eJournals unsere jugend 74/10

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2022.art59d
101
2022
7410

Supervision und Wachstum

101
2022
Michaele Buscher
 Valler-Lichtenberg Anne
Für die Einladung, zum Thema „Supervision und Jugendhilfe“ zu schreiben, bedanke ich mich bei Professor Herbert Winkens und nehme sie als Chance zur Reflexion einer fortwährenden und spannenden Auseinandersetzung mit meiner eigenen Berufsbiografie als Therapeutin und Supervisorin. Die Hauptquelle und Mittelpunkt meines Artikels sind Auszüge aus einem im Oktober 2021 durch die Supervisorin Anne Valler-Lichtenberg geführten Interview zum Thema „Die weibliche Seite der Systemik“.
4_074_2022_10_0003
407 unsere jugend, 74. Jg., S. 407 - 414 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art59d © Ernst Reinhardt Verlag von Michaele Buscher Dipl. Soz.-Päd., ist systemische Therapeutin mit 45-jähriger Erfahrung und Leitungsfunktion in der ambulanten und stationären Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie. Schwerpunkte u. a. in Traumatherapie und frauenspezifischer Beratung. Aktuell Supervision, Coaching, Begleitung in Übergängen. Supervision und Wachstum Eine weibliche berufsbiografische Betrachtung Für die Einladung, zum Thema „Supervision und Jugendhilfe“ zu schreiben, bedanke ich mich bei Professor Herbert Winkens und nehme sie als Chance zur Reflexion einer fortwährenden und spannenden Auseinandersetzung mit meiner eigenen Berufsbiografie als Therapeutin und Supervisorin. Die Hauptquelle und Mittelpunkt meines Artikels sind Auszüge aus einem im Oktober 2021 durch die Supervisorin Anne Valler-Lichtenberg geführten Interview zum Thema „Die weibliche Seite der Systemik“. Anne Valler-Lichtenberg habe ich 1992 beim ersten Frauennetzwerk IDA in Heidelberg kennengelernt, zu dem Andrea Ebbecke-Nohlen und ihre Kolleginnen einluden. Nach diesem Arbeitstreffen bildeten sich diverse Netzwerke und Intervisionsgruppen, u. a. auch im Rheinland, an denen wir viele Jahre gemeinsam teilgenommen haben. Anne Valler-Lichtenberg, die ich seit dieser Zeit in unterschiedlichen Kontexten als bedeutende Fachfrau kennengelernt habe, ist besonders zu danken für die Vorbereitung und Umsetzung des Interviews. Ihre vielfältigen, immer öffnenden Fragen waren zusammen mit der Freude am Dialog für mich ein Geschenk, meine bisherige Berufsbiografie fokussiert aus weiblicher Sicht zu reflektieren. In dem Interview zu meiner Berufsbiografie thematisiere ich Aspekte einer weiblichen systemischen Sicht mit Fragen wie: ➤ Was hat mich angetrieben? ➤ Wer hat mich gestärkt? ➤ Was und wer war hilfreich? Anschließend ergänze ich meine Ausführungen um meine persönliche berufliche Haltung mit der Frage: Inwieweit haben die erlebten Super- Anne Valler-Lichtenberg Dipl. Supervisorin und Coach (DGSv, DGSF), führt seit 1992 eine selbstständige Beratungspraxis für Coaching, Supervision und systemische Beratung; Lehrende für systemische Beratung, Therapie und Supervision (DGSF); Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e.V. (DGSF) 408 uj 10 | 2022 Eine weibliche berufsbiografische Betrachtung visionsprozesse mit sehr unterschiedlichen Settings und Fragestellungen auf meine berufliche Persönlichkeitsentwicklung Einfluss genommen? Dabei ist mir selbstverständlich wichtig, bei allen Überschneidungen berufs- und organisationsbezogene systemische Supervision nicht mit Fremd- und Selbsttherapie zu vermischen. Spezifität und Individualität von Positionen setzen eben immer auch klare Grenzen voraus. Interview 1 Was ist für dich das ,Herzstück‘ des systemischen Denkens und Handelns? Wenn ich