unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Was stärkt? Hilfen für Kinder und Jugendliche in der Coronakrise
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Maria Kurz-Adam
Seit März 2020 befinden sich die Kinder und Jugendlichen in Deutschland in einem Ausnahmezustand. Mehrfache lange Lockdowns, komplizierte und kaum kalkulierbare Stufen von Betreuung und Unterricht und die neuen, immer wieder abgeänderten behördlichen Coronamaßnahmen haben eine tiefe Schneise in die Lebensführung und die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen gezogen. Nichts schien mehr wie vorher zu sein. Auch den Eltern, den Fachkräften in den Kindergärten und den Lehrkräften wurde viel abverlangt. Die Neuorganisation des Alltags, die Umstellung des Kindergartenbetriebs und des Schulbetriebs auf digitale Konzepte, das Bemühen der Fachkräfte um die Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen, die allgegenwärtige Sorge um die psychische und physische Gesundheit der Kinder und um die eigene Gesundheit haben den Familienalltag, den Alltag in Kindergarten und Schule, das Zusammensein im engsten Kreis völlig verändert.
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221 unsere jugend, 74. Jg., S. 221 - 227 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art31d © Ernst Reinhardt Verlag von Dr. Maria Kurz-Adam Diplompsychologin, ehemalige Professorin für Psychologie in der Sozialen Arbeit, ehemalige Leiterin des Stadtjugendamtes München, Autorin mehrerer Bücher Was stärkt? Hilfen für Kinder und Jugendliche in der Coronakrise Seit März 2020 befinden sich die Kinder und Jugendlichen in Deutschland in einem Ausnahmezustand. Mehrfache lange Lockdowns, komplizierte und kaum kalkulierbare Stufen von Betreuung und Unterricht und die neuen, immer wieder abgeänderten behördlichen Coronamaßnahmen haben eine tiefe Schneise in die Lebensführung und die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen gezogen. Nichts schien mehr wie vorher zu sein. Auch den Eltern, den Fachkräften in den Kindergärten und den Lehrkräften wurde viel abverlangt. Die Neuorganisation des Alltags, die Umstellung des Kindergartenbetriebs und des Schulbetriebs auf digitale Konzepte, das Bemühen der Fachkräfte um die Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen, die allgegenwärtige Sorge um die psychische und physische Gesundheit der Kinder und um die eigene Gesundheit haben den Familienalltag, den Alltag in Kindergarten und Schule, das Zusammensein im engsten Kreis völlig verändert. Corona und die psychischen Folgen Es scheint, als würden die Folgen der Coronakrise und vor allem der langen Lockdowns auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen erst jetzt sichtbar. „Die Vergessenen“ titelte ein Beitrag von Vera Schroeder in der Süddeutschen Zeitung am 11. Mai 2021 (Schroeder 2021); der Titel allein verrät, dass auch die Medien lange Zeit die Lebenssituation der Kinder kaum aufgegriffen haben. Der Beitrag richtet den Blick auf die große Zahl der Kinder und Jugendlichen, die die mehrfachen Lockdowns in echter Not zugebracht haben und auch heute noch darunter leiden. Kinder und Jugendliche seien während der Pandemie „wie Schiebemasse im Maßnahmenchaos behandelt“ worden, ohne Lobby, ohne Konzept, ohne große politische Rücksichtnahme auf ihre Situation und ihre von vielen Verzichten geprägte Lebenszeit. Die Zeit der Lockdowns war auch eine Zeit fehlender öffentlicher Wertschätzung der Kinder und Jugendlichen, lange fehlender politischer Sorge, eine Zeit, in der die Angst die erwachsene Gesellschaft mehr beherrscht hat als die Zuversicht. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie berichtet derzeit an vielen Orten von chronischen Überbelegungen. Angst- und Essstörungen hätten, 222 uj 5 | 2022 Was stärkt Kinder und Jugendliche in der Coronakrise? so ist in einer aktuellen Studie der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) zur Inanspruchnahme therapeutischer Leistungen von Kindern und Jugendlichen zu lesen, deutlich zugenommen (KKH 2021). Schon vor der Pandemie seien, so die Studie, im Zeitraum von 2009 bis 2019 nahezu alle psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen massiv angestiegen, angeführt von Depressionen, deren Diagnosen sich in diesem Zeitraum verdoppelt hätten. Der emotionale Stress hat seit Beginn der Pandemie Einzug in fast alle Familien gehalten - 77 Prozent der 1.000 befragten Eltern der KKH-Studie berichten, dass ihr Kind unter emotionalem Stress, Leistungsängsten, Einsamkeit und Langeweile leide. Ähnliche Daten berichtet die„Corona und Psyche (COPSY)-Studie“ des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf (UKE 2021), in der 83 Prozent der mehr als 1.000 online befragten Kinder und Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren die Coronakrise als äußerst belastend empfinden. Vor allem in ärmeren und mit Krisen vorbelasteten Familien sei, so die Ergebnisse einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) zur Situation von Kindern und ihren Familien nach dem ersten Lockdown 2020, das Risiko für psychische Probleme der Kinder und Jugendlichen besonders ausgeprägt (Langmeyer et al. 2020). Im Spektrum schwerer Belastungen der Kinder - schwere emotionale Probleme wie etwa Angststörungen und Hyperaktivität - scheint sich, so die vorsichtige Einschätzung der AutorInnen, eine Steigerung zu Vergleichsstichproben vor dem ersten Lockdown um etwa 10 Prozent abzuzeichnen. Der Zusammenhang zum Bildungsstatus und zur finanziellen Situation der Familien ist evident - die schweren psychischen Belastungen nehmen zu, je niedriger der Bildungsstatus und das finanzielle Einkommen der Eltern ist. Vor allem aber steigen die psychischen Belastungen der Kinder, wenn die Eltern selbst mit Problemen und Ängsten zu kämpfen haben und Konflikte und tägliches Chaos das Familienklima prägen. Die Folgen der Coronakrise - mehr Therapiebedarf für Kinder und Jugendliche? Die fachpolitischen Antworten auf die Belastungen, die Kinder und Jugendliche während der Coronakrise erlebt haben und in ihren Folgen entstanden sind, sind vielfältig. Das Bildungssystem setzt vor allem auf nachholende hybride und digitale Unterrichtsformen, die die Lernlücken schließen sollen. Von sozialpolitischer Seite werden verstärkt Angebote im Freizeitbereich gefördert, um die Begegnungen der Kinder und Jugendlichen untereinander wieder zu ermöglichen. Aber auch die psychisch schwer belasteten Kinder und Jugendlichen brauchen Hilfe. Vor allem das Gesundheitssystem fordert daher einen Ausbau und ein Umdenken der bisherigen Versorgungsstrategien. Das System der Kinder- und Jugendpsychotherapie scheint unter dem Druck der Probleme aktuell an seine Grenzen zu kommen. So berichten in einer Umfrage des Deutschen Psychotherapeutenverbands vom Februar 2021 über die Hälfte der 685 befragten niedergelassenen Kinder- und JugendpsychotherapeutInnen von Wartezeiten von sechs Monaten und länger (Meyer 2021). Viele kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken fordern einen massiven Ausbau der stationären Therapieplätze, die Fachverbände mehr ambulante Therapieplätze und zumindest vorübergehende Erleichterungen bei der Kassenzulassung neuer Kolleginnen und Kollegen, um die Angebote für Kinder und Jugendliche auszubauen und die Kinder mit schweren psychischen Belastungen nicht lautlos den Warteschleifen