unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Der Fachkräftemangel im Ganztag aus Perspektive der Fachschulen für Sozialpädagogik
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Daniela Rose
Die Herausforderungen in Einrichtungen des Offenen Ganztags (OGS) werden in der Öffentlichkeit und in den Fachkreisen thematisiert – und nicht erst seit Beschluss des Rechtsanspruchs für Grundschulkinder ab dem Schuljahr 2026/27. Studien und Pilotprojekte sowie sich daraus ableitende Handlungsnotwendigkeiten für die Qualitätssicherung gibt es viele. Konkrete und vor allem wirksame Maßnahmen gegen den immer weiter steigenden Fachkräftemangel sowie die Einführung gesetzlicher Standards für die OGS-Einrichtungen fehlen.
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258 unsere jugend, 74. Jg., S. 258 - 261 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art38d © Ernst Reinhardt Verlag Der Fachkräftemangel im Ganztag aus Perspektive der Fachschulen für Sozialpädagogik Ein Interview mit Vertretern des Johannes-Kessels-Akademie e.V. Die Herausforderungen in Einrichtungen des Offenen Ganztags (OGS) werden in der Öffentlichkeit und in den Fachkreisen thematisiert - und nicht erst seit Beschluss des Rechtsanspruchs für Grundschulkinder ab dem Schuljahr 2026/ 27. Studien und Pilotprojekte sowie sich daraus ableitende Handlungsnotwendigkeiten für die Qualitätssicherung gibt es viele. Konkrete und vor allem wirksame Maßnahmen gegen den immer weiter steigenden Fachkräftemangel sowie die Einführung gesetzlicher Standards für die OGS-Einrichtungen fehlen. Über den Status quo in den zwei Fachschulen für Sozialpädagogik des Johannes-Kessels-Akademie e. V. (JKA e. V.) bezüglich des OGS, die damit verbundenen aktuellen und zukünftigen Herausforderungen sowie mögliche Lösungswege zur Fachkräftegenerierung diskutieren Prof. Dr. Hermans, Caritasdirektor für die Stadt Essen und Vorstandsvorsitzender des JKA e. V., Georg Hengst, Schulleiter des Berufskollegs für Gesundheit- und Sozialwesen JKA Essen-Werden, und Matthias Schwark, Schulleiter des Berufskollegs für Gesundheits- und Sozialwesen JKA Gladbeck. Interviewerin: Daniela Rose Geschäftsstellenleiterin des Johannes-Kessels- Akademie e. V. (JKA e. V.) Der JKA e. V. ist ein eingetragener Verein mit Sitz in Essen, der seit 1990 zwei katholische Berufskollegs mit Bildungsgängen im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens an den Standorten Essen-Werden und Gladbeck betreibt. Georg Hengst Schulleiter JKA Essen-Werden Björn Enno Hermans Caritasdirektor für die Stadt Essen, Vorstandsvorsitzender JKA e.V. Matthias Schwark Schulleiter JKA Gladbeck Interviewte: Fotograf: Thomas Willemsen 259 uj 6 | 2022 Fachkräftemangel im Ganztag Georg Hengst konstatiert: Wir erhalten quasi wöchentlich Anrufe von OGS-Einrichtungen, die händeringend nach JahrespraktikantInnen suchen. Doch aus unseren zwei konsekutiven Klassen wählt nur ein Bruchteil der Studierenden das Anerkennungsjahr in einer Einrichtung des Offenen Ganztags. Matthias Schwark ergänzt: Bei uns in Gladbeck sieht es ähnlich aus: Das zweite Praktikum in der Unterstufe unserer Fachschule absolvieren alle Studierenden im Offenen Ganztag, allerdings nur 10 % davon wählen den Bereich für das Jahrespraktikum. In der Regel sind wir als Fachschule-VertreterInnen in den für diesen Bereich relevanten Gremien nicht zwingend vertreten. Wenn Sie sich die Zusammensetzung der Initiativen zur Stärkung des Ganztags anschauen, finden Sie VertreterInnen der Schulen, der OGS-Einrichtungsträger und der Kommunen. Die diskutieren dann gemeinsam und formulieren die Anforderungen für die Fachkräftesicherung. Bund oder Land setzen diese irgendwann per Anordnung um - und erst dann kommen wir ins Spiel. Björn Enno Hermans: Bekanntermaßen gibt es seit mindestens zwei Jahrzehnten zu wenige ErzieherInnen. Durch den Ausbau der Bildungs- und Betreuungsangebote der unter 3-Jährigen hat sich diese Sachlage in den letzten Jahren deutlich verschärft. Der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz ab 2026 wird die Situation noch einmal dramatisch zuspitzen. Der Mangel hat schon jetzt zu einer Kannibalisierung der Einsatzbereiche KiTa, Ganztag und Jugendhilfe geführt… Matthias Schwark: … bei der die OGS-Einrichtungen nach wie vor den