unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Wen und was erreicht queere Jugendarbeit?
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Folke Brodersen
Nora Gaupp
Claudia Krell
Philipp Stachowiak
Queere Jugendarbeit stellt einen Teilbereich der breiten Jugendarbeitslandschaft dar. Sie strukturiert Räume, die insbesondere LSBT*Q-Jugendlichen eine Selbstverständlichkeit erleben lassen, in denen sie sexuelle Orientierung und geschlechtliche Zugehörigkeit entwickeln können und durch die Sexualität und Geschlecht thematisierbar werden. Der Beitrag zeigt die deutschlandweite Verbreitung queerer Jugendarbeit und das Stadt-Land-Ungleichgewicht der Angebote. Er legt dar, inwiefern queere Jugendarbeit zielgruppenadäquat LSBT*Q-Jugendliche erreicht und insbesondere psychosozial belasteten Jugendlichen alltagsweltliche Unterstützung und Umgangsstrategien anbietet.
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378 unsere jugend, 74. Jg., S. 378 - 389 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art55d © Ernst Reinhardt Verlag Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? Queere Jugendarbeit stellt einen Teilbereich der breiten Jugendarbeitslandschaft dar. Sie strukturiert Räume, die insbesondere LSBT*Q-Jugendlichen eine Selbstverständlichkeit erleben lassen, in denen sie sexuelle Orientierung und geschlechtliche Zugehörigkeit entwickeln können und durch die Sexualität und Geschlecht thematisierbar werden. Der Beitrag zeigt die deutschlandweite Verbreitung queerer Jugendarbeit und das Stadt-Land- Ungleichgewicht der Angebote. Er legt dar, inwiefern queere Jugendarbeit zielgruppenadäquat LSBT*Q-Jugendliche erreicht und insbesondere psychosozial belasteten Jugendlichen alltagsweltliche Unterstützung und Umgangsstrategien anbietet. von Folke Brodersen Jg. 1991; M. A. Gender Studies, CAU Kiel 1. Offene queere Jugendarbeit − Worüber reden wir? Queere Jugendarbeit stellt einen eigenständigen und quantitativ wachsenden Teil der vielfältigen‚Jugendarbeitslandschaft‘ dar. Sie wendet sich insbesondere an junge Menschen mit einer nicht-heterosexuellen Orientierung (also z. B. lesbische, schwule, bisexuelle, pansexuelle, asexuelle Jugendliche) und/ oder einer nicht-cisgeschlechtlichen Zugehörigkeit (also z. B. trans*- und nicht binäre Jugendliche). 1 In ihrem Verhältnis zu ihrer sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Zugehörigkeit können sich Dipl.-Psych. Dr. Claudia Krell Jg. 1975; Fachstelle Fortbildung der Lesbenberatungsstelle LeTRa Dipl.-Psych. Dr. Nora Gaupp Jg. 1975; DJI München Philipp Stachowiak Jg. 1999; B. A. Sozialwissenschaften, Forschungsgruppe „Reorganisation von Wissenspraktiken“ am Weizenbaum Institut für die Vernetzte Gesellschaft 379 uj 9 | 2022 Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? die Jugendlichen dabei in einem frühen Stadium des Bewusstwerdens befinden, können sich ausprobieren und entdecken oder über eine größere Klarheit und Sicherheit über ihr Empfinden verfügen. Queere Jugendarbeit eröffnet Räume und erhebt den Anspruch, gesellschaftliche Normen reflexiv zurückstellen zu können und eine positiv konnotierte Bezugnahme zu ermöglichen (Busche 2021). Sowohl während des Coming-outs als auch darüber hinaus sind queere Räume für LSBT*Q-Jugendliche von großer persönlich-biografischer Bedeutung. Die von uns im Folgenden betrachtete queere offene Jugendarbeit ist Teil einer Bandbreite von Angebotsformen und Formaten der Jugendarbeit. Mit einem Verständnis als ,jugendliche Ermöglichungsräume‘ (siehe Pluto 2022) gehören dazu die Angebote der klassischen Jugendarbeit, worunter sowohl die offene Jugendarbeit in Form von Jugendzentren und Jugendgruppen fällt als auch die verbandliche Jugendarbeit, im Rahmen derer sich junge Menschen nach ihren Interessen und Werten zusammenfinden und diese dort leben. In diesem Sinne finden sich queere Jugendgruppen als eigenständige Gruppenformate in eigener Trägerschaft, innerhalb von (queeren) Jugendzentren, aber auch in der Pfadfinderschaft, der Feuerwehr, des Technischen Hilfswerks, der DLRG, den verschiedenen Naturschutzverbänden, von Sport- und Musikverbänden, aber auch von Kirchen, Parteien und Gewerkschaften. Queere Jugendarbeit wird insbesondere von LSBT*Q-Jugendlichen genutzt - es handelt sich um eine Zielgruppe von jungen Menschen in einer bestimmten Lebensphase und in einer bestimmten Lebenssituation. Damit verfolgt queere Jugendarbeit eine doppelte Zielsetzung und inhaltliche Ausrichtung. Zunächst versteht sich die Jugendarbeit als Ort jenseits von Familie und Schule, an dem Jugendliche sich ausprobieren können, an dem sie auf Gleichaltrige treffen, an dem Freundschaften entstehen und gelebt werden und an denen ein vielfältiges Angebot der Freizeitgestaltung besteht. Hierunter fallen sportliche, musikalische und kulturelle Aktivitäten, thematische Workshops, Spiele, Barabende und offene Treffs. So spricht auch die