hier von „meinem Herzstück systemischen Denkens und Handelns“ spreche, möchte ich weniger eine Aussage darüber machen, was systemisch ist. Die Diskussion darüber gibt es berechtigterweise an zahlreichen Stellen. Wir alle kennen die kluge Frage: „Arbeiten Sie auch systemisch? “ Ich habe in meinen Workshops zur systemischen Arbeitsweise gerne vertreten, dass das Erlernen ,systemischer Methoden und Techniken‘ nicht automatisch bewirkt, dass wir in der Praxis auch gut systemisch arbeiten können. Zum vielleicht besseren Verständnis möchte ich meinen Ausbilder der strukturellen Familientherapie, Jos van Dyck, erwähnen. Dem Bemühen, möglichst perfekt die therapeutischen Schritte von Salvador Minuchin zu erlernen, entgegnete er: „Ihr werdet nie wie Salvador Minuchin sein. Die Kunst liegt darin, eine eigene therapeutische Haltung zu entwickeln.“ Verrückterweise fand ich diese Äußerung eher hilfreich. Ich dachte, ich muss nicht so gut werden wie Salvador und kann Eigenes entwickeln. Damals wusste ich noch nicht, wie sehr mich diese Aussage nicht nur in meiner therapeutischen Haltung begleiten wird, sondern auch in der Arbeit in und mit Teams insbesondere in meiner Leitungsposition. Mit dem Erlernen und Auseinandersetzen der systemischen Sichtweise habe ich schon früh bemerkt, das ist meins. An dieser Stelle seien u. a. der lösungsorientierte Ansatz, der Blick auf Resilienzen und Ressourcen genannt. Mit der Idee, dass jedes Verhalten Sinn macht und auch als Lösung in der jeweiligen Situation gesehen werden kann, habe ich mich in der Weiterentwicklung wohl auch für passende Weiterbildungsangebote entschieden. Im Rückblick fällt mir auf, dass ich vorwiegend solche Angebote von Frauen genutzt habe. 2 Ein Blick in die ,Systemische Geschichte‘. Was waren für dich bedeutende Ereignisse, Erkenntnisse, Erfahrungen? Meine systemische Geschichte beginnt in meiner Herkunftsfamilie: Aufgewachsen in einem bäuerlichen Kontext war ich eines von vielen Kindern. Die Erbfolge war, ohne dass jemals darüber gesprochen wurde, klar geregelt, denn es gab nur einen Sohn! Wir Mädchen hatten die Möglichkeit, eine weiterführende Schulausbildung zu absolvieren, während mein Bruder auf die Übernahme des Gestüts vorbereitet wurde. In meinen Erinnerungen hatten alle Familienmitglieder eine Aufgabe umzusetzen, und es gab Vertrauen und die Möglichkeit, Eigenes zu entwickeln. Es gab immer wieder eine Haltung von Zuversicht und Hoffnung. Belastende Faktoren, die es durchaus im Familienprozess gab, wurden weniger fokussiert. In einer kritischen Phase der Auseinandersetzung mit meiner Herkunftsfamilie war mir diese positive Haltung zu viel und ich grenzte mich deutlich ab. Diese Abgrenzung war für meine Weiterentwicklung erforderlich und hilft mir bis heute in turbulenten Zeiten. In der Distanz und Abgrenzung gelingt es mir besser, eine für mich passende Entscheidung zu finden, bei mir zu sein und auf meine Ressourcen zurückzugreifen. Eine wesentliche Erkenntnis aus dieser Zeit ist mir insofern erst spät gekommen, als dass ich denke, dass ich früh die Möglichkeit hatte, eigene Räume für mich zu gestalten, und viel Vertrauen in eigenes Tun entwickeln konnte. Dabei sind die Frauenrollen, besetzt durch Mutter, Großmutter und Großtante, für mich sehr krea- 409 uj 10 | 2022 Eine weibliche berufsbiografische Betrachtung tiv und mit einem gewissen Stolz in Erinnerung. Für die damalige Zeit war es z. B. für eine Bäuerin außergewöhnlich, eine Dalmatiner-Zucht aufzuziehen, was meine Mutter auf den Weg brachte. Die oben beschriebene Distanzierung im Herkunftssystem konnte ich u. a. in meiner Leitungsposition