eJournals unsere jugend 74/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2022.art60d
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2022
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Supervision in der Heimerziehung

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Tim Middendorf
Supervision als berufliches Beratungsformat hilft „in Situationen hoher Komplexität, Differenziertheit und dynamischer Veränderungen“ (Deutsche Gesellschaft für Supervision e.V. 2012, 8). Es ist demnach nicht überraschend, dass sie im Handlungsfeld der stationären Heimerziehung weit verbreitet ist. Denn das schon konzeptionell hoch ausdifferenzierte Feld der Heimerziehung umfasst inhaltlich vielschichtige Arbeitsanforderungen, die individuell differenziert und zudem dynamisch zu bewältigen sind. Als ein metaperspektivischer Reflexionsort kann Supervision in diesem Zusammenhang auch zum Nutzen der Adressatinnen und Adressaten unterstützend wirken (vgl. Winkens 2021, 132).
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415 unsere jugend, 74. Jg., S. 415 - 422 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art60d © Ernst Reinhardt Verlag von Prof. Dr. Tim Middendorf Professor für Soziale Arbeit im Kontext prekärer Lebenslagen an der Fachhochschule Bielefeld, Dipl.-Sozialarbeiter/ Dipl.-Sozialpädagoge und Supervisor (Master of Arts, DGSv), hat selbst viele Jahre als Mitarbeiter in der stationären Jugendhilfe gearbeitet und ist zudem als Supervisor im Bereich der Jugendhilfe aktiv Supervision in der Heimerziehung Ein Tempodauerlauf mit unbekanntem Ziel Supervision als berufliches Beratungsformat hilft „in Situationen hoher Komplexität, Differenziertheit und dynamischer Veränderungen“ (Deutsche Gesellschaft für Supervision e.V. 2012, 8). Es ist demnach nicht überraschend, dass sie im Handlungsfeld der stationären Heimerziehung weit verbreitet ist. Denn das schon konzeptionell hoch ausdifferenzierte Feld der Heimerziehung umfasst inhaltlich vielschichtige Arbeitsanforderungen, die individuell differenziert und zudem dynamisch zu bewältigen sind. Als ein metaperspektivischer Reflexionsort kann Supervision in diesem Zusammenhang auch zum Nutzen der Adressatinnen und Adressaten unterstützend wirken (vgl. Winkens 2021, 132). Die vielfältigen Interdependenzen der beruflichen Praxis in Angeboten der stationären Jugendhilfe sind häufig Thema in entsprechenden Supervisionsprozessen. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Supervisionsprozesse in der Heimerziehung von besonderen Herausforderungen geprägt sind: Alltag der Adressatinnen und Adressaten, Zusammenarbeit im Team, trägerspezifische Themen oder das Verhältnis von Arbeit und Privatem - um exemplarisch einige Kernthemen zu benennen. Die alltägliche Beziehungsarbeit in komplexen Lebens- und Arbeitssituationen verlangt den Mitarbeitenden einiges ab, sodass diese Themen in die Supervision getragen werden. Oftmals ist dann noch nicht absehbar, wohin die Reise im Supervisionsprozess gehen wird. Diese herausfordernde Gemengelage wird in diesem Beitrag metaphorisch und humorvoll in den Blick genommen. Auf eigenen Erfahrungswerten basierend wird eine zunächst scheinbar weit hergeholte Verknüpfung von sozialer Welt in Supervisionen in der Heimerziehung und dem Laufsport geschaffen: Supervisionsprozesse in den unterschiedlichen Angeboten der stationären Jugendhilfe werden mit Aspekten der Trainingseinheit Tempodauerlauf relationiert. Zugegebenermaßen nehme ich dadurch Komplexitätsreduktion in Kauf: Denn einerseits verlaufen Supervisionssitzungen differenziert und Angebote der Heimerziehung sind unterschiedlich konzipiert, andererseits sind Tempodauerläufe je nach Wetterlage, Gelände und Zeitpunkt verschieden und auch die Ausstattung wie Laufschuhe und Kleidung tragen zu einem veränderten