des Systems als eine „Schiebemasse“ zu überlassen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist zumeist eine späte - manchmal zu späte - Station in der Kette der Unterstützungsangebote und Hilfen, die ein Kind oder Jugendliche erfahren haben. Vor allem die stationären Plätze werden zumeist erst dann in Anspruch genommen, wenn eine akute Gefahr für Leib und Leben eines Kindes oder Jugendlichen besteht oder wenn die Probleme im Zusammenhang der psychischen 223 uj 5 | 2022 Was stärkt Kinder und Jugendliche in der Coronakrise? Störung so groß sind, dass sie im Alltag von Familie, Schule und Freundschaften nicht mehr aufgefangen werden können. Aber jede psychische Störung hat eine Vorgeschichte, einen sozialen Zusammenhang, eine Geschichte von Hilfe, Sorge, aber auch von fehlenden Möglichkeiten und Leerlauf. Der jetzt aus dem Gesundheitssystem neu angemeldete Bedarf an stationären Plätzen oder die Forderung nach einem Ausbau der ambulanten Therapieplätze signalisiert daher nicht allein einen Anstieg der schweren behandlungsbedürftigen Störungen. Die hohe Zahl belasteter Kinder wirft ebenso die Frage ihrer Erklärungen auf und sie fordert dazu auf, die sozial- und gesundheitspolitischen Strategien neu zu denken. Was ist also geschehen, dass jetzt, nachdem das Schlimmste der Pandemie überstanden zu sein scheint, die Rufe nach mehr Therapie laut werden? Was hat den Kindern und Jugendlichen gefehlt, dass es heute - so scheint es - oftmals allein mit Therapie ersetzt werden kann? Deutlich wird in allen vorliegenden Studien, dass in der Zeit der Lockdowns auch in den stabilsten Verhältnissen Kinder und ihre Familien sich alleingelassen gefühlt haben. Viele Institutionen der Hilfe und Unterstützung sind in den ersten Monaten der Krise nahezu von der Bildfläche verschwunden, die Hilfenetzwerke wurden zeitweise ganz gekappt, Hygienekonzepte mussten provisorisch unter Bedingungen der Unsicherheit entwickelt werden, viele Hilfeangebote mussten experimentieren, hatten mit Regeln, wechselnden Verboten, fehlender digitaler Ausrüstung und - das auch - mit den eigenen Ängsten zu kämpfen. Doch dies allein erklärt nicht vollständig die aktuelle Not der Kinder, den hohen Therapiebedarf. Viel mehr ins Gewicht fallen wohl die tiefen inneren Erfahrungen von Einsamkeit und Ohnmacht. Nicht allein die auferlegte soziale Distanz, sondern vor allem die Wahrnehmung einer unsicher gewordenen Zukunft hat die Kinder und Jugendlichen oftmals zermürbt. „Ich habe mich noch nie so ohnmächtig gefühlt“, schreibt eine Jugendliche im einem Fragenbogen der JuCo Studie, der Satz ist exemplarisch für viele Erfahrungen (Andresen et al. 2020). Die Ohnmachtserfahrung geht einher mit der Erfahrung, nicht wichtig zu sein und allenfalls als eine Gruppe angesehen zu werden, die die Infektionszahlen geringzuhalten und möglichst bald die Versäumnisse an den Schulen und Universitäten aufzuholen habe. Die vergessenen Kinder und Jugendlichen aber fordern auf ihre - immer noch stille und in sich zurückgezogene - Weise ein, gesehen zu werden. Sie zeigen mit ihren Problemen die große Angst, mit der sie oft allein waren, den Verlust der Sicherheit und ihres Selbstwertes. Ihre Geschichten und Erfahrungen während der Lockdowns zeigen, was ihnen gefehlt hat und sie zeigen mehr noch, was notwendig sein wird, wenn Kinder und Jugendliche in den nächsten Jahren wirksame Stärkung erfahren und Gehör bekommen sollen. Resilienz - eine Erinnerung an ein Konzept Seit Jahrzehnten hat das sozialpsychologische Konzept der Resilienz - der psychischen Widerstandsfähigkeit - einen festen Platz in der Forschung zum Wohlergehen und zum Befinden von Kindern und Jugendlichen. In