Kürzeren ziehen. Dies liegt an der schwierigen Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch den zwingenden Einsatz im Nachmittagsbereich. Auf der anderen Seite ist das Angebot von Vollzeitstellen deutlich geringer als im KiTa-Bereich. Um eine Familie überhaupt mit einer Ausübung als ErzieherIn ernähren zu können, müssen Sie jedoch in Vollzeit tätig sein. Georg Hengst: Und genau da liegt die Krux: Für eine Vollzeitanstellung müssen die OGS-Fachkräfte optimal in den Vormittagsbereich eingebunden werden. Und da treffen - überspitzt gesagt - bis zu vier verschiedene Berufsgruppen aufeinander, die ihre originären Aufgaben sinnvoll miteinander zum Wohle der SchülerInnen verzahnen sollen. Aus meiner Sicht sind jedoch weder SozialarbeiterInnen noch ErzieherInnen derzeit dazu ausgebildet, in das Unterrichtsgeschehen sinnstiftend und bereichernd einzugreifen, geschweige den Unterricht stellvertretend - auch nicht in Teilen - zu übernehmen. Dazu gibt es ein Lehramtsstudium. Praxis ist beispielsweise heute, dass IntegrationshelferInnen dem Unterricht beiwohnen, um KollegInnen und vor allem den betroffenen integrativen Kindern und Jugendlichen Hilfestellung geben zu können. Ich habe häufig beobachtet, dass diese IntegrationshelferInnen zwar vor Ort sind, aber aufgrund mangelnder Ausbildung nicht wirklich eingreifen können und hilflos sind. Es konnte in besagten Fällen kaum von einer Übernahme pädagogischer Aufgaben die Rede sein. Hier bedarf es eben einer expliziten Ausbildung in der Fachschule. Matthias Schwark: Mangels gesetzlicher Vorgaben ist die pädagogische Mitarbeit der OGS-Fachkräfte im Unterricht nach wie vor eine Grauzone. Und welcher Schulleitung soll man es verübeln, bei hohem Krankheitsstand für die Vertretung der Lehrkräfte auf die den Klassen bereits bekannten Ganztagskräfte oder SchulsozialarbeiterInnen zurückzugreifen? Dennoch bin ich der Meinung, dass eine Kooperation von Lehrkräften, Schulsozialarbeit, Integrationshilfe und OGS- Fachkräften funktionieren kann und muss. 260 uj 6 | 2022 Fachkräftemangel im Ganztag Björn Enno Hermans: In Essen erfolgt zum kommenden Schuljahr die Überleitung aller 29 derzeit noch städtisch betreuten OGS-Schulstandorte an die Tochtergesellschaft Jugendhilfe Essen gGmbH. Dann sind alle 87 OGS-Schulstandorte ab August dieses Jahres in einer Hand. Für die Beschäftigten hat die Jugendhilfe ein Handbuch herausgegeben, in dem beispielsweise auch explizit vorgeschrieben ist, wie viele Stunden die Fachkräfte maximal pro Woche im Unterricht eingesetzt werden dürfen. An unserem anderen Schulstandort befindet man sich bereits in der Umsetzung erfolgreicher Konzepte: Die Stadt Gladbeck mit ihren zehn Grundschulstandorten hat schon vor zwölf Jahren einen Qualitätszirkel mit Vertretungen von Schulleitungen, OGS-Trägern, Fachkräften, Eltern und der Kommune zur optimalen Verzahnung des Ganztags mit dem Unterricht eingerichtet. Gemeinsames Ziel ist es, in allen Grundschulen - neben den klassischen - überwiegend rhythmisierte Klassenverbände einzurichten, die von 8: 00 Uhr bis 16: 00 Uhr gemeinsam lernen, Hausaufgaben erledigen, Mittag essen und spielen. ErzieherInnen und Lehrkräfte arbeiten engmaschig zusammen, und Unterrichtsstunden können auch am Nachmittag stattfinden. Bereits 15 - 20 % der Klassenverbände wurden umgestellt. Die Kooperation zwischen den vier Trägern der Ganztagseinrichtungen ist im Übrigen sehr ausgeprägt: AWO, Caritas und Fördervereine sehen sich nicht als Konkurrenten, sondern verstehen sich als Gesamtnetzwerk. Durch diese Umsetzungen sind die OGS-Träger automatisch zu attraktiven Arbeitgebern für ErzieherInnen geworden. Natürlich sind längst nicht alle Kommunen so weit in der Planung und Umsetzung. Daher bedarf es dringend gesetzlicher Vorgaben. Im Land NRW gibt es zwar diesbezüglich einige Erlasse, allerdings fehlen nach wie vor verbindliche Vorgaben zu Gruppengrößen, Personalschlüsseln und Einsatzbereichen. Rechtssicherheit kann letztendlich nur ein Gesetz analog zum „KiBiz“ für die Ganztag-Träger bieten. Inhaltlich wäre dann hier auch auszugestalten, wie das pädagogische Gesamtwerk eines OGS der Zukunft aussehen sollte, um den Anliegen der formalen und informellen Bildung der Kinder umfassend gerecht zu werden. Georg Hengst: Der Bund und auch das Land NRW