oft nutzen. Mir wurde bewusst, dass gerade Leitung für mich viel mit Selbstregulation zu tun hat. Erst in der Leitungsrolle wurde mir klar, dass Leitung auch einsam machen kann bzw. diese Haltung für mich hilfreich war. In meiner beruflichen Orientierung und Ausbildung war sicherlich von Bedeutung, dass ich früh in einem kinder- und jugendpsychiatrischen Kontext arbeitete, der den systemischen Ansatz verfolgte. Im Studium hat mich die Idee, mit der ganzen Familie arbeiten zu können, fasziniert. Die Möglichkeit, verschiedene Meinungen, Positionen und Ideen zu hören, fand ich hervorragend, ebenso die Idee, dass die einzelnen Familienmitglieder und deren Positionen nicht isoliert, sondern eher in der Dynamik miteinander zu verstehen sind. Damals sah ich, ehrlich gesagt, noch nicht die besondere Bedeutung der Frauenrollen im Familienprozess oder die von Genderfragen bei KlientInnen und TherapeutInnen im therapeutischen Prozess. Meine Ausbildung in struktureller Familientherapie hat mir ein verändertes Verständnis und neue Erklärungsmuster von sogenanntem „Problemverhalten“ gezeigt. Der damit verbundene Ansatz, auf die Ressourcen der einzelnen Familienmitglieder zu schauen und mit einer Haltung von Zuversicht davon auszugehen, dass Familien in der Lage sind, mit Unterstützung eigene Lösungen zu finden, hat mich bis heute in verschiedenen Kontexten begleitet. Dabei lasse ich nicht außer Acht, dass Familien aus unterschiedlichen Gründen deutlich überlastet sein können oder/ und nicht immer Verantwortung für ihr Tun übernehmen müssen. Hilfreich war für mich der Ansatz, dass ihnen der Blick auf mögliche Lösungen und Ressourcen nur vorübergehend verstellt ist. Sehr bereichernd war für mich die Tätigkeit in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis, in der die ärztliche Therapeutin ein Angebot nicht nur für die Kinder, Jugendlichen und deren Familien machte, sondern auch allein für die Eltern, welches vorrangig von den Müttern wahrgenommen wurde. In dieser Arbeit habe ich erfahren, dass die Kinder sich deutlich entlastet fühlten, wenn die Mütter ein Angebot für sich nutzen konnten, und andererseits diese wiederum, wenn sie eigene Themen mit mir aufgreifen konnten. Zeitgleich schärfte sich mein Blick für spezielle Angebote für Frauen weiter. Regional entwickelten eine Kollegin und ich ein ambulantes Gruppenangebot für „Frauen mit Psychiatrieerfahrung“. Das Angebot war für Frauen gedacht, die parallel in stationärer Behandlung waren. Das Ergebnis hatte viele Facetten. Bereits der Titel „Frauen mit Psychiatrieerfahrung“ machte eine Wertschätzung aus. Die Frauen erlebten sich und wir die Frauen mit mehr Kompetenzen, als ,nur‘ Patientin einer Klinik zu sein. Der Aufbau von Netzwerken, auch nach dem Klinikaufenthalt, wurde von vielen Frauen genutzt. Meine Entscheidung, in einen Jugendhilfekontext zu wechseln, der ebenfalls systemisch orientiert war, ermöglichte mir neue Erfahrungen. Ein stationäres Konzept, dass die ganze Familie in die Hilfe einbezog, erschien mir zu Beginn schwierig umsetzbar. Ich konnte zunächst nur kritisch bemerken, dass viele Familien nicht bereit waren mitzuarbeiten, und war froh, in der ambulanten Praxis motiviertere KlientInnen zu erleben. Begeistern konnte ich mich, als ich Marie-Luise Conen kennenlernte, die in ihren Workshops immer wieder davon sprach, dass es auch wichtig sein kann, Hoffnung zu erfinden, wo zunächst keine ist. In ihrem Konzept der „Aufsuchenden Familientherapie“ beschreibt sie u. a. die Zurückhaltung und Ängste von Jugendhilfefamilien vor Veränderungen insbesondere nach bereits ,gescheiterten‘ Hilfen. „Die Zurückhaltung und Ablehnung dieser 410 uj 10 | 2022 Eine weibliche berufsbiografische Betrachtung Familien haben jedoch ihre Gründe. Menschen zeigen die Tendenz, sich vor Enttäuschungen zu schützen.