dieser Zeit hat sich das Begriffsfeld zunehmend ausgeweitet. Von einem auf hochriskante Lebensereignisse und Traumata begrenzten Konzept wird heute unter Resilienz eine allgemeine psychische Anpassungsfähigkeit an die Herausforderungen des Alltags verstanden. Auch vermeintliche kleine Kränkungen und von außen kaum merkliche Frustrationen können große psychische Probleme auslösen, und ebenso können sich Kinder auch von schweren traumatischen Erlebnissen erstaunlich gut erholen. Psychische Widerstandsfähigkeit ist daher nicht so sehr eine feste Eigenschaft einer Person, die bei extremen äußeren Belastungen wirksam wird, sondern ist als Prozess zu verstehen, der in hohem Maß abhängig vom Zeitpunkt belastender Ereignisse in der Lebensspanne und der sozialen Lebenswelt 224 uj 5 | 2022 Was stärkt Kinder und Jugendliche in der Coronakrise? ist. Als wesentliche soziale Einflussfaktoren für die Ausbildung einer psychischen Widerstandsfähigkeit von Kindern werden heute die sozialökonomische Sicherheit, der soziale Zusammenhalt in der Familie und im Freundeskreis sowie die unterstützende Umgebung in den Institutionen des Aufwachsens identifiziert. Sie tragen entscheidend dazu bei, dass Kinder ein stabiles Selbstwertgefühl und vor allem die Überzeugung gewinnen können, auch schwierige Phasen gut zu überstehen und Probleme kompetent bewältigen zu können. Dies alles ist nicht neu. Resilienzforschung und Angebote zur Stärkung der Resilienz an Kitas und Schulen haben sich über die Jahre zu einem Baustein im Unterstützungsangebot für Kinder entwickelt, fachpolitische Netzwerke und Angebote der Fort- und Weiterbildungen haben sich herausgebildet. Viele Angebote zur Stärkung der Resilienz hatten jedoch Projektcharakter, sie waren ein freiwilliges Zusatzangebot, das abhängig von der Zustimmung der Leitungskräfte in den Kindergärten und Schulen und von den zeitlichen Möglichkeiten der Lehrkräfte war und zumeist zeitlich begrenzt wurde. Ihre Bedeutung im Betreuungs- und Bildungsalltag der Kinder und Jugendlichen war nachrangig, sie wurde vielfach systematisch unterschätzt. Heute, nach den jetzt sichtbaren Folgen der Lockdowns auf das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen und im Blick auf die aktuelle Mangelsituation therapeutischer Versorgung, wird die eigentliche Bedeutung dieser vielfältigen Angebote zur Resilienz wieder deutlich. Die Frage, wie Kinder und Jugendliche psychisch gestärkt werden können, um in einem veränderten und unsicherer gewordenen Alltag selbstbewusst bestehen zu können, erhält durch die Maßnahmen der Coronakrise einen zentralen Stellenwert für die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, die gesundheitliche Versorgung und für das öffentliche Bildungs- und Betreuungssystem. Denn die Stärkung der psychischen Widerstandskraft von Kindern und Jugendlichen erweist sich als ein wesentlicher Schlüssel, um den großen Belastungen, die nach den langen Lockdowns das Leben vieler Kinder und Jugendlichen kennzeichnen, entgegenzuwirken. Es geht heute nicht allein um mehr nachholende Therapie oder mehr nachholende Bildung, sondern ebenso um mehr psychische Kraft im Alltag. Psychische Widerstandskraft braucht Begegnung Eine aktuelle Studie des DJI verweist darauf, dass die wesentlichen Stützfaktoren für das Zurechtkommen der Kinder und Jugendlichen in der Pandemie der Zusammenhalt in der Familie, aber ebenso das Offenhalten der Institutionen von Schule und Kindergarten seien (Langmeyer et al. 2020, 105). Die Sorge in der Familie füreinander ist - so zeigen es alle bisherigen Forschungen zur Resilienz - eine große Hilfe und wesentlicher Schutzfaktor. Mehr aber noch wird jetzt deutlich, dass