unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Forschungsnotiz
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Gerrit Weitzel
Der RadiRa-Forschungsverbund setzt sich aus Teams der Universität Bielefeld (Andreas Zick, Gerrit Weitzel, Jonas Feldmann, Abdul Rauf), der Fachhochschule Münster (Sebastian Kurtenbach, Armin Küchler, Linda Schumilas, Hebba Gazarin, Justin Grawanhoff, sowie assoziierten WissenschaftlerInnen (Janine Linßer/HS Augsburg) zusammen. Die Projektkoordination liegt bei Andreas Zick, die inhaltliche Leitung wird von Sebastian Kurtenbach übernommen.
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181 unsere jugend, 74. Jg., S.181 - 183 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art26d © Ernst Reinhardt Verlag Forschungsnotiz Der RadiRa-Forschungsverbund Der RadiRa-Forschungsverbund setzt sich aus Teams der Universität Bielefeld (Andreas Zick, Gerrit Weitzel, Jonas Feldmann, Abdul Rauf ), der Fachhochschule Münster (Sebastian Kurtenbach, Armin Küchler, Linda Schumilas, Hebba Gazarin, Justin Grawanhoff, sowie assoziierten WissenschaftlerInnen (Janine Linßer/ HS Augsburg) zusammen. Die Projektkoordination liegt bei Andreas Zick, die inhaltliche Leitung wird von Sebastian Kurtenbach übernommen. Islamistisch begründeter Terrorismus und somit auch islamistische Radikalisierung sind in Deutschland wie auch in anderen Ländern zu einem Dauerthema geworden. Dabei zeigt sich international ein Zusammenhang von räumlichen Konstellationen, im Speziellen von segregierten Stadtteilen, und den Ausreisen jihadistischer „Foreign Fighters“. Innerhalb der letzten 10 bis 15 Jahre sind verschiedene europäische Städte bzw. dortige Stadtteile, u. a. in Berlin, Brüssel, London und Dinslaken, zu „Jihadi Hotbeds“ geworden. In diesen Stadtteilen kommt es verstärkt zu neo-salafistischer Radikalisierung, wobei die Ursachen hierfür noch nicht vollumfänglich aufgeklärt sind. Für die hohe räumliche Konzentration von Radikalisierungsaktivitäten in bestimmten Ballungsgebieten sind drei Erklärungsansätze möglich. Erstens ließe sich vermuten, dass es sich hierbei um einen Zufall handelt, was aber unwahrscheinlich ist. Denn bei einer genaueren Betrachtung der Orte mit einer größeren neo-salafistischen Szene fallen Ähnlichkeiten untereinander, wie berichtete Diskriminierung von Minderheiten, soziale Ungleichheit oder auch verstärkte Rekrutierungsbemühungen extremistischer Gruppierungen, auf. Bei einer Zufallsverteilung sollte sich diese auch räumlich ausdrücken, also alle Stadtteile einer Stadt in ähnlicher Weise beispielsweise Ausreisen in den selbsternannten Islamischen Staat oder auch Zustimmungswerte zu extremistischem Gedankengut aufweisen. Zweitens kann das hohe Aufkommen salafistischer Aktivitäten in bestimmten Räumen durch Sortierungseffekte erklärt werden. Der Begriff bezeichnet die gezielte und möglicherweise strategisch geplante Ansammlung neosalafistischer Szeneangehöriger an einem Ort, wobei dessen soziale Gegebenheiten nicht die Ursache für den Szeneeinstieg sind und sich die Szene weitgehend unabhängig von den Verhältnissen am Ort entwickelt. Demnach müsste eine Szenekonzentration die strategische Entscheidung der einzelnen Personen sein, was durchaus möglich ist. Solche Vorgänge waren im Rechtsextremismus beispielsweise in Dortmund-Dorstfeld zu beobachten. Durch eine bewusste Konzentration auf einen Ort kann sich dann im Nachgang auch eine entsprechende Infrastruktur, wie einschlägige Buchläden, Cafés oder Gebetshäuser, entwickeln. Wenn sich die Ballung neosalafistischer Gruppen auf Sortierungseffekte zurückführen lässt, müssten eine solche Gruppen- und die