“ Sie hebt hervor, dass „die Arbeit mit diesen Familien eine von Wohlwollen geprägte Haltung erfordert“ (Conen 2002, 43ff ). Methodisch war für mich faszinierend zu erlernen, wie empathisch und gut ich auch im Zwangskontext arbeiten kann, wenn ich dem von ihr und Gianfranco Cecchin postulierten Arbeitsansatz zur Arbeit mit unmotivierten KlientInnen mit der Fragestellung folgte: „Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden? “ (Cecchin 1993) 3 Wie hast du die Kooperation zwischen Frauen und Männern in systemischen Kontexten erlebt und was war für dich hilfreich? Meine ersten Berufserfahrungen im klinischen Kontext waren dadurch geprägt, dass die Vernetzung mit anderen Berufsgruppen für die Entwicklung von gemeinsamen Vorstellungen in einem multiprofessionellen Team sehr inspirierend und kreativ war. Nachdem das bereits erwähnte Frauennetzwerk IDA am Heidelberger Institut ins Leben gerufen wurde, war es für mich sehr bereichernd, eine regionale Gruppe mit Fachfrauen aufzubauen. Im Vergleich zu anderen Kontexten habe ich hier einen sehr kollegialen Austausch erlebt, der sich nicht nur auf fallbezogene Themen bezog, sondern auch unsere spezifische Rolle als TherapeutInnen in den Vordergrund rückte und entwickeln ließ. Anders als in den mir bekannten Arbeitskontexten mit Männern entwickelten sich hier schnell ein offener vertrauter Fachaustausch und unterstützende Netzwerke. Ein mehrtägiger Workshop, der von zwei erfahrenen FamilientherapeutInnen geleitet wurde, ist mir sehr angenehm in Erinnerung und machte für mich einen besonderen Unterschied in der Leitungsrolle durch Frauen deutlich. Der Workshop wurde deutlich durch die Fachfrauen geleitet. Ihre Präsenz erlebte ich dennoch eher als ,still‘. Kaum spürbar, lenkten sie die Gruppe entschieden in kurzen Absprachen kreativ und spontan, setzten theoretische Impulse. Ihre wertschätzende Art und Weise auch miteinander umzugehen, hatte sich auf die Gruppe übertragen. Mit ein wenig Skepsis trat ich meinen Arbeitsplatz im Jugendhilfebereich an. Enttäuschende Erfahrungen im Vorfeld erforderten für mich professionelle Beratungen auch im Hinblick auf Machtstrukturen durch männliche Vorgesetzte. Sensibilisiert durch diese Erfahrungen versuchte ich von Beginn an zu klären, wie Leitungs- und Verantwortungsebenen in dieser Einrichtung geklärt bzw. ob sie überhaupt geklärt sind. Ich war dankbar für eine klare Hierarchie und konnte die Übernahme von Verantwortung durch die mir vorgesetzten männlichen Kollegen konstruktiv nutzen. Auf der späteren gemeinsamen Leitungsebene, die mit den männlichen Kollegen und mir mit viel Respekt und Wertschätzung gestaltet wurde, fand eine für mich spannende Entwicklung statt. Die Tatsache, dass zwei Männer mir zunächst vorgesetzt waren und später mit mir die Leitungsebene in unterschiedlichen Positionen wahrnahmen, habe ich immer als sehr konstruktiv erlebt. Die Chance, meine Rolle regelmäßig in Supervisionsprozessen zu reflektieren, war hier immer wieder unterstützend. 