die Institutionen des Aufwachsens nicht allein Bildungsorte sind, die durch digitales Lernen ersetzt werden können. Sie sind, so die Lehre aus der Pandemie, zentrale Lebensorte für Kinder, die ihrem Lebensalltag Begegnung und Sinn verleihen können. Ihr Fehlen in der Pandemie erinnert jetzt schmerzhaft daran, was die Kraft sicherer und schützender sozialer Begegnungen und Lebensorte für das psychische Wohlbefinden der Kinder bewirken kann. Denn die Institutionen des Aufwachsens sind selbst Orte, an denen Tag für Tag Resilienz entwickelt und gelernt wird. Die Begegnung zwischen Menschen als Quelle psychischer Widerstandskraft ist ein substanzieller Bestandteil der sozialen, pädagogischen oder psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen. In allen Lebensorten des Aufwachsens findet Begegnung statt, sie ist Ort der Auseinandersetzung, der Freundschaft, der Erfahrung von Konflikt und Ausgleich, der Hilfe, der Selbstvergewisserung. Begegnung findet in der Wirklichkeit statt. Auch in den digitalen Formen, mit denen viele Lehrkräfte, TherapeutInnen und 225 uj 5 | 2022 Was stärkt Kinder und Jugendliche in der Coronakrise? pädagogische Fachkräfte den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen gehalten haben, gibt es eine innere Wirklichkeit für die Kinder und Jugendlichen, eine Erfahrung von Sorge, Wertschätzung, eine Form des Dialogs der Anerkennung. Aber Begegnung braucht die Erfahrung in der äußeren Welt. Sie braucht freie und gestaltbare Räume, in denen es möglich ist, Nähe und Distanz zu balancieren, sich zurückzuziehen oder Nähe zu suchen. Begegnung muss auch in der körperlichen Wirklichkeit stattfinden, damit die Gedanken und Gefühle Korrektur und Struktur erfahren und an der Realität geprüft werden können. Die Antworten der über 7.000 jungen Menschen, die in einer Befragung zur Lebenssituation während der Coronamaßnahmen an einer großen Studie der Universität Hildesheim teilgenommen haben, zeichnen ein eindrucksvolles Bild ihrer veränderten sozialen Situation (Andresen et al. 2020). Deutlich wird, dass selbst dort, wo alle digitalen Möglichkeiten verwirklicht sind und die Familie Halt gibt, tiefe Einsamkeitsgefühle entstanden sind. Kindern und Jugendlichen fehlten die Formen der Begegnung in den Zwischenräumen des durchorganisierten Alltags - die zeitlich offenen Treffen mit FreundInnen an öffentlichen Plätzen, die kurzen Gespräche, bevor die jungen Menschen die Schule betreten, das Klassenzimmer wechseln oder das Schulgebäude verlassen. Es fehlten die kleinen Auszeiten von der Familie, das Tanzen, Musikhören, das Zusammensein ohne Zwang. Begegnung in der Wirklichkeit ist mehr als der digitale Kontakt. Kinder und Jugendliche erfahren Begegnung vor allem im persönlichen Zusammensein, in den freien Möglichkeiten des Spiels, sie brauchen die Freiheit, zwischen Rückzug und Teilhabe selbst entscheiden zu können, sie brauchen die Zwischenräume in ihrem durchorganisierten Leben, um Lebensfreude zu haben, sich zu erholen, sich selbst zu vertrauen. Sie brauchen die Prüfung ihrer Gedanken in der Realität. Diese Freiheit der persönlichen Begegnung bildet die Substanz psychischer Widerstandskraft. In allen bildungspolitischen und sozialpolitischen Überlegungen zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen in den Kindergärten und Schulen kann es daher nicht allein um nachholendes Lernen oder um eine bloße Rückkehr zum Status quo der Abläufe vor der Pandemie gehen. Jede Strategie zur Rückkehr in die Normalität gerät immer in Gefahr, Probleme und Fragen zu verdecken oder gar zu verleugnen. Die jungen Menschen wollen nicht allein als SchülerInnen gesehen werden, die möglichst schnell wieder