queere Jugendarbeit LSBT*Q- Jugendliche zunächst als junge Menschen per se an. In ihrer zweiten Funktion bezieht sich die queere Jugendarbeit auf die spezifischen Bedarfe queerer Jugendlicher, die sich aus ihrer nichtheterosexuellen Orientierung bzw. nicht-cisgeschlechtlichen Zugehörigkeit ergeben. Queere Jugendgruppen und Jugendzentren stellen queer gelabelte Angebote im Sinne einer ‚Gegenöffentlichkeit‘ dar, die nicht auf heteronormativen Grundannahmen und Prinzipien basieren. Damit stellen sie Orte der Selbstverständlichkeit, Normalität und Entlastung dar. LSBT*Q-Jugendliche können dort Gemeinschaft mit jungen Menschen erleben, die ähnliche Erfahrungen der Überbetonung, des Ausschlusses oder der Unsichtbarmachung ihrer Lebensweise gemacht haben. Queere Jugendarbeit unterstützt aber auch die explizite Beschäftigung mit und den Austausch zu queeren Lebenswelten, Sexualität und Geschlecht. LSBT*Q- Jugendliche erleben dort queere Vorbilder, können sich in (ersten) queeren Beziehungen ausprobieren, erhalten Orientierung und Informationen rund um die Themen sexuelle Orientierung und geschlechtliche Zugehörigkeit. Schließlich kann queere Jugendarbeit junge Menschen im Sinne einer ‚Vorfeldstruktur‘ bei Bedarf an Beratungs- und therapeutische Angebote vermitteln. Oft bestehen Kontakte zu queer-freundlichen bzw. mit dem Themenfeld vertrauten Therapeut*innen, Mediziner*innen oder Ansprechpartner*innen in Behörden. Während sich Jugendzentren klassischerweise nicht als genuine Orte der Beratung verstehen, findet dort im alltäglichen Austausch mit den pädagogischen Fachkräften dennoch ‚nebenbei‘ Beratungsarbeit statt. Somit bestehen Berührungspunkte und Schnittstellen zwischen offenen Angeboten der Jugendarbeit und solchen mit einem dezidierten Beratungsauftrag. 380 uj 9 | 2022 Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? Um unserem Text einen roten Faden zu verleihen und seine Reichweite zu klären, sind bestimmte Festlegungen notwendig. Im Fokus stehen Angebote der offenen queeren Jugendarbeit, d. h. Jugendgruppen und Jugendzentren, die sich explizit an LSBT*Q-Jugendliche richten. 2 Jugendzentren oder Jugendgruppen, die sich als offen für alle jungen Menschen verstehen und sich damit, sei es explizit oder implizit, auch an queere Jugendliche wenden, sind nicht Bestandteil dieses Textes. 3 Es existieren nur wenige Arbeiten dazu, was eine explizit ‚queere‘ Jugendarbeit sein kann und will. Es besteht somit unseres Erachtens ein Bedarf, sich konzeptionell über die offene queere Jugendarbeit zu verständigen. Wir wollen mit unserem Text einen kleinen Beitrag zur Diskussion um ihr Selbstverständnis, Funktion, Möglichkeiten und Grenzen leisten. Mit unserer empirisch gestützten, konzeptionellen Verortung wollen wir die weitere Einbettung in die ‚Landschaft‘ der Jugendarbeit wie auch ihre weitere Reflexion und Praxisentwicklung anregen. 2. Was gibt es wo? Eine Standortbestimmung queerer Jugendarbeit Um aufzuzeigen, wie sich die Landschaft queerer Jugendarbeit aktuell darstellt, haben wir auf Basis einer umfangreichen Webrecherche alle ermittelbaren queeren Jugendzentren und Jugendgruppen zusammengestellt (Abb. 1; Stand Februar 2022). Unterschieden wurde dabei die Organisationsform der Angebote: Während Jugendzentren über eigene, geschützte Räume verfügen, (zumeist) pädagogisch ausgebildete Mitarbeiter*innen beschäftigen und zumindest jahresweise eine Finanzierung einwerben können, ist die Situation von Jugendgruppen häufig weniger stabil: Hier sind Jugendliche aktiv, die sich bzw. die Gruppe in ihrer Freizeit organisieren, über keine eigenen Räume verfügen, sondern öffentliche Räume nutzen und zumeist ohne (feste) Finanzierung auskommen. Die Struktur hängt somit von einzelnen Engagierten ab und ist dementsprechend instabil und ggf. kurzlebig. Die Karte zeigt die regional sehr unterschiedliche Situation queerer Jugendarbeit in Deutschland sehr deutlich. Insgesamt konnten 169 Jugendgruppen und 34 Jugendzentren identifiziert werden. Jugendzentren finden sich dabei vor allem in Städten, v. a. Großstädten bzw. Universitätsstädten (z. B. Berlin, Bielefeld, Dresden, Frankfurt, Hamburg, München). Abgesehen von Dresden und Berlin konzentrieren sie sich auf die westdeutschen Bundesländer. Jugendgruppen existieren sowohl in Städten als auch in ländlichen Regionen. Damit verteilen sich Jugendgruppen stärker über die Fläche, als es Jugendzentren tun, bleiben aber auf städtische Räume fokussiert. Eine besondere Situation zeigt sich für einige Großstädte, die über eine hohe Zahl an Jugendgruppen verfügen. Dies betrifft v. a. Berlin und München mit jeweils rund zehn queeren Jugendgruppen, wobei diese größtenteils in den jeweiligen Jugendzentren lokalisiert sind. Insgesamt zeigt sich ein Stadt-Land-Gefälle zugunsten urbaner Räume. In vielen ländlicheren Kreisen existiert kein Angebot queerer Jugendarbeit. Auch unterscheidet sich die Verteilung über