4 Welche ,systemischen‘ Frauen waren und sind für dich ,Vorbilder‘? Und was genau macht sie dazu? Was haben sie - vielleicht - anders gemacht als ihre männlichen Kollegen? Eine besondere Erfahrung war für mich, Insoo Kim Berg in einem Workshop kennenzulernen, in dem sie das „Lösungsorientierte Modell“ vorstellte. „Lösungsorientierte TherapeutInnen gehen davon aus, dass es einfacher ist, an Lösungen zu arbeiten, statt Probleme zum Ver- 411 uj 10 | 2022 Eine weibliche berufsbiografische Betrachtung schwinden zu bringen“. (Berg 1998, 26). Ihre Idee, dass die Familien Experten für ihre eigenen Belange und Ziele sind, und die Einladung, mit Familien eher an Lösungen zu arbeiten und im therapeutischen Kontext diese Sichtweise in Sprache umzusetzen - erste kleine Lösungsschritte zu benennen -, bereicherte und entlastete mich in der Arbeit mit sogenannten „Multiproblemfamilien“. In einem Workshop von Marie-Luise Conen habe ich zum ersten Mal den Begriff der Resilienz gehört. Die Sichtweise, dass Familien die Fähigkeit besitzen können, aus ungünstigen Bedingungen und Widrigkeiten der eigenen Biografie zu lernen und durch belastende Lebensherausforderungen zu wachsen, d. h. dadurch neue Kraftquellen zu entdecken und zu nutzen, hat mich bereichert. Ihrer Position, dass die Herausforderung für die TherapeutInnen darin bestehe, die Lösungsideen und Ressourcen mit der Familie herauszuarbeiten und sie dabei zu unterstützen, stimme ich zu. Entlastend habe ich für mich ihren Ansatz „die Ratlosigkeit des Helfers - eine Ressource! “ erleben können. Gerade in Zeiten von bis heute zunehmenden Arbeitsbelastungen und dem Anspruch, allen Anforderungen gerecht zu werden und schnelle Lösungen zu finden, lädt eine systemische Sicht, dass es keine ,richtige‘ Lösung gibt, dazu ein, innezuhalten und die eigene Position zu überdenken. Gedanken wie der, dass die Interaktion der Familien und das vermeintliche Problemverhalten ein Lösungsversuch sein kann und weniger mit Widerstand der KlientInnen zu tun hat, ermöglichen aufseiten der BeraterInnen, Ratlosigkeit als eine Ressource zu verstehen und die eigene Rolle als BeraterInnen zu fokussieren. Conen spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit, dass BeraterInnen ihren ,Machbarkeitswahn‘ hinterfragen und lernen, eigene Grenzen zu akzeptieren. Aus ihrer Sicht gilt es, „eine Demut gegenüber den Entscheidungen und der Eigenverantwortung der Klienten für ihr Leben zu entwickeln“ (Conen 2006, 269). Conen hat mich immer wieder mit ihrem Engagement in der politischen Auseinandersetzung beeindruckt, auch wenn es mir manchmal zu viel schien. Im Resümee begeistert mich ihre Aufrechterhaltung von Hoffnung und Stärkung vulnerabler Jugendhilfesysteme. Sie hat sich schon früh mit Themen wie der Rolle von Sozialhilfeempfängerinnen und Heimmädchen beschäftigt. Hervorzuheben ist ihr Konzept der Aufsuchenden Familientherapie, insbesondere auch die Aussage, dass diese Hilfeform vorrangig „ärmeren“ Familien zugutekommen sollte - in Abgrenzung zu anderen Familien, die in der Lage sind, eine Beratungsstelle aufzusuchen (Conen 2002). Betty Carter brachte 1989 den Begriff der gendersensitivity anlässlich des Familientherapiekongresses des Weinheimer Institutes ein. 1991 fand dann beim Heidelberger Kongress mit dem Titel „Das Ende der großen Entwürfe und das Blühen systemischer Praxis“ eine erste Podiumsdiskussion zum Thema: „Macht der kleine Unterschied einen Unterschied? “ statt. Der Einfluss der Geschlechtszugehörigkeit wurde diskutiert. Erstaunlich war, wie wenig Raum bis dahin die systemische Therapie den unterschiedlichen Sozialisationsprozessen von Männern und Frauen gegeben hatte. Eine von Carters Forderungen lautete damals: Anerkennung des Grundprinzips, dass keine Intervention geschlechtsneutral ist und dass jede Intervention von den Angehörigen der beiden Geschlechter in spezifisch unterschiedlicher Weise aufgefasst wird (Carter et al. 1991). Bedeutend war für mich, natürlich, Andrea Ebbecke-Nohlen beim ersten