eJournals unsere jugend 74/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung: Professionalisierung oder Deprofessionalisierung von Betreuung?

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2022
Gunther Graßhoff
Markus Sauerwein
Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ist verankert, wie aber wird Qualität und Professionalität in Betreuungsangeboten sichergestellt werden? Welche Konzepte und Modelle von Professionalität werden sich in Theorie und Praxis durchsetzen? In diesem Beitrag werden sowohl Chancen wie auch Risiken der Professionalisierung in diesem Feld aufgezeigt und diskutiert.
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238 unsere jugend, 74. Jg., S. 238 - 244 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art35d © Ernst Reinhardt Verlag Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung: Professionalisierung oder Deprofessionalisierung von Betreuung? Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ist verankert, wie aber wird Qualität und Professionalität in Betreuungsangeboten sichergestellt werden? Welche Konzepte und Modelle von Professionalität werden sich in Theorie und Praxis durchsetzen? In diesem Beitrag werden sowohl Chancen wie auch Risiken der Professionalisierung in diesem Feld aufgezeigt und diskutiert. von Prof. Dr. Gunther Graßhoff Professor für Sozialpädagogik an der Stiftung Universität Hildesheim, Institut für Sozial- und Organisationspädagogik. Arbeitsgebiete: Kinder- und Jugendhilfeforschung, Ganztagsbildung, Migration Prof. Dr. Markus Sauerwein Professor für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf Einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in das SGB VIII aufzunehmen, ist zunächst ein zentraler Schritt, den verbindlichen Ausbau ganztägiger Betreuung zu forcieren. Mit der Rechtsnorm wird jedoch in keiner Weise der Weg des qualitativen Ausbaus festgelegt. Zumindest sind in der jetzigen Norm mögliche qualitative Orientierungen nicht gesetzt worden (Wrase 2021): Mit Blick auf die derzeitige Organisation der ganztägigen Betreuung ist eine hohe Differenz zwischen den Bundesländern (u. a. StEG-Konsortium 2019; Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021), aber auch innerhalb der Bundesländer festzustellen (s. exemplarisch für NRW: Lange/ Weischenberg 2021): Kooperationen unterschiedlicher Tiefe mit Horten und Jungendzentren bis hin zu einem allein durch die Schule getragenen Ganztag, Personal unterschiedlichster pädagogischer Qualifikationen bis hin zu Nicht-qualifizierten, Kostenbeteiligung bis hin zu kostenfreien Angeboten, ein nur rudimentäres Angebotsspektrum (meist Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung) bis hin zu einer Vielzahl an AGs etc. kennzeichnen die Ganztagsbetreuung in Deutschland. Einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder umzusetzen, bedeutet folglich nicht nur eine erhebliche Ausweitung von Betreuungsangeboten in öffentlicher Verantwortung, sondern impliziert auch eine Diskussion über die Sicherstellung von Qualität der unterschiedlichen Angebote in Schule so- 239 uj 6 | 2022 Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung wie Kinder- und Jugendhilfe. Es geht folglich bei der Diskussion um die Einführung eines Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung nicht ausschließlich um die Frage der Sicherstellung von „Betreuung“ über den (Vor-)Mittag hinaus, sondern um ein umfassendes gesellschaftliches Projekt der besseren Verschränkung von formaler und non-formaler Bildung und somit auch um eine Neujustierung öffentlicher