die Bundesländer, wobei das Land Nordrhein-Westfalen eine Sonderstellung einnimmt. In diesem Bundesland existieren die meisten Angebote queerer Jugendarbeit (Jugendzentren und Jugendgruppen). Dies korrespondiert mit einer aktiven queeren Jugendpolitik, was etwa an einer sehr prominenten Verortung des Themas LSBT*Q im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) erkennbar ist. In etwas weniger deutlicher Weise gilt diese Beobachtung auch für die Länder Hessen und Niedersachsen. Bundesländer ohne eine solche politische Ausrichtung, in denen beispielsweise keine Aktionspläne oder Landesorganisationen bestehen, verfügen auch über weniger queere Jugendangebote. Besonders wenige Angebote finden sich in den nordöstlichen Bundesländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. 381 uj 9 | 2022 Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? Organisationsgrad und Trägerschaft der queeren Jugendzentren und Jugendgruppen gestalten sich heterogen. Während die Jugendgruppen teilweise selbstorganisiert, teilweise an verschiedene Trägerstrukturen (örtliche Jugendringe, Aids-Hilfen, lokale queere Trägervereine) angebunden sind, befinden sich die Jugendzentren überwiegend in Trägerschaft der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe, von Wohlfahrtsverbänden oder dezidiert queeren Organisationen. Hier haben der Lambda Bundesverband sowie die Lambda Landesverbände eine hervorgehobene Rolle. Abb. 1: Regionale Verteilung von queeren Jugendzentren und Jugendgruppen in Deutschland, eigene Recherche zum Stand Februar 2022 Daten: Philipp Stachowiak | Kartographie & Design: Jochen Wirsing | Kartengrundlage: © GeoBasis-DE/ BKG 2022 | Deutsches Jugendinstitut, 2022 Landkreis Landesgrenze Jugendzentrum Anzahl Jugendgruppen 10 8 6 4 2 0 50 100 150 km 382 uj 9 | 2022 Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? 3. Datengrundlage für die folgenden empirischen Analysen Die Grundlage der folgenden quantitativen Darstellungen bildet die Studie „Coming-out - und dann …? ! “, die zwischen 2013 und 2016 am Deutschen Jugendinstitut durchgeführt wurde. Sie ist die erste bundesweite Studie zu den Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen (gefördert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend). Themen, die aufgrund der Ergebnisse der vorangegangenen Pilotstudie im Fokus standen, waren Comingout-Prozesse sowie positive und negative Erfahrungen in den für junge Menschen bedeutsamen Lebensbereichen Familie, (Aus-)Bildungs- und Arbeitskontexte und Freundeskreis - jeweils unter der Perspektive sowohl der sexuellen Orientierung als auch der geschlechtlichen Zugehörigkeit. Aus der Online-Befragung gingen 5.037 auswertbare Fragebögen hervor. Die Teilnehmer*innen der Studie waren zwischen 14 und 27 Jahre alt, die Hälfte von ihnen lebte zum Befragungszeitpunkt in einer Großstadt. Knapp jede sechste befragte Person hatte eine eigene oder familiäre Migrationserfahrung und, obwohl es keine Voraussetzung zur Teilnahme war, hatten fast alle jungen Menschen bereits mit anderen über die eigene sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit gesprochen (95 %). Unter anderem mit Blick auf die genutzten Zugangswege (z. B. communitynahe Websites, die den Link gepostet hatten) kann davon ausgegangen werden, dass sich alle Jugendlichen bereits mit dem Thema LSBT*Q befasst hatten. Angebunden an queere Jugendangebote war jedoch nur ein Viertel der Teilnehmer*innen. Die Ergebnisse sind aufgrund der großen Anzahl der Teilnehmer*innen aussagekräftig bezüglich der Lebenssituationen von LSBT*Q-Jugendlichen in Deutschland, repräsentativ ist die Studie ausgehend von der Stichprobenzusammensetzung jedoch nicht (weiterführend siehe Krell/ Oldemeier 2017). 4 In 40 qualitativen Interviews berichteten junge Lesben, Schwule, bisexuelle, trans* und queere Jugendliche zudem von ihrem Aufwachsen und alltäglichen (Er-)Leben. Die Daten der Coming-out-Studie konnten 2019/ 2020 im Auftrag des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen einer Sekundäranalyse nochmals ausgewertet und um 15 qualitative Interviews ergänzt werden. Rekrutiert über queere Jugendangebote erweiterten diese den Analysefokus in Bezug auf Unterstützungsbedarfe von LSBT*Q-Jugendlichen im Umgang mit belastenden Erfahrungen (weiterführend siehe Krell/ Brodersen 2020). 