Ergebnis bei. Mit diesen Erkenntnissen im Hinterkopf schafft die Verknüpfung von Supervision in der stationären 416 uj 10 | 2022 Ein Tempodauerlauf mit unbekanntem Ziel Jugendhilfe und Laufsport aber einen - nicht zuletzt für Laufbegeisterte - erfrischenden Zugang zu möglichen Besonderheiten und Auffälligkeiten in Supervisionsprozessen in der Heimerziehung. Begeben wir uns demnach in die Welt des Laufsports. Zum Tempodauerlauf Ein Tempodauerlauf ist ein Dauerlauf über eine unbestimmte Distanz in einem dauerhaft hohen Lauftempo. Das bedeutet, dass die Laufgeschwindigkeit zwar schnell, aber kontrolliert ist, um Geschwindigkeitseinbrüche zu verhindern. Durch die konstant hohe Belastung im sogenannten Schwellenbereich werden effektive Trainingserfolge generiert. Das bedeutet ganz konkret, dass es nach dem Aufwärmen direkt in die Vollen geht und Belastung so gesteuert wird, dass sie hoch und beherrschbar bleibt. So der Plan. Jedoch gehen mit der Durchführung sowohl Fehleinschätzungen über den eigenen Leistungsstand und die entsprechende Wahl der Dauer und des Tempos als auch eigene Motivationstiefs und körperliche Schwierigkeiten einher. Der Tempodauerlauf ist also effektiv und effizient, allerdings auch störungsanfällig und nicht immer unproblematisch. Vielleicht fühlen sich einige an dieser Stelle schon an Supervisionsprozesse in der Heimerziehung erinnert - ich werde diese Verknüpfungen nun weitergehend vertiefen und präzisieren. Wohlwissentlich, dass auch dieser Plan störanfällig und nicht immer unproblematisch ablaufen wird. Die Vorbereitung In der Planung eines Tempodauerlaufs sind viele Aspekte zu beachten: Uhrzeit, Streckenführung, Kleidung, Trainingspartnerinnen und -partner und vieles mehr. Durch die Variation der verschiedenen Aspekte werden unterschiedliche Trainingsimpulse angeregt, die wiederum zu verschiedenen Trainingseffekten führen können. Kurz gesagt: Es sollte ein Trainingsziel geben, um den Tempodauerlauf entsprechend auszurichten. Aber selbst ohne konkretes Ziel bieten sich im Verlauf ganz prozessorientiert verschiedene Möglichkeiten, um die Trainingseinheit je nach Bedarf anzupassen. Das klingt nach Planung versus Prozessorientierung. Das ist in der Vorbereitung einer Supervision im Handlungsfeld der Heimerziehung ähnlich zu beobachten. Verstehen wir die Vorbereitung als Kontakt- und Kontraktphase, dann nehme ich eine hohe Varianz in Supervisionen in der Heimerziehung wahr. Die Anfragen erstrecken sich von Teambuilding über Konfliktmanagement, Team- und Fallsupervisionen bis hin zu konzeptionellen Fragestellungen (ausführlicher vgl. Winkens 2021, 92 - 118). Es ist zu beobachten, dass der tatsächliche Bedarf - sozusagen das Supervisionsziel - im Vorfeld von den Auftraggebenden häufig noch nicht eindeutig benannt werden kann. Es gibt eine grundlegende Idee des Nutzens, aber die entsprechenden Schwerpunkte und Weichenstellungen ergeben sich im Prozess. Wie im Tempodauerlauf: Die Einheit wird verabredet und begonnen, aber die tagesaktuelle Performance und die individuellen Schwerpunkte werden erst im Laufen sichtbar. So entpuppt sich die Supervisionspraxis - nicht zuletzt durch eine beobachtete hohe Fluktuation von Adressatinnen und Adressaten sowie Mitarbeitenden - bildlich gesprochen als unbekanntes Trainingsterrain. Die Laufschuhe für die Supervision in Einrichtungen der Heimerziehung werden entsprechend variabel gewählt, um sie im Verlauf der gemeinsamen Praxis unter Umständen wechseln und zielführender nutzen zu können. Aus diesen Gründen sind Supervisionsprozesse in der Heimerziehung aus meiner Perspektive besonders prozessorientiert und flexibel zu gestalten. Ein besonderer Aspekt hierbei ist die von Winkens beschriebene interdisziplinäre Mehrperspekti- 417 uj 10 | 2022 Ein Tempodauerlauf mit unbekanntem Ziel vität (vgl. Winkens 