Erziehungsverantwortung. In diesem Beitrag werden einige dieser Fragen mit einer professionstheoretischen Brille beleuchtet. Es wird davon ausgegangen, dass nicht nur Fragen der Qualität von Ganztagsbetreuung auf der Agenda stehen, sondern auch grundlegend professionstheoretische Fragen geklärt werden können. Die erste Ebene ist die Frage der Professionalisierung von Betreuung im Spannungsfeld von Schule und Kinder- und Jugendhilfe. An der Geschichte der Hortbetreuung wird deutlich, dass sich hieraus keine eindeutige Professionalität (z. B. im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe) ablesen lässt. Zweitens kommt die Ebene der Ausbildung und Professionalisierung der Fachkräfte zur Sprache. Es mangelt nicht nur an Fachkräften insgesamt (Fischer/ Graßhoff 2021), sondern auch bei der Frage, welcher Weg der Professionalisierung und Ausbildung überhaupt eingeschlagen werden soll. Dies geht direkt in die Frage nach der Professionalisierung des Feldes insgesamt über: Am Beispiel der Diskussion um LaiInnen in diesem Feld wird die Frage gestellt, ob Professionalisierung überhaupt die Zielperspektive von Betreuung sein wird oder ob es auch bewusste Formen der Deprofessionalisierung geben soll. „Von der Notfalleinrichtung zum Regelangebot“ (Pesch 2000) - Betreuung im Kontext des Hortes Institutionell kann man Betreuungsarrangements unterteilen in zusätzliche Angebote der Schule, staatlich geförderte Angebote der außerschulischen Betreuung und nicht geförderte außerschulische Angebote (Geis-Thöne 2020). Es ist dabei anzumerken, dass der Begriff Hort sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft nicht exklusiv für außerschulische Betreuungsarrangements reserviert ist. Markert (2021) unterscheidet den Hort als Einrichtung der Kindertagesbetreuung im Sinne des SGB VIII § 22ff 1 und den Hort als Angebot der Schule. Allerdings ist auch diese Zuordnung keinesfalls eindeutig, sondern sind Mischformen und Zuständigkeitsdiffusionen zu beobachten. Somit variieren auch die Zahlen zur Hortbetreuung erheblich. Markert geht für das Jahr 2019 von einer Hortnutzung von durchschnittlich 16,6 % aus, die allerdings je nach Bundesland zwischen null und 88 % variiert (2021, 85). Auch in der Kinder- und Jugendhilfestatistik werden mittlerweile nicht nur Kinder in Hortangeboten erfasst, sondern die Anzahl der Grundschulkinder in schulischen Ganztagsangeboten (Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik 2021). Insgesamt ist aber festzustellen, dass Anstiege in den Nutzungsquoten in den letzten Jahren sowohl bei den schulischen wie auch bei den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe zu verzeichnen sind. Dies ist insofern bemerkenswert, da mit dem Ausbau der Ganztagsschule bereits das Ende des Hortes prophezeit wurde (Rißmann 2016). Nun deuten aber die Zahlen auf einen umgekehrten Effekt hin, gemäß dem der „Hort“ eine bildungs- und sozialpolitisch durchaus attraktive Möglichkeit darstellt, auf den erhöhten Bedarf an Kinderbetreuung im und jenseits des schulischen Ganztages zu reagieren. Eine Pädagogik des Hortes im engeren Sinne hat sich bislang nicht entwickelt (Kaplan/ Becker-Gebhard 1999). Zudem hat sich die Rolle des Hortes in den letzten Jahren verändert, ohne dass dies in der Wissenschaft reflektiert oder in der Praxis explizit intendiert war. Zu- 1 Die Betreuung von Grundschulkindern in der Kindertagespflege ist allerdings quantitativ wenig bedeutsam. 