4. Wen erreicht queere Jugendarbeit? LSBT*Q Jugendliche sind die Hauptzielgruppe der queeren Jugendarbeit - und nehmen diese Angebote entsprechend wahr. Gefragt nach der Bekanntheit unterschiedlicher Jugendangebote und Jugendhilfestrukturen gaben rund drei Viertel der befragten queeren Jugendlichen an, eine Jugendgruppe oder ein Jugendzentrum zu kennen, die bzw. das sich spezifisch an lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und queere Jugendliche richtet. In etwa gleichem Umfang sind LSBT*Q-spezifische Beratungsstellen sowie Jugendzentren, Jugendgruppen und Beratungsstellen ohne queeren Bezug bekannt (Abb. 2). Diese grundlegend weitreichende Bekanntheit entsprechender Angebotsstrukturen geht über das großstädtische Zentrum hinaus: Im ländlichen Raum und mit begrenzterem Bewegungsradius im jüngeren Alter kennen Jugendliche die Angebote queerer Jugendarbeit ebenfalls zu rund 60 %. Die großstädtisch organisierten Angebote strahlen in die Peripherie aus, indem sich LSBT*Q-Jugendliche - auch über ihr direktes Lebensumfeld hinaus - zu diesen informieren. Wissen zu queeren Gruppen-, Beratungs- und Freizeitangeboten zu generieren, stellt somit eine Eigenleistung der jungen Menschen dar. Sich diese Kenntnisse zu erarbeiten, ist sowohl Strategie als auch Ressource der Jugendlichen, um mit Herausforderungen des Aufwachsens in einer heteronormativen Welt umzugehen. Weniger relevant erscheinen diese Angebote 383 uj 9 | 2022 Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? dabei jungen bisexuellen Männern - anstelle von queeren Angeboten sind ihnen eher Jugendangebote ohne LSBT*Q-Bezug bekannt. Genutzt werden die Angebote der queeren Jugendarbeit von rund 25 % der Befragten (Abb. 3). Geben dabei 9 % der jungen Menschen an, das entsprechende Angebot früher genutzt zu haben, nahmen 16 % in den letzten zwölf Monaten an spezifisch queeren Jugendgruppen teil bzw. besuchten ein LSBT*Q-spezifisches Jugendzentrum. Entscheidend für die Nutzung ist grundsätzlich die Angebotsstruktur: Jugendliche, die im ländlichen Raum wohnen und jünger sind, nehmen zweieinhalb Mal seltener an diesen Angeboten teil, wie auch junge Menschen im Bundesland NRW mit einem (in Stadt und Land) deutlich dichteren Angebot als in anderen Bundesländern eineinhalb Mal häufiger eine queere Jugendgruppe bzw. Zentrum besuchen. 5 Die Zugänge zu queeren Angeboten erscheinen so gerade für Jugendliche im ländlichen Raum deutlich erschwert, wie auch der Befragte Ben festhält: „In meiner Stadt selbst gibt's sowas halt nicht, hätte halt immer ’ne Stunde fahren müssen. […] hab's dann letztendlich aber auch nie gemacht, weil's erstmal die Strecke wäre mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Und ich komm halt abends eigentlich recht schlecht wieder zurück, das ist halt ein Punkt.“ (Ben, 19 Jahre, schwul, cismännlich) Jugendgruppe / Jugendzentrum Bekanntheit von Jugend(hilfe-)angeboten Beratungsstelle 79 % 76 % 77 % 77 % 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % ohne LSBT*Q-Bezug mit LSBT*Q-Bezug Abb. 2: Bekanntheit von Jugend(hilfe-)angeboten Jugendgruppe / Jugendzentrum Nutzung von Jugend(hilfe-)angeboten Beratungsstelle 22 % 25 % 15 % 15 % 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % ohne LSBT*Q-Bezug mit LSBT*Q-Bezug Abb. 3: Nutzung von Jugend(hilfe-)angeboten 384 uj 9 | 2022 Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? Diese regionalen Unterschiede zeigen, dass - zum Stand der Erhebung 2014 - der Bedarf an queeren Jugendangeboten nicht gedeckt war. Der oben dargestellte Ausbau queerer Jugendangebote und deren Fortsetzung erscheint insbesondere auch angesichts der steigenden Zahl an Jugendlichen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, trans* und/ oder queer identifizieren (Ipsos 2021, 5ff ), weiterhin geboten. Insbesondere die Ausweitung in ländliche Regionen hinein und die Gewährleistung von Mobilität für junge queere Menschen ist eine Herausforderung für Angebotsstrukturen und Träger - auch in der Gegenwart besteht diese Aufgabe weiter, wie die dargestellte Recherche zeigt (Abb. 1). Weiter verteilen sich die Nutzenden anhand von zwei Merkmalen. Grundsätzlich nutzen Jugendliche jeden Alters die queere Jugendarbeit. Vor allem jüngere Jugendliche (im Alter von 14 bis 17) geben aber eher an, aus Mobilitätsgründen entsprechende Angebote nicht erreichen zu können (rund 51 %). Im jungen Erwachsenenalter (16 - 24 Jahre) zeigt sich ein Nutzungshoch - ältere Befragte (ab dem Alter von 20 Jahren) besuchen zunehmend auch öffentliche Angebote wie Partys oder den CSD und nehmen Beratungsangebote wahr. Auch differenziert sich die Angebotsnutzung entlang von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Zugehörigkeit. So nutzen junge Frauen diese Angebote häufiger als junge Männer sowie homosexuelle häufiger als bisexuelle Jugendliche. Analog zur oben genannten Bekanntheit nehmen bisexuelle junge Männer queere Jugendangebote am seltensten wahr. Insbesondere Jugendliche, deren sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit wir zur statistischen Auswertung in den Begriffen ‚orientiers*divers‘ und ‚gender*divers‘ zusammengefasst haben (u. a. pan*, aromantisch, genderqueer, nicht-binär), sowie trans*-Jugendliche nehmen an den Angeboten teil: 25 % bzw. 22 % der orientierungs*bzw. gender*diversen Jugendlichen, 20 % der trans*-Mädchen, 28 % der trans*-Jungen. Für sie bildet die queere Jugendarbeit häufig den ersten Raum, in dem sie sich nicht erklären müssen und als die Person, die sie sind, wahrgenommen und akzeptiert werden: „Also ich hab erst mal gedacht ,Ok, kommst de hin und guckst, ob auch andere da sind, die meinetwegen trans sind oder so‘. Allerdings bin ich dann hier reingekommen und hab halt dann gesagt, dass ich Luca genannt werde. Und dann war irgendwie für alle klar, dass es dann ,er‘ ist. Und ich musste das dann gar nicht dazusagen, weil ich das noch gar nicht so wusste, mehr oder weniger. Oder, noch gar nicht wusste, dass es quasi geht. Also, dass ich einfach sagen kann ,Jo, sprecht mich doch mal so an‘. Und, das war aber dann eigentlich durch den Zufall ziemlich gut, weil dann musste ich mich quasi nicht noch hier auch noch outen.