2021, 32 - 38). Es ist im Vorfeld nicht ausreichend sicher planbar, welche Perspektive auf eine Fragestellung für die Beteiligten in der komplexen Gemengelage hilfreich erscheint. Befinden wir uns auf felsigem Untergrund oder auf einer asphaltierten Straße, betrachten wir die Steigung von unten oder von oben? Diese Fragestellungen sind für die Durchführung des Tempodauerlaufs ebenso entscheidend wie für die Supervision in der Heimerziehung. Wir machen uns also auf den Weg, ohne diesen und unsere Kraftreserven an verschiedenen Stellen des Weges genau zu kennen. Das erfordert eine hohe Akzeptanz und Mitwirkung der Supervidierenden. Es scheint daher für den supervisorischen Nutzen von großer Bedeutung, dass die Supervisionsprozesse in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe von den Beteiligten als sinnvoll angesehen und deklariert werden. So ist es möglich, auch nachlassender Kraft zu begegnen und Herausforderungen zu meistern. Das bedeutet ganz konkret, dass die Auftragslage vor Beginn des Prozesses als häufig diffus und schwer eingrenzbar beschrieben werden kann. Beispielsweise Teambildung und -findung, Erhalt von Professionalität oder Fallsupervisionen aus unterschiedlichen Perspektiven (Kinder, Jugendliche, Eltern, Sorgeberechtigte, Fachkräfte usw.) werden zwar formuliert, allerdings ist der supervisorische Vollzug im komplexen Alltag häufig durch aktuelle Themen bestimmt. Supervision in der Heimerziehung ist aus meiner Perspektive als störungsanfällig zu deklarieren. Daher sind die Hinweise von Winkens zum zeitlich, räumlich exzentrischen Ort (vgl. Winkens 2021, 70 - 74) von besonderem Nutzen. Wie beim Tempodauerlauf mit der unbekannten Variabel der Tagesform verhält es sich auch bei Supervision in der Heimerziehung: Eine Vorbereitung abseits des Erhalts größtmöglicher Flexibilität erscheint unter diesen Faktoren erschwert. Wir schauen uns jedoch an dieser Stelle den Prototypen eines Tempodauerlaufs mit seinen verschiedenen Phasen an. Die Aufwärmphase Der Aufwärmphase kommt beim Tempodauerlauf eine erhöhte Bedeutung zu. Da der Körper durch das zügige Tempo von Beginn an besonders gefordert ist, dient das Aufwärmen der Vorbereitung und Verletzungsprophylaxe der Laufenden. Zudem sollte das Aufwärmen wohl dosiert ablaufen, um noch genügend Energie für den Tempodauerlauf zu reservieren. Getreu dem Motto: Den Körper in Schwung bringen, um später genügend Schwung auf die Straße zu bringen. Dabei fungiert das Aufwärmen und Schwung nehmen als Grundlage für den weiteren Lauf. Das birgt Ähnlichkeiten zu Supervisionsprozessen im Handlungsfeld der Heimerziehung. Überträgt man die Aufwärmphase beim Laufen auf die Einstiegssequenz in der Supervision, dann ist in der oftmals unklaren Auftragslage eine gründliche Abstimmung vor Ort unerlässlich, um den Prozess verletzungsfrei zu meistern. Welche Themen sind für heute von besonderer Bedeutung für die Supervision und womit sollten wir uns daher vorwiegend beschäftigen? Und sind diese Themen vereinbar mit dem Gesamtauftrag des Supervisionsprozesses? Es ist im komplexen Arbeitsalltag damit zu rechnen, dass es möglicherweise zu identifizierende Themen hinter den ausgesprochenen Inhalten gibt, die in der Supervision eine zentrale Rolle spielen könnten. Winkens spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Hausinger (2008, 55) von einer Komplexitätsbewältigungskompetenz als ein Kennzeichen von Supervision in der Jugendhilfe (vgl. Winkens 2021, 38 - 44). Es geht demnach zu Beginn einer Sitzung darum, die gesamte Strecke im Blick zu behalten und sich spezifisch für diese Strecke aufzuwärmen und vorzubereiten. Konkret: Die Supervisionsthemen so passend zu fokussieren und zu reduzieren, dass sie in der Supervisionssitzung händelbar sind und eventuelle Störungen im Verlauf noch berücksichtigt werden können. Das habe ich als herausfordernd erfahren. Denn die Bedürfnisse und (bewussten sowie vorbewussten) Ziele der Teilnehmenden können sowohl variieren als sich auch diametral gegenüberstehen. 