240 uj 6 | 2022 Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung nächst ist die Geschichte des Hortes in zwei unterschiedlichen Entwicklungen zu verstehen (Huppertz/ Meier-Musahl 1999): Die Bundesrepublik und die DDR haben je eigene Settings von Hortbetreuung etabliert (Mattes 2009). Wenn in der Erziehungswissenschaft über den Hort geforscht wird, dann mit einem Bias auf den Hort als Angebot der Kinder- und Jugendhilfe in bundesrepublikanischer Tradition. Hierbei steht der Hort in fürsorgerischer Tradition (Balluseck 2000) und die Entwicklung wird von einer Notfalleinrichtung hin zu einer Regeleinrichtung beschrieben (Pesch 2000). Damit verbunden ist auch eine veränderte Adressierung der NutzerInnen von Horten: Während bis in die 1980er Jahre der Hort kompensatorische Funktion hat, setzt sich der Hort als Regelangebot der Betreuung erst mit der Einführung des SGB VIII durch (BMFSFJ 2005). Erstaunlich wenig wird der Hort auch als Einrichtung non-formaler Bildung gesehen (Gängler/ Markert 2015). Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz verschwindet schließlich der Begriff Hort gänzlich aus dem Gesetz und wird mit„Tageseinrichtung für Schüler im schulpflichtigen Alter“ ersetzt. Insgesamt kann die Hortpädagogik jedoch als Forschungsfeld resümiert werden, in dem weitgehend eine nicht empirische und romantisierende Auseinandersetzung stattfindet: Der Hort als sozialpädagogische Einrichtung zur Bewahrung einer idealisierten Kindheit (Enderlein 2019). Zumindest für die Hortbetreuung im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe muss die Professionalisierungsgeschichte als heterogen beschrieben werden: Welche Kompetenzen brauchen Fachkräfte in der Betreuung? Die Wege der Professionalisierung Selbst wenn der Fachkräftemangel aktuell in dem Feld der Kinder- und Jugendhilfe nicht so massiv ausfiele 2 (Fischer/ Graßhoff 2021), wäre völlig unklar, welches professionelle Profil Ganztagsbetreuung überhaupt erfordert. Die inhaltliche Unbestimmtheit der Ziele von Ganztagsbetreuung - oder sollte besser von Ganztagsbildung die Rede sein? - und die organisationale Vielfalt von Angeboten führt dazu, dass derzeit kein Konsens in Sicht ist, welche Ausbildung das Personal am Ganztag haben soll. Für die Hortbetreuung kann zumindest das Fachkräftegebot angelegt werden. Hier sind vor allem ErzieherInnen relevante Akteursgruppe. Gleichzeitig stellt aber die Gruppe der ErzieherInnen gerade die Gruppe dar, die in den nächsten Jahren selbst bei steigenden Ausbildungszahlen am wenigsten für die Ganztagsbetreuung zur Verfügung stehen wird. Ebenso ist der Ganztag mit oftmals nur Halbtagsstellen (von 11.00 bis 16.00 Uhr) im Vergleich zur Kita benachteiligt. Eine noch weitere Akademisierung des Feldes der Betreuung ist wenig vorstellbar. Bis jetzt ist das Thema Ganztagsschule in sozial- und kindheitspädagogischen Studiengängen kaum etabliert (Sauerwein/ Heer 2020). Unabhängig der Tatsache, dass auch Hochschulen und Universitäten kaum quantitativ in der Lage wären, in diesem Umfang auszubilden, würden die kommunalen Spitzenverbände wahrscheinlich direkt Sturm laufen: Denn die für den Ausbau vorgesehenen finanziellen Mittel werden bereits jetzt die zu erwartenden Kosten nicht decken (Guglhör-Rudan/ Alt 2021). Denkbar sind auch eigene Wege der Ausbildung des Personals in der Ganztagsbetreuung über spezielle Weiterbildungen oder eigene Ausbildungs- und Studiengänge: Das Feld könnte sich sozusagen als in Abgrenzung zu schul- und sozialpädagogischer Professionalität profilieren, ähnlich wie dies in der Kindheitspädagogik der Fall ist. 2 Rauschenbach et al. (2021) rechnen mit 20.000 bis 40.000 Vollzeitstellen, je nach Betreuungsschlüssel. Mit dem KiTa-Ausbau wird prognostiziert, dass etwa 110.000 Vollzeitstellen fehlen. 