“ (Luca, 16, heterosexuell, männlich mit trans*-Biografie) Damit erreichen die Angebote auch jene Jugendlichen, die am ehesten von Diskriminierung unter anderem im öffentlichem Raum, aber auch in der Familie, im Freundeskreis und in Schule, Ausbildung, Universität und Arbeit betroffen sind: Trans* und gender*diverse Jugendliche gaben zu 96 % an, eine solche Form der Diskriminierung erfahren zu haben (siehe dazu die weiterführenden Daten in Krell/ Oldemeier 2017). Gleichzeitig nehmen Jugendliche, die ein höheres Belastungsempfinden in einem ihrer Lebensbereiche angeben 6 , im selben Umfang an den Angeboten der queeren Jugendarbeit teil, wie junge Menschen ohne oder mit geringerem Belastungsempfinden. 7 Der queeren Jugendarbeit scheinen damit keine strukturellen Hürden inhärent, die vor allem ohnehin schon belastete Jugendliche von einer Teilnahme abhalten. Gleichzeitig sind auch queere Jugendangebote durch Barrieren geprägt, sodass junge Menschen, obwohl sie den Wunsch dazu hätten, diese aus persönlichen Gründen nicht nutzen können: 385 uj 9 | 2022 Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? „Ich bin da nicht gerade die beste Person drin, weil wenn die da - sag ich mal - auch schon so länger sind, die kennen sich untereinander schon und dann kommt halt wer Neues. Und ich, ich kann nicht auf Leute zugehen. Und dann krieg ich auch halt schnell, so dieses, ,Ich kann’s nicht‘.“ (Dylan, 23, heterosexuell, männlich mit trans*-Biografie) Dass LSBT*Q-Jugendliche sich oftmals mit ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Zugehörigkeit allein wähnen (Krell/ Oldemeier 2017) und in einem erhöhten Maße sozialen Ängsten ausgesetzt sind (Roberts et al. 2011), stellt eine Barriere im Zugang zu queeren Jugendangeboten dar. 8 5. Was erreicht queere Jugendarbeit? Die Teilnahme an Angeboten queerer Jugendarbeit ist für viele LSBT*Q-Jugendliche subjektiv bedeutsam. Sie verbinden damit Selbstverständlichkeit, Anerkennung und Unterstützung ihrer Person: „Das ist meine zweite Familie. Das bedeutet mir alles. Also ich hab meinen engsten Freundeskreis hier getroffen […], man ist halt füreinander da und man versteht sich halt und wir ticken halt auch irgendwie alle gleich. Also hier der enge Kreis und ja, man hat halt irgendwie ähnliche Erfahrungen gemacht mit Problemen und schwierigen Lebenssituationen und kann sich dann auf ’ne ganz andere Art und Weise irgendwie nachvollziehen, find ich. Und das ist halt super schön, also so meine ganze Energie kommt eigentlich von hier so ungefähr.“ (Maxi, 21, demisexuell/ gray aromantisch, questioning) Bei der Nutzung von queeren Jugendzentren und Jugendgruppen ist es den Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor allem wichtig, Freund*innen zu treffen. Sie wollen außerdem neue Menschen kennenlernen und suchen Informationen zu Geschlecht und Sexualität. Gegenüber nicht spezifisch queeren Jugendzentren/ -gruppen stehen zudem die Möglichkeiten, von zu Hause weg zu sein und selbst etwas organisieren zu können, im Vordergrund. Die Nutzung queerer Jugendarbeit zeitigt weiter auch strukturelle Effekte auf die Lebensführung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die wir in einer Regressionsanalyse entlang der folgenden Hypothesen ermittelt haben. Über die explizite und implizite Weitergabe von Strategien, Vorbildern und Wissen erscheint es möglich, dass Teilnehmende ihre Lebensführung insgesamt passend erleben und mit dieser zufrieden sind (Modell A). Weiter setzen sich queere Jugendliche in diesem Rahmen mit ihrer sexuellen Orientierung und ihrer geschlechtlichen Zugehörigkeit auseinander. Es ist möglich, dass sie durch die Angebote queerer Jugendarbeit mit diesen Dimensionen ihres Lebens einen besseren Umgang mit ihrem Umfeld und in ihrem Alltag haben (Modell B), sie sich also Fähigkeiten zum Umgang mit externen Belastungen erarbeiten, oder mit internem Stress und Herausforderungen besser umgehen können und sich mit ihrer sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Zugehörigkeit selbst wohler fühlen (Modell C). Die Abbildung 4 zeigt für diese drei Hypothesen je ein lineares Regressionsmodell, das die statistischen Effekte der Nutzung von queeren Jugendgruppen und -zentren darstellt. Jeweils