418 uj 10 | 2022 Ein Tempodauerlauf mit unbekanntem Ziel Der Tempodauerlauf Der eigentliche Tempodauerlauf stellt die Kernphase der Trainingseinheit dar. Die Läuferinnen und Läufer meistern die Entfernung in einem konstant hohen Tempo im sogenannten Schwellenbereich: Das bedeutet konkret, dass das Sauerstoffangebot und der Sauerstoffverbrauch in den Körperzellen gerade noch ausgeglichen sind. Der Körper arbeitet somit an der Performing-Grenze, ohne in die Überlastung zu gehen. Der Schwellenbereich misst sich in der Regel an der Herzfrequenz und ist je nach körperlicher Fitness unterschiedlich aufgeteilt. Ebenso beeinflusst der Trainingszustand die Möglichkeit der Laufdauer im Schwellenbereich. Zusammengefasst lässt sich feststellen: Der Tempodauerlauf findet auf einem körperlich zumutbaren Level statt und variiert je nach Fitness in Qualität und Quantität des Laufes. Das lässt sich mit der Supervisionspraxis in stationärer Jugendhilfe vergleichen. Die für die Supervisionsgruppe zumutbaren Themen und Phänomene werden fortlaufend und rekursiv ausgehandelt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die einzelnen Mitglieder der Supervision unterschiedliche Schwellenbereiche besitzen und diese sich in einem interdependenten Zusammenhang zur Belastungsgrenze der Gesamtgruppe befinden. Je besser sich die Mitglieder selbst kennen und individuelle Grenzen kommuniziert werden, desto sensibler kann diesen im Supervisionsprozess begegnet werden. Winkens beschreibt diese Prozesse unter Verständigungsorientierung und Verstehen (vgl. Winkens 2021, 67 - 70) als ein zentrales Kennzeichen von Supervision in der Jugendhilfe. Bestenfalls kennt die Gruppe ihre Belastungsgrenze und kann reflexiv äußern und bestimmen, welche Grenzen zum jeweiligen Zeitpunkt für sie nicht überschritten werden dürfen. In der Praxis kann es allerdings auch vorkommen, dass die Supervisionsgruppe sich überfordert und ein zu hohes Tempo eingeht oder zu schwieriges Terrain betritt, sodass die Grenze der Zumutbarkeit überschritten wird. Ähnlich wie beim Tempodauerlauf können die Überforderungssituationen zwar wieder aufgefangen werden, allerdings ist bei einer dauerhaften Überlastung die gesamte Trainingseinheit und möglicherweise die gesamte Supervisionssitzung gefährdet. Teams und Gruppen in der stationären Jugendhilfe sind aus meiner Erfahrung besonders anfällig für derartige Überforderungssituationen: einerseits aus der schon dargestellten komplexen Arbeitssituation und andererseits aufgrund der leicht zu produzierenden Vermischung beruflicher und privatpersönlicher Anteile. Neben den fortlaufend beschriebenen Herausforderungen kann sich im Tempodauerlauf auch trotz der intensiven Belastung ein Gefühl von Leichtigkeit einstellen: Laufende beschreiben derartige Phänomene als Flow-Erleben. Die hohe Belastung wird hingenommen und der Lauf fühlt sich trotzdem befreiend, leicht und motivierend an. Es gibt keine Garantie auf den berühmten Effekt, die Herstellung unterliegt keinen kausalen Zusammenhängen, aber er ist durchaus möglich. Ähnlich verhält es sich in Supervisionsprozessen in der Heimerziehung. Ich kann nicht immer sagen, wann, wo und weshalb: Allerdings gibt es Sitzungen und Prozesse, die sich trotz fachlicher und emotionaler Schwellengrenze leicht und locker anfühlen. Auf einmal stellen sich Gefühle von Zuversicht und Motivation ein, die in der supervisorischen Praxis Absprachen und Umsetzungsplanung erleichtern. Die Mitarbeitenden in der Heimerziehung nutzen in diesen Fällen den Reflexionsort Supervision, um Ursachen auf den Grund zu gehen, Zusammenhänge herzustellen und Pläne zu schmieden. Die Arbeit läuft nahezu von selbst. Als Supervidierender stehe ich bildlich gesprochen am Streckenrand und passe lediglich auf, dass die Streckenplanung eingehalten wird und sich niemand im Prozess verletzt. So werden eigene Ressourcen innerhalb der Supervisionsgruppe genutzt, Ideen und Fragestellungen selbstständig entwickelt und Lösungsideen für den beruflichen Alltag hervorgebracht. 