241 uj 6 | 2022 Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung LaiInnen oder Profis in der Ganztagsbetreuung? Weil die Ganztagsbetreuung die Grenzen des schulpädagogischen Alltags erweitern soll, ‚funktioniert‘ sie nur, wenn neben LehrerInnen weiteres pädagogisch tätiges Personal eingebunden ist. Die Personalfrage wird entsprechend unter professionstheoretischem Vorzeichen und den Begriffen der Multi- und Interprofessionalität bzw. Teamarbeit von professionellen PädagogInnen unterschiedlichster Provenienz verhandelt: LehrerInnen als schulische Leitprofessionelle sowie SozialpädagogInnen, SchulsozialarbeiterInnen, SonderpädagogInnen, ErzieherInnen als Professionsandere, die nun in der Schule pädagogisch tätig werden, sei es als in der Schule selbst angestellte Fachkräfte oder als solche, die über Kooperationsverträge mit außerschulischen Trägern in Schulen einbezogen werden. Inzwischen sind einige Studien der ganztagsschulbezogenen Kooperationsforschung erschienen, die die Praxisformen, Asymmetrien, Zuständigkeits- und Verantwortungsdifferenzierungen, Konfliktzonen und Anforderungen im Zusammenwirken von beruflich qualifizierten PädagogInnen in der Ganztagsschule untersuchen und strukturelle wie berufskulturelle Gelingensbedingungen ausbuchstabieren (vgl. zusammenfassend Thieme 2021). Weitestgehend unberücksichtigt geblieben ist dabei allerdings der Sachverhalt, dass ein nicht geringer Anteil des weiteren pädagogischen Personals im Ganztag über gar keine formale Berufsausbildung als PädagogIn verfügt. Schätzungen gehen hier von 14 Prozent (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021) bis hin zu 40 Prozent (vgl. Steiner 2013; Höhmann et al. 2008) aus. Berufs- und professionssoziologisch sind diese Personen als „pädagogische Laien“ (Steiner 2013) bzw. als „Non-Professionelle“ (Bebek/ Idel 2021) zu bezeichnen. Ähnlich wurde diese Struktur bereits für den Bereich der Schulbegleitungen herausgearbeitet, wenn Heinrich und Lübeck (2013) diese wachsende Gruppe an Schulen als„Hilflose häkelnde Helfer“ bezeichnen. Für die Schulen im Ganztag sind LaiInnen in der Regel aufgrund ihrer mitgebrachten Sachexpertise interessant, d. h. sie können etwas Bestimmtes (eine Sportart, ein Instrument, ein künstlerisches oder handwerkliches Hobby etc.), mit dem sie den außerunterrichtlichen Angebotsbereich am Nachmittag bereichern sollen. Die pädagogische Eignung wird dann vorab unterstellt bzw. im Prozess dadurch überprüft, dass Klage ausbleibt oder explizit Lob kommuniziert wird, die LaiInnen also nicht als pädagogisch inkompetent auffallen und damit selbst zum Problem werden. Auch werden mittlerweile verstärkt Weiterbildungen angeboten (s. u. a. Akademie für Ganztagspädagogik). Das empirische Wissen zu pädagogischen Lai- Innen ist defizitär. Steiner, die sich als eine von wenigen mit ihnen befasst hat, schreibt dem Laienbegriff Irritationspotenzial zu: Er stünde als „Synonym für Unzulänglichkeit“ (Steiner 2013, 65) und würde wahrscheinlich deswegen nicht in der Diskussion verwendet. Stattdessen wird diese Gruppe ohne einen formalen pädagogischen Ausbildungsgrad mehr oder weniger unter den Begriff der Multiprofessionalität subsumiert bzw. inkludierend mitthematisiert, wenn etwa in Empfehlungen zur guten Ganztagsschule formuliert wird, dass zu deren Realisierung „pädagogische Fachkräfte, aber auch pädagogische Laien [gehören], die mit ihren Kompetenzen die Lernmöglichkeiten der Schule erweitern“ (Radisch et