wurden die entsprechenden Regressionen kontrolliert a) durch das Item subjektiver Belastungen: Der statistische Zusammenhang der Nutzung queerer Jugendarbeit mit den abhängigen Variablen der Lebensbewältigung und -zufriedenheit ist so nicht auf Selektionseffekte zurückzuführen, insofern innerhalb der Jugendangebote subjektive Belastungen überhaupt 386 uj 9 | 2022 Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? erst identifiziert und artikuliert werden können. Weiter erfolgte eine Kontrolle b) entlang des Alters und c) der Zeit seit dem ersten Comingout. Damit wird ausgeschlossen, dass ältere Jugendliche oder Jugendliche mit einer längeren Auseinandersetzung mit ihrer sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Zugehörigkeit entsprechende Angebote weniger nutzen. Die statistischen Effekte interpretieren wir nach dieser Kontrolle als Zusammenhänge zwischen der Jugendarbeit und der Lebensführung und -bewältigung der befragten Jugendlichen. Die Regressionsmodelle zeigen jeweils einen signifikanten und deutlichen Zusammenhang zwischen der empfundenen Belastung und den abhängigen Variablen zur Lebensführung queerer Jugendlicher. Eine Belastung zeigt sich sowohl in einer geringeren Zufriedenheit mit unterschiedlichen Lebensbereichen als auch mit der eigenen sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Zugehörigkeit. Im Besonderen gilt dieser Zusammenhang auch für den alltäglichen Umgang mit Sexualität und Geschlecht. Der Besuch eines queeren Jugendangebots kann diesen Belastungen entgegenwirken. So bezeichnen viele LSBT*Q-Jugendliche diese Räume als „safe(r) space“, in dem sie sich aufgehoben und beschützt fühlen bzw. sich mit Belastungen (konstruktiver) auseinandersetzen können: „Mir hilft das auch mega in Gesellschaft zu sein - von meinen besten Freundinnen und allgemein auch von Leuten, denen es ähnlich geht. Deswegen ich bin ja immer…find ich es so ein tolles Angebot. Ich bin total begeistert davon und wir haben Mädelstreffs […] und da geh’ ich immer total gern hin und da fühl ich mich pudelwohl. Also, das ist wie so’n safe space für mich so, wo ich weiß ,Boah hier kann mir nix passieren‘ und hier macht mich keiner irgendwie dumm an oder so, hier kommt keiner mit irgend’nem blöden, verletzenden Spruch.“ (Romy, 27, bisexuell, weiblich mit trans*-Biografie) abhängige Variable Kumulierter Index: Zufriedenheit in Lebensbereichen Wie geht es dir im Moment im Alltag mit deiner sex. Orientierung/ geschl. Zugehörigkeit? Wie wohl fühlst du dich mit deiner sex. Orientierung/ geschl. Zugehörigkeit? 1 (niedrig) - 6 (hoch) 1 (schlecht) - 10 (gut) 1 (sehr unwohl) - 6 (sehr wohl) unabhängige Variablen Modell A Modell B Modell C Nutzung Jugendgruppe/ Jugendzentrum 0 (nein)/ 1 (ja) 0,016 0,211** 0,063* Index: Empfinden von Belastung 1 (keine) - 10 (hohe) -0,160*** -0,342*** -0,080*** Alter (klassiert) 1 (14 - 17 Jahre) - 4 (24 - 27 Jahre) 0,070*** 0,089* 0,011 Zeit seit erstem Coming-out (klassiert) 1 (0 -2 Jahre) - 4 (9 - 23 Jahre) 0,031 0,211*** 0,067*** Abb. 4: Lineare Regressionsmodelle zur Nutzung queerer Jugendarbeit; Angaben: Regressionskoeffizient B; Signifikanzniveau: * < 0,05; ** < 0,01; *** < 0,001. 387 uj 9 | 2022 Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? Einen solchen Zusammenhang zeigen auch die statistischen Daten: Sie weisen einen signifikanten Zusammenhang der Nutzung von Jugendangeboten mit den beiden Aspekten der Lebensführung auf, die sich spezifisch auf Sexualität und Geschlecht beziehen (Modell B und C). Queere Jugendarbeit adressiert somit weniger die allgemeine Lebenszufriedenheit und den allgemeinen Alltag queerer Jugendlicher (Modell A), sondern hat mit Austausch und Bearbeitung von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Zugehörigkeit einen spezifischen Effekt auf diese Dimensionen der Lebensführung. Dabei unterstützen queere Jugendangebote weniger stark die interne Bearbeitung und mehr den Umgang mit Sexualität und Geschlecht in der Umwelt: Sie stellen Ansatzpunkte für die alltägliche Bewältigung von etwa Diskriminierung, aufdringlichen Blicken, unangenehmen Fragen oder physischer Gewalt bereit. In diesem Sinne vermerken 43 % der Befragten, die jemals eine queere Jugendgruppe/ ein queeres Jugendzentrum besucht haben, dass dieses Angebot sie beim Coming-out unterstützt hat. Gerade in dieser unsicheren und vulnerablen Situation hilft queere Jugendarbeit jungen Menschen. Insbesondere Jugendliche mit hohen Belastungserfahrungen profitieren von den entlastenden Effekten der Jugendarbeit - vor allem sie können sich in entsprechenden Angeboten austauschen und andere Strategien des Umgangs mit alltäglichen Herausforderungen und/ oder deren Verarbeitung aneignen: „Also, ganz platt ausgedrückt: Wenn ich die queere Jugendgruppe nicht gehabt hätte, hätte ich ja quasi nie mein Coming-out gehabt. Bah, jetzt werde ich dramatisch. Also, jetzt, so das erste, was ich echt dachte, mein erster Gedanke war, wenn ich dieses, wenn ich keine Anlaufstellen gehabt hätte, wüsste ich nicht, ob ich heute am Leben wär’.