entsprechende Infrastruktur unabhängig von räumlichen Merkmalen, wie der Sozialstruktur oder dem lokalen Normgefüge, zu finden sein. Drittens könnten sogenannte Kontexteffekte vorliegen. Das bedeutet, dass aufgrund räumlicher Merkmale ein spezifisches Phänomen, wie Bildungsbenachteiligung oder auch Radikalisierung, auftritt oder 182 uj 4 | 2022 Forschungsnotiz zumindest verstärkt wird. Damit würde es zur Etablierung und Ausbreitung einer Szene auch aufgrund räumlicher Einflüsse kommen, was zwar möglich, bislang aber nicht hinreichend geprüft ist. Im Rahmen des vom BMBF geförderten Verbundprojektes „Radikalisierende Räume“ am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und dem Fachbereich Sozialwesen der FH Münster werden wir alle drei Möglichkeiten beispielhaft an drei Städten bzw. dortigen Stadtteilen aus verschiedenen Perspektiven untersuchen. Damit nehmen wir einen Aspekt auf, der in der Debatte um Radikalisierung und (Radikalisierungs-)Prävention bislang wenig beachtet worden ist: den räumlichen Kontext, in dem sich Radikalisierung vollzieht. Denn bislang werden Räume zwar als Orte der Radikalisierung identifiziert, ihnen wird aber kaum ein eigenständiger Effekt zugesprochen. Dabei gehen wir mit einen Mehr- Methoden-Design vor. Empirie: Teilstudien im Projekt „Radikalisierende Räume“ Geforscht wird in drei ausgewählten Stadtteilen unterschiedlicher Kommunen. Voraussetzung für die Auswahl der Kommunen war, dass in allen etablierte salafistische bzw. islamistische Gruppen vor Ort anzutreffen sind. Ferner sind möglichst kontrastreiche Quartiere ausgewählt worden, die sich vor allem darin unterscheiden, wie die Szenen öffentlich in Erscheinung treten. Für eine möglichst ausdifferenzierte Analyse haben wir uns für ein Mehr-Methoden-Design entschieden. Die Kombination von Ergebnissen aus quantitativen und qualitativen Analysen gibt uns die Möglichkeit, die jeweiligen methodischen Begrenzungen zu überwinden und die komplementären Stärken beider Paradigmen zu fokussieren. Während die standardisierte Bevölkerungsumfrage repräsentative Daten auf Basis validierter Konzepte generiert, ergänzt die ethnografische Teilstudie die Forschung um weitere relevante Phänomene, d. h. soziale Praxen und Sinnzuschreibungen, die sich der statistischen Erfassung entziehen. Im Ergebnis können die Praxen vor Ort mit quantifizierten Einstellungsmustern, die in der Beobachtung nicht erfahrbar sind, übereinandergelegt werden und führen so zu einer differenzierten Einsicht in den Phänomenbereich. Ergänzt wird das Vorgehen durch den Einbezug von PraktikerInnen der Sozialen Arbeit im Quartier und der Befragung nicht radikalisierter BewohnerInnen. In beiden Fällen werden teilstandardisierte Interviews geführt. Professionellen der Sozialen Arbeit kommt vor Ort die Aufgabe zu, Präventionsangebote zu gestalten. Sowohl ihre Perspektive auf das Phänomen als auch die bis dato angewandten Strategien sind relevant für die Entwicklung eines gemeinwesenorientierten Präventionstools. Um die Anwendbarkeit eines solchen Tools sicherzustellen, sind ein regelmäßiger Austausch sowie die Berücksichtigung praktischer Perspektiven unerlässlich. Ebenso eingebunden sind zwei weitere Teilstudien, die sich auf Grundlage des Crime-Terror-Nexus mit der Verbindung von kleinkriminellen Milieus und radikal-islamistischer Szene beschäftigen. Weiterhin werden wir eine Bestandsaufnahme und Auswertung kommunaler Handlungskonzepte zur Radikalisierungsprävention vornehmen. Alles in allem sind vier Teilstudien im Projekt „Radikalisierende Räume“ vorgesehen (ausführlicher dazu Weitzel et al. 2022 und die Projektwebsite www.radikalisierende-raeume.de). Transferstrategie Während die Formulierung raumbezogener Präventionsansätze zum Ende des Projektes erfolgt, wird der Wissenstransfer in die kommunale und lokale Praxis sowie in die interessierte Öffentlichkeit kontinuierlich und parallel stattfinden. Hierbei greifen wir auf mehrere Strategien zurück. Dem praktischen Ziel des Projektes folgend, entwickeln wir eine Strategie der raumbezogenen Radikalisierungsprävention (ausführlicher Kurtenbach et al. 2022), welche über die Projektlaufzeit in mehreren Workshops mit Fachkräften stetig überarbeitet und erweitert wird. Weitere transferrelevante Ergebnisse sind von der Auswertung der kommunalen 183 uj 4 | 2022 Forschungsnotiz Handlungskonzepte zu erwarten. Um den formulierten praktischen Anspruch des Projektes einzulösen, verfolgen wir eine breite Kommunikationsstrategie, in deren Kern die Projektwebsite www.radikalisierende-raeume.de steht. Angegliedert an die Website sind Twitter-, Youtube- und Spotify-Kanäle, auf denen die digitalen Formate wie Podcasts, Dokumentationen etc. abgerufen werden können. Weitere Schwerpunkte bilden Lehre und Weiterbildung sowie Transparenz in Bezug auf Forschungsmaterialien. Zusammenfassung und Ziele Wir gehen davon aus, dass es sich bei der räumlichen Konzentration radikaler Gruppen nicht um Zufall handelt, sondern Sondierungsund/ oder Kontexteffekte verantwortlich sind. Ziel des Projektes ist es, den Zusammenhang von Radikalisierung und Raum systematisch im Rahmen eines Mehr-Methoden-Designs zu untersuchen. Die Studie wird so einen Beitrag zum internationalen Forschungsstand leisten und eine Brücke zwischen den bisherigen empirischen Ansätzen bilden. Ebenso relevant ist die Weiterentwicklung raumbezogener Präventionsansätze, um somit einen informierten Beitrag für die praktische Soziale Arbeit zu schaffen. Gerrit Weitzel Universität Bielefeld Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) Universitätsstr. 25 33615 Bielefeld E-Mail: gerrit.weitzel@uni-bielefeld.de Literatur Kurtenbach, S., Schumilas, L., Zick, A. (2022): Raumbezogene Radikalisierungsprävention. Skizzierung einer Strategie zur Implementierung fallunspezifischer und -spezifischer Handlungsansätze zum Umgang mit Extremismus vor Ort. In: Behn, S., Hecking, B., Hohmann, K., Schwenzer, V. (Hrsg.): Raum, Resilienz und religiös begründete Radikalisierung. Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis auf Radikalisierungsprävention in städtischen Räumen. transcript, Bielefeld (i. E.) Weitzel, G., Zick, A., Kurtenbach, S., Linßer, J., Küchler, A. (2022): Radikalisierende Räume - Skizze eines Projektes zu den räumlichen Mustern von Radikalisierung und Ansatzpunkte für den Transfer in die Prävention. In: Behn, S., Hecking, B., Hohmann, K., Schwenzer, V. (Hrsg.): Raum, Resilienz und religiös begründete Radikalisierung. Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis auf Radikalisierungsprävention in städtischen Räumen. transcript, Bielefeld (i. E.) Vorschau auf die kommende Ausgabe Koalitionsvertrag und Jugendhilfe Wir leben aktuell in jugendhilfepolitisch spannenden Zeiten. Nach dem KJSG im Juni letzten Jahres liegt nun auch der Koalitionsvertrag der Bundestagsfraktionen vor. Hier wird in Heft 5 thematisiert, welche Auswirkungen auf die Jugendhilfe in dieser Legislaturperiode zu erwarten sind. Überaus spannend für junge Menschen und die Jugendhilfe sind auch nach wie vor die coronabedingt herausfordernden Rahmenbedingungen. In der nächsten Ausgabe wird daher der Blick darauf gerichtet, was Kinder und Jugendliche hierbei stärken kann, so z. B. ressourcenorientierte Ansätze und eine bessere Gewährleistung von Partizipation.