Frauennetzwerk IDA in Heidelberg zu erleben. Gemeinsam mit anderen Frauen war der Grundstock für einen Fachaustausch von Frauen gelegt, den ich als sehr wertschätzend und konstruktiv empfunden habe. Während meine bisherige familientherapeutische Ausbildung und Sichtweise sich kaum mit dem Thema Geschlechtszugehörigkeit beschäftigten, fand die Diskussion um Unterschiede in der Frauen- und Männerperspektive einen besonderen Stellenwert. Wie oben 412 uj 10 | 2022 Eine weibliche berufsbiografische Betrachtung beschrieben, kam für die Arbeit in Familien die Frage einer kaum möglichen ,Neutralität‘ auf, wenn wir davon ausgehen, dass es einen Unterschied macht, ob eine Therapeutin oder ein Therapeut die gleiche Frage stellt. Damit verbunden ist sicherlich auch die Frage, welche Themen in einer Beratung aufgegriffen werden. Ebbecke-Nohlen und ihren Kolleginnen ist es in meiner Erinnerung hervorragend gelungen, diese Fragen in einem damals noch sehr männlich dominierten Ausbildungsinstitut auf den Weg zu bringen. Von außen betrachtet, ist mir nicht bekannt, ob es Widerstände von Männern dazu gab. Jedenfalls bin ich ihr sehr dankbar. Ich habe Ebbecke-Nohlen noch zuletzt in einem mehrtägigen Workshop zum Thema: „Wanderungen mit mir selbst und anderen“ erlebt. Ihr positiver, aber auch realistischer Blick auf Lösungen und Stärken hat mich erneut im Hinblick auf die Bedeutung der eigenen Intuition und Haltung bereichert. Eine ihrer spannenden Fragestellungen lautete: „Welche bewährten Strategien hindern Sie bei der Umsetzung eigener Ressourcen, Ideen und Wünsche? “ Last but not least, möchte ich Carmen Beilfuß, die ich über viele Jahre erleben konnte, nennen. Im Rahmen meiner Coachingausbildung habe ich ihre kompetenten fachlichen Inputs bewundert und ihre Ermunterung, lebendig und kreativ zu sein. In verschiedenen Büchern lädt sie u. a. zur Vielfalt ein. Besonders anregend sind Titel wie: „Ein Himmel voller Fragen - Systemische Interviews, die glücklich machen! Fragen für erfolgreiche Frauen und Männer“ (Beilfuß 2015). Einige meiner Lieblingsfragen: ➤ Wenn Sie einen Roman schreiben oder gar Ihre Biografie, welche Botschaft möchten Sie Ihren LeserInnen vermitteln? ➤ Wenn Sie eine Gedankenspur hinterlassen möchten, welcher Satz steht über Ihrem Leben? ➤ Wen in Ihrem Umfeld würden Sie ,einen aussichtslosen Fall‘ nennen und lieben ihn gerade deshalb? (Kindl-Beilfuß 2008) 5 Zum Schluss: Wie lautet deine persönliche Botschaft, dein Wunsch, dein Motto für unsere ,Systemische Zunft und Zukunft‘? „Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als sich fortwährend über die Dunkelheit zu beklagen“ (Conen 2002, 17). Supervision und Jugendhilfe Der Blick auf meine Berufsbiografie verdeutlicht mir, dass die vielen Facetten sowohl systemischer als auch frauenspezifischer Sichtweisen meine berufliche Haltung geprägt haben. Dabei stehen nicht zuletzt viele Beratungskontexte wie Supervisions-/ Coaching-/ Intervisionsprozesse, aber auch Teamprozesse auf unterschiedlichen Ebenen für mich in besonderem Fokus. Entsprechend meiner systemischen Grundhaltung entspricht mein Verständnis von „Supervision“ dem einer ,Systemischen Supervision‘. Zum besseren Verständnis, auch um der Bedeutung des Begriffes in seiner Vielfalt und gerade mit dem Fokus auf Jugendhilfekontexte gerecht zu werden, hier einige Gedanken dazu: ➤ Systemische Supervision als spezifische Ausrichtung von Supervision ist eine lösungsorientierte Beratungsform für Personen und Institutionen, die ressourcenorientiert professionelle Zusammenhänge thematisiert (Ebbecke-Nohlen 2022). ➤ Systemische Supervision bietet in einem geschützten Rahmen die Möglichkeit, dass Menschen in Beziehung treten, um ihre berufliche Rolle zu reflektieren (Barthelmess 2016). ➤ Eine Verständnisklärung des Begriffes Supervision bei Prozessbeginn und Abklärung der gegenseitigen Erwartungen zwischen SupervisandInnen und SupervisorInnen münden in eine gemeinsame Auftragsklärung. ➤ Eine Auftragsklärung erfolgt mit Blick auf Verantwortlichkeiten innerhalb der Institution (Macht- und Aufgabenverteilung zwischen Männern/ Frauen, einzelnen Teams, Verwaltung etc.). 