in die Institutionen des Aufwachsens zurückgeführt werden. Sie wollen in ihrem gesamten Lebenszusammenhang gesehen werden. Sie wollen sich begegnen können. Begegnung zwischen den Kindern und Jugendlichen untereinander, Begegnung zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, den Fachkräften und Lehrkräften braucht Zeit, Raum und ein Maß an innerer und äußerer Freiheit. Sie verträgt keine Eile und keine Hast. Sie braucht gesellschaftliche Wertschätzung. Wenn die Rückkehr nach den Coronamaßnahmen auch eine Zeit der Stärkung psychischer Widerstandskraft sein soll, müssen alle bildungs- und sozialpolitischen Programme und Maßnahmen dies in ihren Zielen und Absichten bedenken. Ein wenig Zeit zum Luftholen muss sein, die Möglichkeit der Zwischenräume muss da sein, aber auch eine Zeit des Zuhörens, was die jungen Menschen fühlen und wollen, und eine Zeit, zusammen Antworten zu finden. Für diese Zeit sollten sich die öffentlichen Institutionen, die Kindergärten und Schulen, nicht vor der Politik rechtfertigen müssen. Diese Zeit ist da, sie wird dringend gebraucht. Psychische Widerstandskraft braucht Zuversicht Psychische Widerstandsfähigkeit zeichne sich, so die durchgängige Beschreibung in den Lehrbüchern, dadurch aus, Ungewissheiten aushalten zu können. Die innere Überzeugung, das eigene Leben auch unter riskanten Bedingungen selbst formen zu können, ist das wesent- 226 uj 5 | 2022 Was stärkt Kinder und Jugendliche in der Coronakrise? liche Rüstzeug dafür. Selbst wenn die Gegenwart Ungewissheit enthält, bleibt die Zukunft eine offene Zeit, die aus eigener Kraft gestaltet werden kann. Diese Zuversicht ist zugleich Quelle und Voraussetzung psychischer Widerstandskraft. Sie ist Quelle, weil sie den Menschen dabei hilft, schwierige Zeiten zu überstehen und sich schneller von Belastungen zu erholen, und sie ist Voraussetzung, wenn es darum geht, Bedingungen und Strukturen zu schaffen, in denen psychische Widerstandskraft entstehen und gelernt werden kann. Carl R. Rogers, der berühmte Psychotherapeut und einer der Begründer der Humanistischen Psychologie, hat die Zuversicht in den Mittelpunkt seiner therapeutischen und beraterischen Arbeit gestellt. Sie ist der Kern einer Begegnung zwischen Menschen, die er als „hilfreiche Beziehung“ beschreibt. „Mit diesem Begriff“, so schreibt Rogers, „meine ich eine Beziehung, in der zumindest eine der Parteien die Absicht hat, beim anderen Entfaltung, Entwicklung, Heranreifung, besseres Agieren, ein verbessertes Fertigwerden mit dem Leben zu fördern“. Die hilfreiche Beziehung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der Persönlichkeit - sie hilft den TeilnehmerInnen in dieser Beziehung „dahin zu gelangen, daß die latenten inneren Ressourcen des Individuums höher geschätzt, nachhaltiger ausgedrückt und wirksamer gebraucht werden“ (Rogers 2016, 53). Diese klassische humanistische Definition von Hilfe, die Carl Rogers hier vorgeschlagen hat, entfaltet heute eine besondere Kraft für die Zukunft von Kindern und Jugendlichen. Sie macht deutlich, dass es in der Hilfe und Unterstützung für Kinder und Jugendliche nicht allein um die Beseitigung von Störungen oder die Wiederherstellung eines früheren Zustandes geht, sie richtet den Blick auf die Zukunft und alle darin geborgenen Möglichkeiten - die Entfaltung der ganzen Person, die Stärkung der inneren Kraft, die Wertschätzung der inneren Ressourcen. Dieser Blick löst sich von den Diagnosen und Klassifikationen, mit denen derzeit die Kinder und Jugendlichen im fachöffentlichen Diskurs der Kinder- und Jugendpsychiatrie beschrieben werden. Er löst sich behutsam von der Festlegung, die allen Störungsbegriffen innewohnt, und