sollten zudem vorab und dringend klären, welche Fachkräfte überhaupt zum Einsatz kommen können. Sind es ausschließlich ErzieherInnen oder SozialarbeiterInnen oder eine Kombination aus beiden Personengruppen? Hier müssten dann die Curricula z. B. in der konsekutiven oder praxisintegrierten Form der Ausbildung viel stärker auf den OGS ausgerichtet sein. Ferner müsste verlässlich erhoben werden, wie hoch der Fachkräftemangel in den Kindertagesstätten und eben dem OGS ist. Björn Enno Hermans: In Essen werden laut Jugendamt bis Inkrafttreten des Rechtsanspruchs 680 weitere Fachkräfte benötigt - ohne den Bedarf in den KiTas und der Jugendhilfe. In Gladbeck müsste man bis zum Rechtsanspruch auch für die ViertklässlerInnen in 2029 die existierende Gruppenzahl in den OGS-Einrichtungen verdoppeln. Eine Idealsituation entstünde bei 50 weiteren Gruppen mit 100 zusätzlichen Fachkräften. Matthias Schwark: Um diese Bedarfe auch nur ansatzweise zu decken, wird man die Qualitätsansprüche an das Nicht-Leitungspersonal gering halten - und wir als Fachschulen kreativ denken - müssen. Eine mögliche weitere Zielgruppe für den OGS sind die SozialassistentInnen und KinderpflegerInnen aus unseren Berufsfachschulen. Hier könnte eine spezielle Schulung gerade diejenigen 40 % eines Jahrgangs für den Einsatz im Ganztag qualifizieren, die nicht die ErzieherInnen-Ausbildung an unseren Fachschulen anschließen möchten bzw. aufgrund ihrer Leistungsmöglichkeiten nicht können. In 261 uj 6 | 2022 Fachkräftemangel im Ganztag diesem Zusammenhang möchte ich die Aufbaubildungsgänge „Offene Ganztagsschule“ der LVR Fachschule in Düsseldorf mit Bedburg-Hau als Dependance und der LWL Fachschule in Hamm erwähnen. Dort werden in eineinhalb Jahren 600 Stunden Fachwissen aus der 2.400 Stunden umfassenden ErzieherInnen-Ausbildung mit einem Schwerpunkt auf die Zielgruppe im Ganztag vermittelt. Georg Hengst: Diese Aufbaubildungsgänge finden allerdings während der eineinhalb Jahre in den Abendstunden und an Wochenenden statt. Das wäre für unsere BerufsfachschulabsolventInnen, die dann ja parallel schon bei einem Träger für den Ganztag arbeiten würden und nach der Arbeit bzw. am Wochenende zu uns kämen, eine große Belastung. Alternativ könnte man natürlich über einen Vollzeit-Aufbaubildungsgang nachdenken, beispielsweise in den Sommerferien. Björn Enno Hermans: Sicherlich ist es ein sinnvoller Gedanke, unsere Einrichtungen auch außerhalb der klassischen Schul-Kernzeiten als Lernorte für den Fachkräftebedarf zu nutzen. Die Refinanzierung der damit verbundenen Mehrkosten des Trägereigenanteils für uns als privater, kirchlicher Träger müsste natürlich gesichert sein. Dies gilt im Übrigen auch für die Erweiterung unserer Bildungsgangangebote um weitere Eingangsklassen. Bei Letzterem muss zudem berücksichtigt werden, dass wir - wie die meisten anderen Fachschulen - räumlich limitiert sind. Georg Hengst: Wenn wir schon kreativ denken, möchte ich noch einmal auf die Schulsozialarbeit zurückkommen: Warum integrieren wir diese nicht dezidiert in den Fächerkanon der Fachschule? Dann wäre eine ausgebildete Vollzeitfachkraft optimal im Vor- und Nachmittagsbereich einsetzbar - immer vorausgesetzt, die Abstimmung zwischen Lehrkörper und OGS funktioniert gut. Björn Enno Hermans: Es ist grundsätzlich richtig, schon jetzt selbst zu überlegen, wie wir als Fachschulen uns zusätzlich gegen den Fachkräftemangel aufstellen könnten. Ich wähle hier ganz bewusst den Konjunktiv, denn die Rahmenbedingungen dafür müssen zunächst vom Bund und den Ländern geschaffen werden. Die Wurzeln des Problems liegen aus meiner Sicht noch viel tiefer: Der Mangel an Lehrkräften führt dazu, dass unsere Fachschulen immer länger benötigen, um ihre Vakanzen mit geeigneten AbsolventInnen zu besetzen, die dann wiederum die Studierenden zu ErzieherInnen ausbilden sollen … Es ist also deutlich zu kurz gedacht, die Fachschulen auszubauen oder neue zu planen, damit mehr Ausbildungsplätze angeboten werden können. Wenn man wirklich das große Ganze betrachtet, müssten die Stellschrauben schon an ganz anderer Stelle justiert werden und dazu zählt eine Attraktivitätssteigerung des gesamten Berufszweiges. Daniela Rose Johannes-Kessels-Akademie e. V. Am Porscheplatz 1 45127 Essen E-Mail: daniela.rose@caritas-essen.de