413 uj 10 | 2022 Eine weibliche berufsbiografische Betrachtung ➤ Systemische Supervision ermöglicht einen hilfreichen Perspektivwechsel: Sie lässt den Blick der TeilnehmerInnen als Teil innerhalb sowie außerhalb des Systems zu. ➤ Zielformulierungen eröffnen Lösungsräume. ➤ Der Blick auf eine Ressourcenorientierung sowohl bezüglich der inneren Fähigkeiten wie Kompetenzen und Erfahrungen als auch der äußeren Faktoren wie Netzwerke, Kontexte und finanzielle Möglichkeiten differenziert und berücksichtigt erweiterte Handlungsoptionen. ➤ Eine systemische Grundhaltung, geprägt durch Nichtwissen, Nichtverstehen, Eingebundensein und Vertrauen, fördert die selbstständige und passende Lösungsfindung bei den SupervisandInnen und vermeidet vorschnelle Lösungsfindungen (Barthelmess 2016). ➤ Kooperation und Kommunikation werden in der Supervision vornehmlich im Format eines dialogischen Gespräches realisiert (Winkens 2022). ➤ Es besteht kein Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit, sondern ein Vertrauen in ein offenes Ergebnis. Im Rahmen von Supervisionsprozessen in der Jugendhilfe sehe ich die Chance und Notwendigkeit, u. a. folgende Aspekte zu beachten: ➤ Oftmals unterliegen die Arbeitsaufträge im Jugendhilfekontext dem Dilemma der unterschiedlichen AuftraggeberInnen als Institution der sozialen Kontrollen und der Familie/ Eltern mit deren unterschiedlichen Problemdefinitionen. ➤ Sie erfordern somit der besonderen Abklärung, unter welchen Bedingungen und wer in welcher Verantwortung was erfüllen sollte. ➤ Auch in einem oft gestalteten ,Zwangskontext‘ geht es darum, die Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Die Chance für BeraterInnen liegt in einem „Detriangulierungsprozess“, indem sie sowohl die Problemdefinitionen der Institutionen der sozialen Kontrolle als auch der Familie aufgreifen (Conen 2002). ➤ Das Verständnis für die Sinnhaftigkeit und Funktion bestehender Probleme und gute Gründe für eine Nichtveränderung von Familien eröffnet mögliche alternative Lösungswege. ➤ Die systemische Frage nach Unterstützungssystemen kann aufseiten der Familie eine Entlastung bedeuten. ➤ Aufseiten der BeraterInnen eröffnet die Frage nach bestehenden Unterstützungssystemen den Weg zur multiprofessionellen Zusammenarbeit und erweiterten Netzwerkarbeit. ➤ Die Grenzen zwischen Beruf und Privatsphäre gerade im psychosozialen Bereich erfordern eine besondere Sensibilität und setzen eine fortlaufende Klärung des Rollenverständnisses sowohl der SupervisandInnen als auch der SupervisorInnen voraus. Resümee Meine berufliche Haltung hat sich nach meiner heutigen Einschätzung durch Erfahrungen aus der Herkunftsfamilie, der Fachausbildung, des Studiums im Sozialwesen, aus den verschiedenen Weiterbildungen und dem damit fortlaufenden Prozess der beruflichen Tätigkeit und Reflexion insbesondere im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich und dem Jugendhilfekontext entwickelt. Von Bedeutung ist für mich, dass ich im Rückblick mit Neugier und Zuversicht neue Herausforderungen annehmen konnte. Meine ressourcen- und lösungsorientierte Haltung hat mir oft Respekt und ein anderes Verständnis für sowohl alltägliche berufliche Herausforderungen als auch für ,aussichtslose‘ Situationen in der Jugendhilfe ermöglicht. Dabei war durchaus hilfreich, in sogenannten „Sackgassen“ den vermeintlichen und in vielen anderen Situationen bewährten eigenen Positionen eine gewisse kreative „Respektlosigkeit“ entgegenzusetzen, um den Raum für neue Lösungen zu eröffnen (Cecchin 1993). 