“ (Kristoff, 25 Jahre, keine Definition der sexuellen Orientierung, männlich mit trans*-Biografie) Die Nutzung queerer Jugendangebote hebt die negativen Belastungen durch Diskriminierungserfahrungen nicht vollständig auf, trägt aber wie bspw. ein zunehmendes Alter positiv zur Unterstützung belasteter queerer Jugendlicher bei und begleitet sie bei dem Prozess der Auseinandersetzung zu Geschlecht und Sexualität mit sich selbst und ihrer Umwelt. Die Effekte sind spezifisch für queere Jugendangebote: In Bezug auf Jugendgruppen und -zentren, die sich nicht explizit an LSBT*Q-Jugendliche richten, lassen sich keine derartigen Zusammenhänge feststellen - weder auf die Lebensführung und -bewältigung noch auf die Lebenszufriedenheit an sich. Für LSBT*Q-Jugendliche stellt die queere Jugendarbeit somit einen zugänglichen, subjektiv relevanten und strukturell bedeutsamen Ort dar, an dem ein Umgang mit sexueller Orientierung und geschlechtlicher Zugehörigkeit ausgehandelt und erworben werden kann. Queere Jugendarbeit wirkt damit über sich selbst hinaus: LSBT*Q Jugendliche erwerben in queeren Jugendgruppen und Jugendzentren Strategien, Haltungen und Selbstverhältnisse, die ihnen eine Gestaltung ihres Alltags und die Bewältigung von Belastungen hinsichtlich sexueller Orientierung und geschlechtlicher Zugehörigkeit erlauben: „Vorher war das queere Jugendzentrum halt immer so mein - ich würd mal sagen - safe space, wo ich immer einmal die Woche hingehen konnte, und dann so erleichtert war, dass ich hier war, weil hier war alles normal. Und draußen war’s halt immer schwierig. Aber mittlerweile ist es so, ich komme gerne hierher. Aber ich hab nicht mehr diesen Drang, der mich hier hinzieht […], weil ich jetzt einfach draußen auch geoutet bin. Und deshalb draußen auch richtig angesprochen werde und deshalb, mich einfach auch an anderen Stellen wohl fühle. Und nicht nur hier, weil hier das halt alles richtig läuft.“ (Luca, 16, heterosexuell, männlich mit trans*-Biografie) 388 uj 9 | 2022 Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? 6. Fazit Angebote der queeren Jugendarbeit erreichen unter den gegebenen Bedingungen eines urbanen Fokus weitreichende Teile und insbesondere auch belastete queere Jugendliche (z. B. Jugendliche in belasteten Lebenssituationen oder in der Zeit des Coming-outs) und unterstützen sie auf subjektiv wie strukturell bedeutsame Weise. Insbesondere Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen, die oft durch den gesellschaftlichen Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt bedingt sind, erfahren Entlastung von einem Alltag, in dem ihre sexuelle Orientierung und/ oder geschlechtliche Zugehörigkeit infrage gestellt, überbetont oder Ausgangspunkt von Abwertungen und Bedrohungen ist. Queere Jugendarbeit stellt dahingehend Ressourcen bereit, auf welche junge Menschen zugreifen und die sie in ihrer Lebensführung bestärken. Sie stellt damit eine zielgruppenorientierte und inhaltlich spezialisierte Form der offenen Jugendarbeit dar. Die Angebote queerer Jugendarbeit sind vor allem dezentral organisiert. Sie bleiben auf lokale Träger und zahlreiche ehrenamtliche Jugendgruppenleitungen angewiesen, welche die Angebote ins Leben rufen und aufrechterhalten. Vernetzungsstrukturen auf Landes- und Bundesebene reagieren derzeit auf diese Situation und arbeiten an Austausch und Professionalisierung, Aus- und Fortbildung von Leitungskräften wie Mitarbeiter*innen und an der Identifikation und Realisierung von Qualitätsmerkmalen. Queere Jugendarbeit ist dafür weiter auf Unterstützung angewiesen: Insbesondere kommunale Einrichtungen etwa von Mädchen- und Jungenarbeitskreisen sowie Angebote der sexuellen Gesundheit suchen bereits einen Austausch, verdeutlichen Überschneidungen der Arbeitsbereiche und streben Kooperationen an. Für die weitere Konsolidierung und Professionalisierung ist die queere Jugendarbeit nicht zuletzt auf die Einbindung in kommunale Förderstrukturen angewiesen. Die gemeinsamen Anstrengungen um die weitere konzeptionelle wie strukturelle Ausgestaltung einer queeren Jugendarbeit machen es möglich, dass sie auch in Zukunft queere Jugendliche in ihrem Alltag und ihren Bewältigungsstrategien begleitet und unterstützt. Anmerkungen 1 Queere Jugendarbeit richtet sich auch an intergeschlechtliche beziehungsweise inter*-Jugendliche. Gleichzeitig erreicht sie diese nur selten. Auch unsere Forschungsdaten umfassen - trotz unterschiedlicher Bemühungen und eines großen Datenkorpus - keine inter*-Jugendlichen. Entsprechend verwenden wir an dieser Stelle die Abkürzung LSBT*Q, in der inter*-Jugendliche zunächst nicht enthalten sind, auch wenn sich zahlreiche Strukturen der queeren Jugendarbeit derzeit intensiv mit den Möglichkeiten, Bedingungen und Schwierigkeiten der Adressierung und Einbindung von inter*-Jugendlichen auseinandersetzen. Weiterführend zur besonderen Lebenssituation von inter*-Jugendlichen siehe die Beiträge in Groß und Niedenthal (2021). 