wir haben auf Wunsch der SchülerInnen viele Namen anonymisiert, nur drei Namen wurden beibehalten. Zum Teil sind die Figuren Mischungen aus verschiedenen Charakteren geworden. Aber sie haben sich wiedererkannt und es war ihre Geschichte. I: Was würdest du sagen, waren die wichtigsten Wirkungen des Projektes auf die Jugendlichen? M.C.: Also ich glaube, einerseits, dass ihre Geschichte oder ihre Perspektive erzählt wird. Und wenn ich „ihre Geschichte“ sage, meine ich aber ihre Geschichte als Berliner Jugendliche, die z. B. einen palästinensischen Hintergrund haben. Es geht um den Blick auf Berliner Jugendliche mit einer bestimmten Familiengeschichte 170 uj 4 | 2022 Mehr als zwei Seiten: eine Reise nach Nahost und nicht darum zu verallgemeinern. Unsere Hoffnung war es, diese Komplexität darzustellen. Oftmals gewinnt man viel, wenn man auf eindeutige Zuschreibungen in uneindeutigen Situationen verzichtet. Wenn vielleicht auch mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen entstehen. Auch wenn das Irritation, manchmal vielleicht auch eine Lähmung hervorruft. Sich dessen bewusst zu sein, ist bei der ständigen Präsenz des Themas und bei den verhärteten Positionen ein Schritt, der nicht nur Jugendlichen, sondern auch Erwachsenen guttun würde. Eine Reise allein kann langfristig gewachsene Vorurteilsstrukturen im besten Falle irritieren und dann ist die Frage, wie man weiterarbeitet. Denn die Jugendlichen sind ja dann wieder hier und möglicherweise wieder mit diesen Vorurteilsstrukturen beschäftigt. Deswegen will ich ein bisschen die Hoffnung bremsen, die oft an Begegnungsprojekte gerichtet wird. Aber Begegnungsprojekte haben ihren Wert an sich, das möchte ich auch betonen. Ich bin mir sicher, dass die Jugendlichen noch in 20 Jahren an diese Reise denken werden. Die Veränderung ihrer Vorurteilsstrukturen kann aber, glaube ich, wirklich nur durch eine weitere Auseinandersetzung erfolgen. Und inwieweit diese erfolgt, ist unterschiedlich. Und natürlich, manchmal hört man Äußerungen, da denke ich: „Da waren wir eigentlich weiter.“ Aber das ist dann trotzdem kein Rückschritt. Wir manipulieren die Jugendlichen ja nicht, sondern wir gehen in den Austausch in der Hoffnung, dass sie ihre Urteilsfähigkeit ausbauen, ein bisschen reflektierter werden und nicht mehr so dichotom denken. Das ist das, was Pädagogik leisten kann. Letztendlich haben wir es bei antisemitischen oder rassistischen Vorurteilsstrukturen ja mit einer jahrhundertealten tradierten Haltung zu tun. Wenn das Phänomene sind, die eine gesellschaftliche Funktion haben, bezweifle ich, dass Schule gesellschaftliche Phänomene lösen kann, deren Ursache auf einer anderen Ebene liegen. I: Wie ging es danach weiter, arbeiten die Jugendlichen noch weiter an diesem Thema? Welche langfristigen Lernprozesse lassen sich feststellen? M.C.: Mehrere Jugendliche haben nach der Reise Lesungen, z. B. in Bibliotheken, durchgeführt, sie gehen mit dem Comic in andere Schulen, machen Workshops, berichten über die Reise und stellen sich dem Austausch mit anderen SchülerInnen. Das Projekt hat im Prinzip drei verschiedene Phasen: die Reise, dann der Comic und jetzt gehen die SchülerInnen noch mit dem Comic in andere Schulen. Alles baut aufeinander auf. Dieser letzte Schritt ist ein wichtiger, um Lernprozesse zu initiieren, sowohl für unsere Jugendlichen, die dadurch in eine andere Rolle schlüpfen können, als auch für Jugendliche, die diese Geschichten hören. Es ist eine Sache, wenn die Lehrkräfte und die Schulleitung diesem Thema einen Raum bieten, aber es ist noch einmal etwas anderes, wenn das von den Jugendlichen selbst kommt. Die Jugendlichen haben mir erzählt, dass sich SchülerInnen einer anderen Schule auch im Comic wiedererkannt haben und sagten: „Das sind ja wir! “ Sie haben sich mit der Art und Weise, wie die ProtagonistInnen sprechen, und auch mit deren Fragen identifiziert. Das war eine wichtige Erkenntnis. I: Was sind deiner Ansicht nach die wichtigsten Faktoren, damit ein Projekt wie dieses erfolgreich sein kann? M.C.: Ja, das sind natürlich erstens die Jugendlichen, die sehr intensiv mitarbeiten und sich darauf einlassen müssen. Es kostet sie schon Zeit. Dann braucht es Unterstützung und Akzeptanz vonseiten der Schule, angefangen von einer Schulleitung, die so ein Projekt mitträgt, und natürlich braucht man auch die Rückendeckung im Kollegium. Unsere KollegInnen in der Schulsozialarbeit haben zum Beispiel einen wichtigen Draht zu den Eltern, weil sie mit den Eltern z. T. über weiterführende Elternarbeit nochmals anders arbeiten als ich. Das hat sicher 171 uj 4 | 2022 Mehr als zwei Seiten: eine Reise nach Nahost auch dazu beigetragen, dass die Eltern ihre Kinder bereitwillig auf so eine Reise gelassen haben. So ein Projekt muss als eine Aufgabe der Schule angesehen werden und nicht als etwas, das nebenbei läuft, wenn man mal irgendwie Zeit hat. Denn man hat in der Schule nie mal so eben Zeit. Weiterhin ist auch die Zusammenarbeit mit außerschulischen KollegInnen wichtig, die eine andere Perspektive und vielfältige Expertise einbringen können. Letztlich kann ich nur ermutigen, solche Projekte umzusetzen. Vor allem bei einer so langfristigen Auseinandersetzung, wie wir sie bei dem Thema Israel und Palästina haben, erhöhen solche Projekte die Wahrscheinlichkeit, dass wir unseren Auftrag erfüllen können: nämlich Radikalisierung vorzubeugen und problematische Ansichten nicht nur zu irritieren, sondern zu einer echten Veränderung beizutragen. I: Vielen Dank für das Gespräch! Die digitale Version des Comics kann unter https: / / mehrals2seiten.de heruntergeladen oder als gedruckte Fassung per E-Mail an mail@mehrals2seiten.de bestellt werden. Julia Marie Grau Camino gGmbH Mahlower Str. 24 12049 Berlin E-Mail: juliagrau@camino-werkstatt.de Wie religionsfreie Erziehung gelingt Die Autoren skizzieren, wie es gelingt, eine nicht-religiöse Haltung in der Erziehung einzunehmen. Aufbauend auf Erkenntnissen der Hirnforschung und Entwicklungspsychologie thematisieren sie den Umgang mit wichtigen Themen wie Lebenskrisen, Tod und Trauer. Eltern erhalten ganz pragmatische Tipps, z. B. zu den Themen Feiern von religiösen und religionsfreien Festen im Jahresverlauf, Auswahl einer passenden Kita sowie Umgang mit Religionsunterricht und religiösen Ritualen in der Schule. Ulrike von Chossy / Michael Bauer Erziehen ohne Religion Argumente und Anregungen für Eltern Mit einem Geleitwort von Rolf Oerter. (Kinder sind Kinder, 40) 2013. 146 Seiten. Innenteil zweifarbig. (978-3-497-02367-7) kt a www.reinhardt-verlag.de