414 uj 10 | 2022 Eine weibliche berufsbiografische Betrachtung Die Chance, dass ich mich im Rahmen von Supervisionsprozessen in unterschiedlichen Settings immer wieder u. a. mit meiner Berufsrolle auseinandersetzen konnte, war mehr als hilfreich und hat wesentlich meine berufliche Persönlichkeitsentwicklung beeinflusst. Supervision hat mich nicht zuletzt in der Entwicklung einer weiblichen professionellen Identität gestärkt. Zwischenzeitlich frage ich mich nun, ob meine hier beschriebenen Erfahrungen von Hoffnung und Zuversicht in der Herkunftsfamilie - trotz oft widriger Umstände - der Grundstein für mein Interesse an einer systemisch-ressourcenorientierten Sichtweise und späteren Weiterbildung waren. Und wann habe ich angefangen, meinen Blick mehr auf die weibliche Sicht in der systemischen Welt zu richten? Waren hier die Frauen in meiner Herkunftsfamilie prägend? Heute sehe ich die Beschreibung meiner Berufsbiografie als ein Narrativ, und bin mir bewusst, dass diese Erzählung Weiterentwicklung ermöglicht und der Prozessgestaltung unterliegt. Somit bleiben die endgültigen Antworten offen, der Lernprozess bleibt fortlaufend. Schlussgedanken Es besteht wenig Handlungsspielraum, die wachsenden Anforderungen in der Jugendhilfe zu beeinflussen bzw. zu minimieren. Supervision - so, wie ich sie verstehe - ist weder Allheilmittel noch Ersatz für notwendige Veränderung sozialpolitischer Strukturen. Gelingende Supervision bietet eine Möglichkeit, in der Distanz zu den beruflichen Herausforderungen in der Jugendhilfe eine Metaperspektive einzunehmen, in der Abgrenzung den Blick zu weiten und Kreativität zuzulassen. Darin sehe ich auch heute eine Chance und vielleicht die wichtigste Aufgabe in der Prozessklärung der eigenen Berufsrolle und mit der immer wiederkehrenden Frage: „Als wer bin ich wann für wen was, und das wie genau? “ (Barthelmess 2016, 45) Michaele Buscher E-Mail: michaele.buscher@gmx.de Literatur Barthelmess, M. (2016): Die systemische Haltung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Beilfuß, C. (2015): Ein Himmel voller Fragen. Carl-Auer, Heidelberg Berg, I. K. (1998): Familien-Zusammenhalt(en). Ein kurztherapeutisches und lösungsorientiertes Arbeitsbuch. 5. Aufl. Modernes Lernen, Dortmund Carter, B., Walters, M., Papp, P., Silverstein, O. (1991): Unsichtbare Schlingen. Die Bedeutung der Geschlechterrollen in der Familientherapie. Eine feministische Perspektive. Klett-Cotta, Stuttgart Cecchin, G., Lane, G., Ray, W. A. (1993): Respektlosigkeit. Provokative Strategien für Therapeuten. Carl-Auer, Heidelberg Conen, M.-L. (2002): Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden. Carl-Auer, Heidelberg Conen, M.-L. (2006): Die Ratlosigkeit des Helfers - eine Ressource! In: Welter-Enderlin, Hildenbrand, R. (Hrsg.): Resilienz-Gedeihen trotz widriger Umstände. Carl-Auer, Heidelberg, 255 - 270 Ebbecke-Nohlen, A. (2022): Einführung in die systemische Supervision. 6. Aufl. Carl-Auer, Heidelberg Kindl-Beilfuß, C. (2008): Fragen können, wie Küsse schmecken. Carl-Auer, Heidelberg Winkens, H. (2022): Zehn Kennzeichen von Supervision in der Jugendhilfe. Ein Lehrbuch für PraktikerInnen. Beltz, Weinheim