419 uj 10 | 2022 Ein Tempodauerlauf mit unbekanntem Ziel Einen letzten Punkt möchte ich noch gerne anführen, der das Scheitern eines Tempodauerlaufs und einer Supervision in der Heimerziehung neben falscher sportlicher Vorbereitung begünstigt: Die falsche Auswahl der Bekleidung oder im übertragenen Sinne die falsche Wahl des Handwerkskoffers. Aufgrund des hohen Tempos wird beim Lauf schnell schon zu Beginn deutlich, ob die Bekleidung schürft oder die Schuhe drücken. Eine Unterbrechung bringt in diesen Fällen nur eine kurze Besserung und in der Regel ist ein Tausch der Kleidung aufgrund der Entfernung zum Startpunkt nicht mehr möglich. Ein Teufelskreis beginnt, der nur zwei Interventionen zulässt: Abbruch oder Fortführung unter Schmerzen. Praktikerinnen und Praktiker in der Supervision im Handlungsfeld der Heimerziehung kennen diesen Teufelskreis möglicherweise: Voller Vorfreude auf die anschauliche Fragestellung wird in der Supervision abgesprochen, beispielsweise eine Aufstellungsübung zu durchlaufen oder eine Ressourcenkarte zu erstellen. Und im Prozess wird schnell deutlich, dass die Umsetzung niemals den intendierten Zweck erfüllen und am Thema vorbeigehen wird. Prozesse in Feldern der stationären Jugendhilfe sind für diese Phänomene prädestiniert. Denn auf der einen Seite zeigen sich die Mitarbeitenden oft aufgrund ihrer hohen und im Berufsalltag oft angefragten Problemlösekompetenz schnell in Entscheidungsprozessen und möchten zügig in die Arbeit einsteigen. Und auf der anderen Seite sind die Mitarbeitenden aus meiner Erfahrung auch überdurchschnittlich bereit zu kreativer und lösungsorientierter supervisorischer Arbeit. Ich habe mich an diesen Stellen schon verführen lassen und (vorschnell) entsprechende Methoden angeboten und Ideen präsentiert, statt zunächst die Ausgangslage gründlich zu eruieren. Getreu dem Tipp zum Scheitern: „Frage nicht großartig nach aktuellen Befindlichkeiten, sondern leg einfach los“ (Winkens 2021, 130). Das Scheitern ließ nicht lange auf sich warten und es stellt sich in diesen Fällen wie im Tempodauerlauf die Frage: Abbruch oder schmerzhafte Fortführung. Also Augen auf beim Bekleidungskauf bzw. Augen auf bei der Methodenwahl. Insgesamt zeigt sich zusammenfassend, dass sich Supervision in der Heimerziehung als eine stetige Gratwanderung zwischen Möglichkeiten und Grenzen bewegt, die aufgrund ihrer hohen fachlichen und menschlichen Komplexität auf allen Seiten Verführbarkeiten mit sich bringt. Sie ist ein Instrument, das sowohl leicht als auch anspruchsvoll vollzogen werden und als eine Königsdisziplin in der Supervision gelten kann: wie der Tempodauerlauf im Trainingsplan einer Läuferin bzw. eines Läufers. Die Abkühlphase Das Auslaufen hat eine wichtige Funktion im Lauftraining: Die Herzfrequenz wird gesenkt und das gebildete Laktat kann besser abgebaut werden. Durch das langsame Tempo in der Abkühlphase wird die Muskulatur gelockert, um die Regeneration zu fördern und den Transfer in die Alltagsbelastung zu unterstützen. Im Prinzip wird auf diese Weise der Übergang vom Trainingsimpuls in den Alltag gestaltet. Der Körper kann die Belastung verarbeiten und integrieren. Diese Integrations- und Transferphase hat für die Supervision in der Heimerziehung eine herausragende Bedeutung. Selbstverständlich haben die Transferleistungen von supervisorischen Inhalten in die berufliche Praxis und andersherum in allen