al. 2017, 32). LaiInnen wären in dieser Argumentation damit kein Übergangsphänomen aufgrund von Fachkräftemangel oder ein Sparmodell in einer Zeit des Kostendrucks, sondern über spezifische „Kompetenzen“ konzeptionell legitimiert. Damit geraten die LaiInnen aber auch in eine direkte Konkurrenz zu den pädagogischen Fachkräften in Schulen, da sie Wissen auch ohne spezifische schulpädagogische Qualifikation zu vermitteln scheinen und auch nicht auf die professionalisierte Handlungsmaxime eines sozialpädagogischen Lebensweltbezugs rekurrieren müssen. Der Lebensweltbezug wird ihnen als LaiInnen gewissermaßen gratis zugeschrieben, er 242 uj 6 | 2022 Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung muss nicht professionell erworben werden. Erinnerungen an den langen Weg der Professionalisierung der Sozialen Arbeit und Diskussionen um „Mütterlichkeit als Beruf“ (Sachße 1994) - die meisten LaiInnen sind weiblich - werden wieder wach. Die Vielfalt an pädagogischen AkteurInnen gilt als Qualitätsmerkmal in der Ganztagsschule. Am Beispiel des Diskurses um Multiprofessionalität wurde dies einleitend dargestellt. Gleichzeitig verdeckt der Begriff Multiprofessionalität die Tatsache, dass auch (pädagogische) LaiInnen einen großen Teil des sonstigen Personals ausmachen, der in der Schule bezahlte pädagogische Arbeit verrichtet. Professionstheoretisches Fazit Für die Soziale Arbeit, die einen mühevollen Weg der Professionalisierung hinter sich hat, ist die Tendenz der Laisierung aber auch der Verlagerung ins Schulische ambivalent. Pointiert werden drei Herausforderungen. 1. Durch die Verlagerung ins Schulische besteht das Risiko, dass Soziale Arbeit in den Dienst der Schule gestellt wird (u. a. Böllert 2018). Ganztagsbetreuung würde eine Kompensationsfunktion bzw. eine Erziehende Funktion für die Schule übernehmen. Lehrkräfte etablieren sich als Leitprofession, die SozialpädagogInnen bestimmte Aufgaben delegieren. Damit gehen jedoch die Methoden, Sichtweisen und Zugänge der Sozialpädagogik verloren. Andererseits kann es der Sozialen Arbeit im Ganztag jedoch gelingen, den im SGB VIII verankerten Anspruch, sich an alle Kinder zu richten, wirklich einzulösen, denn in die Schule geht (fast) jedes Kind. 2. LaiInnen können mit ihrer Expertise den Ganztag stärker in den Sozialraum öffnen und legitimieren sich durch ihre „Sachexpertise“. In einer idealen Welt könnten LaiInnen so SozialpädagogInnen unterstützen und ergänzende Angebote bereitstellen, Kindern mehr Wahlmöglichkeiten und spannende Projekte anbieten. In der Realität werden LaiInnen sowohl als kostengünstige Alternative sowie aufgrund des Fachkräftemangels benötigt. Fort- und Weiterbildungen könnten hier für eine minimale pädagogische Grundqualifizierung sorgen, jedoch stellt sich dann die Frage, wieso Träger, Schulen oder Kommunen die teure Fachkraft einstellen sollten, wenn es auch die günstige nicht qualifizierte Person sein kann. Dies wäre ein Rückschritt des sozialpädagogischen Professionalisierungsprojektes. 3. Drittens kann hinterfragt werden, ob Ganztagsbetreuung oder Ganztagsbildung überhaupt ein sozialpädagogisches Feld ist, findet hier Soziale Arbeit zumeist an Schulen statt. Auch geht es weniger um soziale Probleme (u. a. Staub-Bernasconi 2010), sondern alle Kinder und Jugendlichen werden adressiert und Bildung steht im Fokus. Ähnlich wie bereits in der Kindheitspädagogik besteht hier zumindest die Möglichkeit einer Abspaltung. Während im vergangenen Jahrhundert die Vereinigung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik gelungen ist