2 Freizeitaktivitäten ohne Bezug zur Jugendhilfe wie die Christopher-Street-Days oder queere Bars und Festivals werden von uns in diesem Text nicht unter dem Label Jugendarbeit gefasst. 3 Die Diskussion des Verhältnisses von explizit queerer, allgemeiner und queer-sensibler Jugendarbeit würde die Kapazität dieses Textes überschreiten. 4 Die Teilnehmenden der quantitativen Onlinebefragung wurden über verschiedene Zugänge rekrutiert: Besonders zentral waren dabei Online-Magazine und Facebook (mit je etwa 25 % der Zugänge) - bei der Erhebung im Jahr 2014 waren dies die populären Onlinemedien. In der Rekrutierung weniger zentral waren Jugendgruppen (11 %) und von diesen verfasste Newsletter (4 %). Eine systematische Verzerrung der Nutzungsangaben von Jugendangeboten durch diese Erhebungsangebote liegt nicht vor: Schließt man alle Jugendlichen, die über Jugendangebote rekrutiert wurden, von der Auswertung aus, verändert sich die Angabe zur Bekanntheit und Nutzung entsprechender Angebote in der Größenordnung von wenigen Prozentpunkten. Dass der größte Teil der Nutzer*innen dieser Angebote über andere Zugangswege adressiert werden konnte, zeigt neben der strukturellen Offenheit und begrenzten Verbindlichkeit der Angebote auch ihre flächendeckende Strahlkraft und Relevanz. 389 uj 9 | 2022 Wen und was erreicht queere Jugendarbeit? 5 Jugendliche und junge Erwachsene, welche die Angebote nicht nutzen, wurden in einem Mehrfachantwortenset nach den Gründen gefragt. In Bezug auf LSBT*Q-Jugendzentren und -gruppen gaben sie weiter an, dass solch ein Angebot nicht ihren Interessen entspricht (66 %). Ein großer Teil der Befragten vermerkt darüber hinaus, dass sie Angst haben, gesehen zu werden (15 %) oder ihnen das Angebot zu eng mit der queeren Szene verbunden ist (23 %). Rund ein Fünftel der Befragten kann nicht genau angeben, warum sie ein entsprechendes Angebot nicht wahrnehmen. 6 Gefragt wurden die Jugendlichen nach ihrem Belastungsempfinden in den Lebensbereichen ‚Familie‘, ‚Schule/ Ausbildung/ Universität/ Arbeit‘ und ‚Freundeskreis‘. Bei einer Belastung von mindestens 8 auf einer Skala von 1 (keine Belastung) bis 10 (starke Belastung) in mindestens einem Lebensbereich wurden die Jugendlichen der Gruppe mit hohem subjektivem Belastungsempfinden zugeordnet. Dies betrifft rund ein Drittel der Befragten. 7 Im Unterschied zu Jugendgruppen und -zentren werden spezifisch queere Beratungsangebote eher von Jugendlichen mit hohem subjektivem Belastungsempfinden besucht - für nicht LSBT*Q-spezifische Beratungsangebote gilt dies nicht. Im Besonderen diese, oftmals an queere (Jugend-)Angebote angebundenen Beratungsstrukturen erreichen somit zielgruppengenau Jugendliche, die sowohl objektiv als auch subjektiv Belastungen erleben. Sie stellen eine (semi-)professionelle Vorfeld- und Übergangsstruktur (oftmals der Selbsthilfe) dar, die sowohl an sich entlastend wirkt als auch Sicherheit und Orientierung für Jugendliche schafft und ggf. an weiterführende therapeutische und medizinische Institutionen vermittelt. 8 Um jungen Menschen eine Teilnahme zu ermöglichen, bieten verschiedene Einrichtungen etwa einen ‚Coming-in‘-Service an, bei dem die jungen Menschen beim ersten Besuch der Einrichtung von Mentor*innen begleitet werden. Folke Brodersen E-Mail: brodersen@gender.uni-kiel.de Literatur Busche, M. (2021): Next Stop: Postheteronormativität. Sozial Extra 2, 85 - 89 Groß, M., Niedenthal, K. (2021): Geschlecht: divers: Die „Dritte Option“ im Personenstandsgesetz - Perspektiven für die Soziale Arbeit. transcript Verlag, Bielefeld Ipsos (2021): LGBT+ Pride 2021 Global Survey. In: https: / / www.ipsos.com/ en/ lgbt-pride-2021-globalsurvey-points-generation-gap-around-gender-iden tity-and-sexual-attraction, 19. 2. 2022 Krell, C., Brodersen, F. (2020): Coming-out in NRW. Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Deutsches Jugendinstitut, München. In: https: / / www. dji.de/ fileadmin/ user_upload/ bibs2020/ DJI_30170_ Coming-out_in_NRW_2020.pdf, 19. 2. 2022 Krell, C., Oldemeier, K. (2017): ‚Coming-out - und dann …? ! ‘ Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Budrich, Opladen Pluto, L. (2022): Strukturen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe mit besonderem Blick auf die Jugendarbeit. In: Berngruber, A., Gaupp, N. (Hrsg.): Erwachsenwerden heute. Lebenslagen und Lebensführung junger Menschen. W. Kohlhammer, Stuttgart, 46 - 55 Roberts, K., Schwartz, D., Hart, T. (2011): Social anxiety among lesbian, gay, bisexual, and transgender adolescents and young adults. In: Alfano, C., Beidel, D. (Hrsg.): Social anxiety in adolescents and young adults: Translating developmental science into practice. American Psychological Association, Washington, 161 - 181