Handlungsfeldern eine hohe Wichtigkeit, denn Supervision als Reflexionsort dient immer der Reflexion und Qualifizierung beruflichen Handelns (vgl. Belardi 1998, 116). In der Heimerziehung allerdings stellt sich das als besonders bedeutsam heraus. Winkens fasst diese Aspekte unter anderem unter Zielorientierung zusammen (vgl. Winkens 2021, 79 - 91). Supervisorische Arbeit in der Heimerziehung dient demnach in der Supervisions-Praxis-Relationierung vor allem als Grundlage erfolgreicher Hilfeprozesse, als Selbstvergewisserungsort und zur Entprivatisierung der Beziehungen zu den Adressatinnen und Adressaten (vgl. 420 uj 10 | 2022 Ein Tempodauerlauf mit unbekanntem Ziel Winkens 2021, 81) - und demnach als Voraussetzung für und Unterstützung der professionellen Arbeit der Fachkräfte. Auf diese Weise können die Impulse aus der Supervision förderlich in die Berufspraxis wirken. Die supervisorische Praxis schafft sozusagen als Trainingsgewinn einen Zugewinn an Professionalität und an Reflexivität. Auf diese Weise schützt im läuferischen Sinne das Abkühlen - im supervisorischen Sinne die Relationierung von Supervision und Berufspraxis - vor Überforderungen und Verletzungen. Die supervisorischen Interventionen und Erkenntnisse können in die Berufspraxis wirken und Veränderungs- und Entwicklungsprozesse anstoßen, die im Nachgang an die Supervision wirken. Mein oft formulierter Leitsatz „Das meiste passiert zwischen den Sitzungen“ passt sowohl für das Lauftraining als auch für die Supervisionsprozesse in der Heimerziehung. Aus diesen Gründen sollte die Abkühlphase in die Trainingseinheit integriert werden. Auch wenn sie auf den ersten Blick lästig erscheint und gerne übergangen wird, hat sie für den Trainingseffekt eine herausragende Bedeutung. Genauso in der Supervision in stationärer Jugendhilfe: Wird die Transfervorbereitung in den Berufsalltag als regulärer Bestandteil jeder supervisorischen Sitzung verstanden, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit auf nachhaltige Veränderungen und Entwicklungen im beruflichen Alltag. Durch die Abkühlphase wird verhindert, dass die einzelnen Supervisionssitzungen als Ort gesehen werden, der abgekoppelt vom Arbeitsalltag zwar die Bedürfnisse und Themen der Beschäftigten in den Blick nimmt, in der Praxis allerdings ohne relevante Folgen bleibt. Denn das würde den Sinn und Zweck von Supervision nicht erfüllen. Die supervisorischen Erkenntnisse bedürfen demnach einer Viabilität im Berufsalltag, die durch die Relationierungsphase strukturell in den einzelnen Sitzungen erhöht werden kann. Die Supervisionsimpulse werden auf diese Weise in die Berufspraxis der Mitarbeitenden eingewoben. Der Trainingseffekt Der Trainingseffekt eines Tempodauerlaufs ist enorm: Zum Glück, denn die intensive Herausforderung ist demnach nicht umsonst. Auf der einen Seite fördert ein Tempodauerlauf die Grundlagenausdauer, sodass die Läuferinnen und Läufer längere Zeit aktiv sein können. Auf der anderen Seite wird zeitgleich das Lauftempo verbessert, sodass die Läuferinnen und Läufer schneller unterwegs sein können. Länger und schneller, ein Traum nahezu aller Laufsportbegeisterten. Mit der Supervision in der Heimerziehung verhält es sich ähnlich. Auf der einen Seite stärkt sie als Grundlage der Arbeit die Professionalität der Beteiligten, sodass diese in dem anspruchsvollen Handlungsfeld möglichst förderlich agieren können. Und auf der anderen Seite stärkt sie die situative Reflexivität, sodass die Fachkräfte im Einzelfall spezifisch angemessen reagieren können. Sowohl Grundlagen der pädagogischen Arbeit als auch Einzelfallentscheidungen können auf diese Weise gefördert werden. Ebenso werden viele weitere Effekte durch Supervision in der Heimerziehung erzielt, die in diesem Beitrag nur ansatzweise diskutiert werden können. Es bleibt