und insgesamt für das Projekt der Sozialen Arbeit hiervon profitierte, könnte die Etablierung eines neuen Berufs bevorstehen. Dies ist jedoch insofern kritisch, weil somit die in den vergangenen Jahren erarbeiteten und erprobten sozialpädagogischen Kompetenzen im Handlungsfeld Schule (Graßhoff/ Sauerwein 2021) wieder verloren gehen könnten. Ganztagsbetreuung kann ein zentrales (neues) Aufgabenfeld der Sozialpädagogik werden. Hierfür bedarf es jedoch professionspolitisch einer klaren Positionierung und Zuständigkeit für dieses Arbeitsfeld. Praxis und Wissenschaft müssen Überlegungen anstellen, welche Aufgaben sie hier übernehmen möchten und welche Themen anderen Berufsgruppen überlas- 243 uj 6 | 2022 Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung sen werden - ähnlich wie bei der Schulsozialarbeit (Kooperationsverbund Schulsozialarbeit 2015). In Studium und Ausbildung muss auf das Arbeitsfeld vorbereitet werden, ebenso braucht es eine breite Diskussion, wie und in welchem Umfang pädagogische LaiInnen zu integrieren sind und welche minimalen Anforderungen diese erfüllen sollten. Dies ist durchaus ein schwieriger Balance-Akt, den Sozialpädagogik hier bewältigen muss: Zwischen der pragmatischen Realität des Fachkräftebedarfs, gesellschaftlichen und schulpädagogischen Ansprüchen und der eigenen Perspektive, Fragen der Öffnung von Schule und Laisierung und der Verantwortung, Ganztagsbetreuung als sozialpädagogisches Handlungsfeld anzuerkennen. Prof. Dr. Gunther Graßhoff Institut für Sozial- und Organisationspädagogik, Stiftung Universität Hildesheim Universitätsplatz 1 31141 Hildesheim Prof. Dr. Markus Sauerwein Fliedner Fachhochschule Düsseldorf Geschwister-Aufricht-Straße 9 40489 Düsseldorf Literatur Autorengruppe Fachkräftebarometer (2021): Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2021. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, https: / / doi. org/ 10.36189/ wiff32021 Autorengruppe Kinder‐ und Jugendhilfestatistik (Hrsg.) (2021): Kinder- und Jugendhilfereport Extra 2021: Eine kennzahlenbasierte Kurzanalyse. Eigenverlag Forschungsverbund DJI/ TU, Dortmund Balluseck, H. v. (2000): Zur Entwicklung von sozialpädagogischen Angeboten für Schulkinder in Deutschland von 1945 bis heute. In: Berry, G., Pesch, L. (Hrsg.): Welche Horte brauchen Kinder? Ein Handbuch. 2. Aufl. Luchterhand, Neuwied/ Berlin, 11 - 26 Bebek, C., Idel, T.-S. (2021): Pädagogische Laien als Akteure in der Organisation Ganztagsschule. Ethnographische Beobachtungen aus dem Forschungsprojekt JenUs. In: Holtappels, H.-G. et al. (Hrsg.): IFS-Bildungsdialog 2020, Münster u. a. (im Erscheinen) Böllert, K. (2018): Einleitung: Kinder- und Jugendhilfe - Entwicklungen und Herausforderungen einer unübersichtlichen sozialen Infrastruktur. In: Böllert, K. (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Springer, Wiesbaden, 3 - 64 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2005): 12. Kinder- und Jugendbericht. Berlin Enderlein, O. (2019): Qualität in Hort, Schulkindbetreuung und Ganztagsschule. Grundlagen zum Leiten, Führen, Managen. Herder, Freiburg/ Basel/ Wien Fischer, J., Graßhoff, G. (Hrsg.) (2021): Fachkräfte! Mangel! Die Situation des Personals in der Sozialen Arbeit. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel Gängler, H., Markert, T. (2015): „Die Horte“ und „sein“ Bildungsauftrag. Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 5, 8 - 11 Geis-Thöne, W. (2020): Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern. Eine Übersicht zum aktuellen Stand. Institut der deutschen Wirtschaft, Köln Graßhoff, G., Sauerwein, M. N. (Hrsg.) (2021): Rechtsanspruch auf Ganztag. Zwischen Betreuungsnotwendigkeit und fachlichen Ansprüchen. Beltz Juventa, Weinheim/ München Guglhör-Rudan, A., Alt, C. (2021): Ganztägige Bildung und Betreuung - auch eine Frage der Finanzen. Eine Schätzung der Gesamtkosten des bedarfsgerechten Ganztagsangebots. In: Graßhoff, G., Sauerwein, M. N. (Hrsg.): Rechtsanspruch auf Ganztag. Zwischen Betreuungsnotwendigkeit und fachlichen Ansprüchen. Beltz Juventa, Weinheim/ München, 40 - 56 Heinrich, M., Lübeck, A. (2013): Hilflose häkelnde Helfer? Zur pädagogischen Rationalität von Integrationshelfer/ inne/ n im inklusiven Unterricht. Bildungsforschung 10, 91 - 110 Höhmann, K., Bergmann, K., Gebauer, M. (2008): Das Personal. In: Holtappels, H. G., Klieme, E., Rauschenbach, T., Stecher, L. (Hrsg.): Ganztagsschule in Deutschland. Ergebnisse der Ausgangserhebung der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG). 2. Aufl. Juventa, Weinheim, 77 - 85 244 uj 6 | 2022 Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung Huppertz, N., Meier-Musahl, R. (Hrsg.) (1999): Hortpädagogik: eine Einführung in Theorie und Praxis. PAIS, Oberried bei Freiburg Kaplan, K., Becker-Gebrhard, B. (Hrsg.) (1999): Handbuch der Hortpädagogik. 2. Aufl. Lambertus, Freiburg im Breisgau Kooperationsverbund Schulsozialarbeit (2015): Schulsozialarbeit - Anforderungsprofil für einen Beruf der Sozialen Arbeit. In: http: / / www.kv-schul sozialarbeit.de/ Anforderungsprofil_Schulsozial arbeit_2015.pdf, 25.03.2022 Lange, M., Weischenberg, J. (2021): Institutionelle Betreuung im Grundschulalter in NRW. Betreuungswünsche und Elternbedarfe - Landes- und Regionalperspektive. Dortmund Markert, T. (2021): Der Hort im Ganztag. In: Graßhoff, G., Sauerwein, M. N. (Hrsg.): Rechtsanspruch auf Ganztag. Zwischen Betreuungsnotwendigkeit und fachlichen Ansprüchen. Beltz Juventa, Weinheim/ München, 81 - 95 Mattes, M. (2009): Ganztagserziehung in der DDR. „Tagesschule“ und Hort in den Politiken und Diskursen der 1950erbis 1970er-Jahre. In: Stecher, L., Allemann-Ghionda, C., Helsper, W., Klieme, E. (Hrsg.): Ganztägige Bildung und Betreuung. Beltz, Weinheim/ Basel, 230 - 246 Pesch, L. (2000): Von der Notfalleinrichtung zum Regelangebot. In: Berry, G., Pesch, L. (Hrsg.): Welche Horte brauchen Kinder? Ein Handbuch. 2. Aufl. Luchterhand, Neuwied/ Berlin, 27 - 32 Radisch, F., Klemm, K., Tillmann, K-J. 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Springer, Wiesbaden Sauerwein, M., Heer, J. (2020): Implementation des Themas „Ganztagsschule“ in Lehramtsstudiengänge, Studiengänge der Sozialen Arbeit und Erziehungswissenschaften. Mercator Stiftung Staub-Bernasconi, S. (2010): Soziale Arbeit und Soziale Probleme. In: Thole, W. (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit: Ein einführendes Handbuch. 3. Aufl. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 267 - 282 StEG-Konsortium (2019): Ganztagsschule 2017/ 2018. Deskriptive Befunde einer bundesweiten Befragung. Frankfurt am Main, Dortmund, Gießen & München. In: https: / / www.dipf.de/ de/ forschung/ pdf-forschung/ llib/ bericht-ganztagsschulen-2017-2018, 18.03.2022 Steiner, C. (2013): Die Einbindung pädagogischer Laien in den Alltag von Ganztagsschulen. Bildungsforschung 1(10), 64 - 90 Thieme, N. (2021): Berufsgruppenübergreifende Kooperation in ganztägigen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsarrangements. In: Graßhoff, G., Sauerwein, M. N. (Hrsg.): Rechtsanspruch auf Ganztag. 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