leuchtet hinein in einen Raum des Werdens. Im Denken von Rogers ist die Zeit, die vor den Kindern und Jugendlichen heute liegt, die Zeit der Stärkung. „Wenn ich den Menschen im Prozeß des Werdens ansehe, dann trage ich dazu bei, seine Potentialitäten zu bestätigen oder real werden zu lassen“ (Rogers 2016, 69). So sehr es heute notwendig ist, Wartezeiten auf Therapieplätze zu reduzieren und langfristige Therapieplätze anzubieten, so sehr ist es für das gesundheitspolitische und sozialpolitische System in Deutschland auch notwendig, sich daran zu erinnern, was Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag stärkt. Das sind nicht allein die professionellen therapeutischen Hilfen, die ausgearbeiteten Trainingsprogramme, die Nachhilfeangebote und die schulische Aufholjagd, die seitens der Politik jetzt so vehement gefördert werden soll. Die vergessenen Kinder brauchen jetzt keinen Druck. Sie brauchen vor allem Gehör und sie brauchen Zeit. Sie brauchen Erwachsene, die genug Zeit, Raum und institutionelle Sicherheit haben können, sie kontinuierlich und geduldig zu unterstützen, sie brauchen Kindergärten und Schulen, die eine feste und regelmäßige Zeit dafür einrichten können, sich den Kindern in ihrem psychischen Befinden zuzuwenden, ohne sich beständig rechtfertigen zu müssen, dass damit wertvolle Bildungszeit verloren gehe. Kinder und Jugendliche brauchen gerade jetzt ein Umfeld in den Institutionen des Aufwachsens, das sich für sie sicher und zuwendend anfühlt. Sie brauchen Unterstützung, die ihnen eine Zeit des Werdens zugesteht, und sie brauchen die Zuversicht, dass die Zukunft ihnen offensteht. Dr. Maria Kurz-Adam E-Mail: kurz.adam@t-online.de 227 uj 5 | 2022 Was stärkt Kinder und Jugendliche in der Coronakrise? Literatur Andresen, S., Lips, A., Möller, R., Rusack, T., Schröer, W., Thomas, S., Wilmes, J. (2020): Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo. In: https: / / www.dksb.de/ filead min/ user_upload/ JuCo_StudieJugendliche.pdf, 18. 10. 2021 KKH Kaufmännische Krankenkasse (2021): KKH-Studie. In: https: / / www.kkh.de/ presse/ pressemeldungen/ schuelerstress, 27. 10. 2021 Langmeyer, A., Guglhör-Rudan, A., Naab, T., Urlen, M., Winklhofer, U. (2020): Kindsein in Zeiten von Corona. DJI Dezember 2020. Erste Ergebnisse zum veränderten Alltag und zum Wohlbefinden von Kindern. In: https: / / www.dji.de/ themen/ familie/ kindsein-in-zeiten-von-corona-studienergebnisse. html, 18. 10. 2021 Meyer, J. (2021): Kinder sind die Verlierer der Pandemie. KVNO aktuell 07 + 08, 2 − 5, https: / / www.kvno.de/ fileadmin/ shared/ pdf/ print/ kvno_aktuell/ kvno_aktuell _21_08.pdf, 18. 10. 2021 Rogers, C. R. (2016): Entwicklung der Persönlichkeit. 20. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Schroeder, V. (2021): Die Vergessenen. In: https: / / www. sueddeutsche.de/ wissen/ corona-die-vergessenenkinder-jugendliche-1.5291952, 27. 10. 2021 Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE) (2021): COPSY (Corona und Psyche)-Studie. In: https: / / www. uke.de/ allgemein/ presse/ pressemitteilungen/ detail seite_96962.html, 27. 10. 2021 2021. 247 Seiten. 38 Abb. 12 Tab. (978-3-8252-5579-4) kt Gesundheit zahlt sich aus Es ist nicht leicht, gesund zu bleiben. Besonders ArbeitnehmerInnen aus dem sozialen Sektor leiden oft unter körperlichen oder psychosozialen Beschwerden. Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) kann das Wohlbefinden der MitarbeiterInnen erhöhen und die Produktivität und Attraktivität des Arbeitgebers steigern. Dieses Buch zeigt anhand von Unternehmensbeispielen Schritt für Schritt den Aufbau eines systematischen BGM auf. 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