die provokante Frage zu stellen, ob Supervision als grundlegend für das Handlungsfeld der stationären Jugendhilfe angesehen werden kann. Salopp gesagt: Geht stationäre Jugendhilfe überhaupt ohne Supervision? - Meine Antwort darauf lautet: „ja und nein“. Betrachten wir die Effekte vom Beratungsformat Supervision für die Praxis in der Heimerziehung, dann gerät direkt das Thema Professionalität in den Blick. Denn Supervision schafft - wie schon beschrieben - einen begleiteten Reflexionsort für die durch viele Zusammenhänge und Komplexitäten gekennzeichnete Praxis in der Heimerziehung. Dewe und Otto sehen vor allem im Reflexionsgedanken einen Zugang für ein Professionalitätsverständnis in der Sozialen Arbeit (vgl. Dewe/ Otto 2018, 1203 - 1213). Das gilt in besonderem Maße für das Handlungsfeld der 421 uj 10 | 2022 Ein Tempodauerlauf mit unbekanntem Ziel Heimerziehung. Denn unter anderem durch die Vermischung von Lebensort und Arbeitsort, von persönlicher und fachlicher Beziehung, von Bedürftigkeit und Angebot und vielem mehr ist die professionelle berufliche Praxis in der Heimerziehung auf Reflexion angewiesen. Und je mehr diese Reflexionsprozesse in das gemeinsame Bewusstsein der beteiligten Fachkräfte geraten und metaperspektivisch begleitet werden, umso mehr Professionalität kann entstehen. Daher plädiere ich für ein „Ja“ in Bezug auf die Ausgangsfrage. Auf der anderen Seite ist Supervision weit entfernt davon, ein Allheilmittel zu sein. Weniger professionelle Praxis in der Heimerziehung kann genauso gut unter supervisorischer Gesamtbegleitung entstehen wie höchst professionelle Praxis ohne Supervision. Denn sowohl die Reflexionsprozesse als auch die weiteren Möglichkeiten von Supervision können ohne das Beratungsangebot vollzogen werden: im beruflichen Alltag, in Team- und Leitungssitzungen, in kollegialen Beratungen und weiteren Austauschräumen. Daher ist eine professionelle Praxis in der stationären Jugendhilfe selbstverständlich ohne Supervision möglich und auch vorzufinden. Aus dieser Perspektive plädiere ich für ein „Nein“ in Bezug auf die Ausgangsfrage. Das hängt am Zusammenspiel der beteiligten Personen und an den strukturellen Austauschräumen in der alltäglichen Praxis. Aber ganz offen gesagt: Ich wünsche allen Mitarbeitenden in der Heimerziehung ein regelmäßiges Supervisionsangebot. Die Stolperfallen Und wie schaut es mit Stolperfallen und Gefahren aus? Kann ein Tempodauerlauf womöglich gefährlich und kontraindiziert sein? - Aus läuferischer Perspektive gibt es einige Punkte, die schwierig und womöglich gefährlich sein können: Eine Verletzung durch einen Sportunfall, ein zu hohes oder zu niedriges Trainingsniveau, ein Verlaufen auf der Strecke oder ein körperliches Unwohlsein. Auch aus supervisorischer Perspektive können Supervisionen in der Heimerziehung Gefahren und Stolperfallen mit sich bringen: Neben einer fehlenden fachlichen und/ oder persönlichen Passung zwischen Supervidierendem und den Mitarbeitenden kann es auch zu Verletzungen im Prozess kommen, die eine Weiterführung der Supervision erschweren oder unmöglich machen: Beispielsweise wenn die supervidierende Person die unterschiedlichen konzeptionellen Angebote des höchst ausdifferenzierten Angebots ignoriert und ihre bzw. seine Sicht auf Heimerziehung in den Vordergrund stellt. Denn vor allem das Handlungsfeld der stationären Jugendhilfe zeichnet sich durch Innovation und stetige Weiterentwicklung an sich wandelnden Bedarfen aus, sodass auch die Supervisionen sich verändern und entwickeln. Was vor fünf Jahren galt, gilt nicht automatisch heute noch. Die ausdifferenzierten Angebote der Heimerziehung bringen unterschiedliche Anforderungen an die Fachkräfte hervor: Sind die einen eher angefragt in der Begleitung von Heranwachsenden, sind die anderen eher mit der Förderung von Kindern und deren Familiensystemen beschäftigt. Die Supervisionen haben sich den entsprechend vielfältigen Herausforderungen auf verschiedenen Ebenen zu widmen. Aus diesem Grund kann es vorkommen, dass die Supervisionssitzungen im Anspruch oder im Thema unpassend ausgestaltet werden - von allen am Prozess Beteiligten. Das kann zu verschenkter Zeit und zu fehlenden Supervisionseffekten führen. Und als letzten Punkt werde ich auf das oben genannte körperliche Unwohlsein eingehen. Auch das lässt sich vorrangig in Supervisionsprozessen in der Heimerziehung beobachten. Die unter anderem teils intensive Beziehungsgestaltung zu den Adressatinnen und Adressaten führt aus meiner Erfahrung heraus überdurchschnittlich häufig zu Identifikationsfragestellungen in der Supervision. Wie wichtig ist mir meine Arbeit und wie viel Herzblut investiere ich? Wohne ich innerlich mit im Haus oder ist die Arbeit gedanklich nach Verlassen der Haustür Geschichte bis zum nächsten Dienst? Diese überspitzten Frage- 422 uj 10 | 2022 Ein Tempodauerlauf mit unbekanntem Ziel stellungen kennzeichnen ein sehr relevantes Thema in Supervisionen in der Heimerziehung, die körperliches Unwohlsein hervorrufen können: den unterschiedlichen Identifikationsgrad mit der Arbeit. Die Auseinandersetzung mit dem wichtigen Thema wirft Gefahren von Moralisierung und Polarisierung auf. Denn aus meiner Perspektive existieren wertneutral verschiedene individuelle Konzepte von der beruflichen Arbeit in der stationären Jugendhilfe, die alle ihre Berechtigung haben - im Rahmen professionellen Agierens gibt es kein richtig oder falsch, sondern nur verschieden. Da jedoch oft eine hohe Identifikation und ein selbstloses Aufopfern für die Arbeit und die Adressatinnen und Adressaten mit einer großen Leidenschaft und entsprechend hohen Professionalität verknüpft wird, wird eine größere Distanz als weniger wertvoll und professionell eingestuft. Die Mitarbeitenden klassifizieren auf diese Weise gute und weniger gute Arbeit, was zu persönlichen Verletzungen und Unwohlsein bei einzelnen Beteiligten führen kann. Diese Gefahr bringen Supervisionsprozesse in der Heimerziehung mit sich. Conclusio Ich möchte abschließend festhalten, dass Supervisionsprozesse in der Heimerziehung in vielerlei Hinsicht spannend und bunt sind. Sie sind nicht immer einfach, gehören aber aus meiner Perspektive wie ein Tempodauerlauf in jeden gut ausgestalteten Trainingsplan. Sie sind in der Ausgestaltung zwar herausfordernd und sogar gefahrenvoll, allerdings ist der Trainingseffekt herausragend - sowohl im Grundlagenals auch im Geschwindigkeitsbereich. Ähnlich verhält es sich mit den Supervisionen in der Heimerziehung: Sie unterstützen die grundlegende Professionalität der Arbeit und sind zeitgleich in Anforderungsspitzen und Krisensituationen hilfreich. Aus diesem Grund sage ich: Auf an die Startlinie! Prof. Dr. Tim Middendorf www.ms-supervision.de Literatur Belardi, N. (1998): Supervision. Eine Einführung für soziale Berufe. 2. Aufl. Lambertus, Freiburg im Breisgau Deutsche Gesellschaft für Supervision e. V. (2012): Supervision - Ein Beitrag zur Qualifizierung beruflicher Arbeit. Köln Dewe, B., Otto, H.-U. (2018): Professionalität. In: Otto, H.-U., Thiersch, H., Treptow, R., Ziegler, H. (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik.6.Aufl. ErnstReinhardt,München,1203-1213 Hausinger, B. (2008): Supervision. Organisation - Arbeit - Ökonomisierung. Zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Arbeitswelt. Arbeit und Leben im Umbruch. Schriftenreihe zur subjektorientierten Soziologie der Arbeit und der Arbeitsgesellschaft, Band 15. Rainer Hampp, München/ Mehring Winkens, H. (2021): Zehn Kennzeichen von Supervision in der Jugendhilfe. Ein Lehrbuch für PraktikerInnen. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel