eJournals unsere jugend 74/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2022.art61d
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2022
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Zwischen "Schnorcheln" und "Tiefseetauchen"

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2022
Sebastian Rumohr
In der Kinder- und Jugendhilfe ist Supervision ein mehr oder minder etabliertes Medium der fortlaufenden Professionalisierung von Fachkräften. Demzufolge dürften die meisten mit Heranwachsenden und deren Bezugssystemen Arbeitenden regelmäßig oder anlassbezogen mit Supervision zu tun haben. Der folgende Beitrag möchte Erfahrungen mit dieser Form professioneller Beratung beschreiben und die Grenzen ebenso wie die Chancen anhand des Kriteriums unterschiedlicher fachlicher Tiefen betrachten.
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423 unsere jugend, 74. Jg., S. 423 - 429 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art61d © Ernst Reinhardt Verlag von Sebastian Rumohr Diplom-Pädagoge und Systemischer Familientherapeut, Bereichsleiter im Haus St. Stephanus Grevenbroich Zwischen „Schnorcheln“ und „Tiefseetauchen“ Gefahren und Chancen von Supervision mit unterschiedlichem Tiefgang In der Kinder- und Jugendhilfe ist Supervision ein mehr oder minder etabliertes Medium der fortlaufenden Professionalisierung von Fachkräften. Demzufolge dürften die meisten mit Heranwachsenden und deren Bezugssystemen Arbeitenden regelmäßig oder anlassbezogen mit Supervision zu tun haben. Der folgende Beitrag möchte Erfahrungen mit dieser Form professioneller Beratung beschreiben und die Grenzen ebenso wie die Chancen anhand des Kriteriums unterschiedlicher fachlicher Tiefen betrachten. Dass die tägliche Arbeit in der stationären Jugendhilfe eine große Herausforderung für pädagogische Fachkräfte darstellt, dürfte eine Erkenntnis sein, die kaum überrascht. Die Einflussfaktoren hierfür sind zum einen im Arbeitskontext als solchem zu suchen. Die Betreuung der anvertrauten Minderjährigen erfordert Beaufsichtigung nahezu rund um die Uhr und somit ein gut organisiertes Schichtdienstsystem, das naturgemäß hohe Belastungen für alle Beteiligten mit sich bringt. Entstehen darüber hinaus personelle Engpässe, steigen die Anforderungen durch die seitens der Klientel und der Organisation geforderte Flexibilität und die Erwartung, zumindest situativ persönliche Belange zurückzustellen. Ebenfalls kräftezehrend stellen sich weite Teile der inhaltlichen Aufgaben dar, die auf der Bereitschaft der pädagogischen Fachkraft basieren, sich mit ihrer gesamten Persönlichkeit auf soziale Beziehungsexperimente mit zumeist bindungstraumatisierten Kindern, Jugendlichen und deren Bezugssystemen einzulassen. Oftmals kostet es große Anstrengungen, konflikthafte Auseinandersetzungen mit den betreuten jungen Menschen nicht als persönliche Angriffe zu verstehen und permanent mit dem impliziten oder expliziten Auftrag konfrontiert zu werden, die jungen Menschen auf ein ansatzweise gesellschaftskonformes Leben vorzubereiten, obgleich diese sich biografiebedingt häufig noch deutlich renitenter zeigen als der Durchschnitt ihrer Alterskohorten. Interne Teamsitzungen, Reflexionsgespräche mit Vorgesetzten und Schulungen scheinen ebenso notwendig wie externe Fort- und Weiterbildungen, persönliche Maßnahmen zur Gesunderhaltung und eine grundsätzlich stabile 424 uj 10 | 2022 Zwischen „Schnorcheln“ und „Tiefseetauchen Persönlichkeit, um langfristig den Spagat zwischen der Erfüllung dieser Aufgabe und dem privaten Ausgleich erbringen zu können. Ein weiteres wichtiges und grundlegendes Mittel dürfte hierzu das Angebot der regelmäßigen Team- und Fallsupervision sein. Eine Skizze. In einem Raum in der Größe eines Wohnzimmers sitzen sechs oder sieben erwachsene Menschen in bequemen Sesseln. Es gibt einen kleinen Tisch und ein Bücherregal aus dunklem Holz mit einigen Fachbüchern. Jeder hält eine Tasse Kaffee in der Hand, man sitzt entspannt mit übereinandergeschlagenen Beinen. Lediglich die Flipchart in der Ecke scheint nicht ganz in das Zimmer zu passen, das vom durch ein Fenster scheinenden Sonnenlicht erhellt wird. Eine Enddreißigerin mit gewelltem Haar beginnt zu sprechen und was sie sagt, passt irgendwie nicht zur vordergründig entspannten Atmosphäre. Sie seufzt und berichtet, wie anstrengend der letzte Nachtdienst gewesen sei, wie herausfordernd die Kinder wären und sehr schnell äußert sie, dass die Gruppe nie zuvor aus solch schwierigen Kindern bestanden habe. Während der Großteil der anderen Anwesenden beginnt, zustimmend zu nicken und ebenfalls zu seufzen, blickt ein älterer Herr, der zwischen Regal und Flipchart sitzt, empathisch und interessiert auf die Rednerin. Diese setzt nun an, dass die Vorgesetzten all das aber leider nicht verstünden und sie sich schon gar nicht unterstützt fühle, was wiederum den Blick des Älteren fast ins Mitleidige driften und den Rest der Gruppe ins Leere starren lässt. Stille. Der ältere Herr holt Luft und beginnt, seine Vorrednerin mitfühlend in deren Erleben zu bestätigen. Der Rest der Gruppe bekommt glasige Augen. Endlich einer, der sie versteht. So ähnlich erinnere ich persönlich eine frühe Erfahrung mit Supervision. Wenige Jahre später „durfte“ ich Supervision anders erleben: Sieben oder acht Erwachsene sitzen im Stuhlkreis. Der Raum ist offensichtlich ein Besprechungszimmer, die Stühle sind aus hellem Holz und eher ungemütlich. Die Stimmung scheint äußerst angespannt; irgendetwas liegt in der Luft. Ein Mittvierziger beginnt zu sprechen. Er sei sehr unzufrieden. Die Arbeit mit den Jugendlichen sei nicht das Problem, diese seien zwar herausfordernd, doch das sei man ja gewohnt. Nein, vielmehr habe er den Eindruck, dass seine Kollegin hinterrücks über ihn rede und Stimmung mache. Ebenjene Kollegin zuckt erschrocken auf ihrem Stuhl zusammen. Sofort findet sich eine weitere Kollegin, welche dem Mittvierziger zur Seite steht und sofort an mehreren Beispielen illustriert, wieso diese Intrigen ja völlig auf der Hand liegen. Ein Großteil der Anwesenden schweigt betroffen, lediglich eine Dame meldet sich zu Wort. Interessiert fragt sie nach und möchte wissen, welche guten Gründe die Frau wohl haben könnte, ihre Kolleginnen und Kollegen so zu hintergehen. Wildes Spekulieren, vorwiegend unter den bislang wortführenden zwei Menschen und der kleinen Dame geht los und nach weniger als einer Minute springt die Kollegin von ihrem „heißen Stuhl“ und verlässt unter lautem Schluchzen den Raum. Die LeserInnen ahnen es bereits - beide Erfahrungen sind bei mir schlussendlich nicht deswegen in Erinnerung geblieben, weil ich sie besonders als hilfreich erlebt hätte. Doch wieso eigentlich? Was genau muss Supervision leisten, um „krachend“ zu scheitern? Was charakterisiert im Gegenteil hilfreiche Supervision? Welche Wirkfaktoren spielen für beide Resultate eine Rolle? Im Folgenden möchte ich hierauf einen zweifelsohne sehr subjektiven Blick werfen. Supervision - wofür eigentlich? Supervision stellt vor allem in der Jugendhilfe ein wichtiges Medium zur Professionalisierung dar (vgl. Macsenaere/ Esser 2015, 83). Sie soll im wahren Wortsinn einen Blick „von oben“ auf unterschiedliche Umstände ermöglichen, mit denen Mitarbeitende dieses Berufsfeldes konfrontiert sind. Konkret dient sie im Idealfall ne- 425 uj 10 | 2022 Zwischen „Schnorcheln“ und „Tiefseetauchen“ ben anderem dazu, das Fallverständnis zu erhöhen, konkrete Lösungs- und Handlungsideen zu relevanten Fragestellungen zu entwickeln, die eigene Rolle im Kontext des Arbeitsfeldes zu reflektieren und die Wechselwirkungen zwischen Handelnden zu reflektieren und zu erkennen. Hierbei denken wir nicht nur an Mitglieder eines Teams, sondern auch an Vorgesetzte, den Kontext der gesamten Einrichtung/ Organisation, externe KooperationspartnerInnen und indirekte Einflüsse persönlicher Kontakte. Um einen distanzierten Blick zu gewinnen, scheint es paradoxerweise zunächst nötig, akut und situativ in die Materie „einzutauchen“. Hierbei ist ausdrücklich nicht gemeint, eine große Nähe herzustellen und anschließend eine Distanz auszutarieren. Zwar ist auch die Frage von Nähe und Distanz vor allem zu den KlientInnen das „täglich Brot“ der in der Jugendhilfe Tätigen. Hier ist jedoch gemeint, eine inhaltliche Tiefe herzustellen, die ein größeres Verständnis für gesamte Zusammenhänge ermöglicht. Insbesondere die Systemische Supervision legt hier Wert auf ein „Verstehenwollen“ der Beweggründe unterschiedlicher AkteurInnen. Naheliegend ist dies in der Fallsupervision, die ihren Fokus zumeist auf die guten Gründe der KlientInnen und ihrer Bezugssysteme legt (vgl. Winkens 2021, 92ff ). Gleichermaßen gültig ist es jedoch auch in der Teamsupervision, die sich mit Team- und manchmal Organisationsentwicklungsprozessen beschäftigt. Spannenderweise scheint es den meisten gut ausgebildeten Fachkräften deutlich leichter zu fallen, ihren KlientInnen gute Gründe für deren Verhaltensweisen zu unterstellen als eigenen KollegInnen, Vorgesetzten oder gar externen KooperationspartnerInnen. Entsprechend nachvollziehbar dürfte somit die Notwendigkeit von Supervision sein, die dafür sorgen soll, im Handlungsdruck der alltäglichen Arbeit ein Setting bereitzustellen, das ein Nachdenken, Reflektieren und Entwickeln hilfreicher, weil konstruktiver Ideen und Handlungsoptionen ermöglicht. Immanent hierbei scheint die Rolle der SupervisorInnen, in deren Verantwortung die Bereitstellung eines Settings liegt, die eine solche Distanzierung und Betrachtung überhaupt ermöglicht. Merkmale von Supervision Um hilfreich sein zu können, müssen sich SupervisorInnen mit unterschiedlichen anfordernden Kriterien auseinandersetzen. Zehn Kennzeichen von Supervision formuliert Herbert Winkens in seinem gleichnamigen Werk (vgl. Winkens 2021, 28ff ). Er beschreibt hierin unter anderem, dass SupervisorInnen eine grundsätzlich allparteiliche Haltung einnehmen sollten, um die „Verwobenheit der Akteure aus einer kritischen sowie interdisziplinären Perspektive (zu) betrachten“ (Winkens 2021, 84). Dies bezieht sich selbstredend auf KlientInnensysteme, aber auch auf Teammitglieder, Vorgesetzte und weitere direkt und indirekt am Prozess Beteiligte. Die Offenheit der SupervisandInnen wird sich kaum ergeben, sollte sich das Gefühl innerer Koalitionen des/ der SupervisorIn mit Einzelnen erhärten. Spannenderweise wird sich dieser Effekt auch einstellen, wenn der/ die SupervisorIn sich mit einem gesamten Team gegen Dritte verbündet. Mag dies zunächst zwar Eindrücke des Sich-Verstanden- Fühlens, möglicherweise der Genugtuung und Ähnlichem hervorrufen, dürfte sich jedoch zum einen mindestens zeitverzögert Frust dazugesellen, da Suchen und Finden eines/ r Schuldigen und Verantwortlichen letztlich immer auch die Auslagerung eigener Verantwortung bedeutet und in der weiteren Folge Selbstwirksamkeit eher hemmt als befördert. Zudem dürfte die Frage nach der Authentizität und Stabilität der professionellen Beziehung zwischen SupervisorIn und SupervisandInnen auftauchen, also die Frage aufwerfen, ob eine Koalition, ähnlich der zwischen zwei politischen Parteien, nicht immer auch ein mehr oder minder instabiles Zweckbündnis ist und der Koalitionspartner bei nächstbester Gelegenheit eine Union mit dem „politischen Gegner“ schmiedet. 426 uj 10 | 2022 Zwischen „Schnorcheln“ und „Tiefseetauchen“ Ein weiteres Kriterium zumindest bei extern „eingekauften“ Supervisionen - und dies ist in der Jugendhilfe zumeist die Regel - ist die Erwartung, der/ die SupervisorIn möge eine Position außerhalb des zu supervidierenden Systems einnehmen. Einen Blick von oben kann naturgemäß nur haben, wer nicht bereits Teil des Ganzen ist. Sowohl für die Fallarbeit als auch für die Begleitung von Teamentwicklungsprozessen oder Konflikten scheint dieser Umstand elementar und zugleich hoch anspruchsvoll. Die Neigung zur Bildung von Koalitionen dürfte ungleich höher sein, wäre der/ die SupervisorIn bereits fester Bestandteil der Supervisionsgruppe geworden. Auf der anderen Seite kann supervisorische Beratung nur dann erfolgreich im Sinne der geforderten Reflexivität sein, wenn diese Beratung selbst die größtmögliche Wertschätzung für die herausfordernde Arbeit in der Jugendhilfe und die in der Folge entstehenden Belastungen und Herausforderungen für die in ihr Tätigen zum Ausdruck bringt. Die Neigung so mancher Organisation, über Supervision implizit herausfiltern zu wollen, wer belastbar scheint und wer nicht, und letztlich hierüber die „schlechten“ PädagogInnen „herauszusieben“, macht dieses Unterfangen für den/ die SupervisorIn nicht unbedingt leichter. Nicht selten erteilen Leitungskräfte solche oder ähnliche Aufträge, die für professionelle Supervision ein Dilemma darstellt (vgl. Gabriel 2007, 15). „Im Tauchgang“ Doch wie tief kann und soll Supervision in die Materie eintauchen? Ist sicheres „Schnorcheln“ an der Oberfläche weniger zielführend als „Tauchgänge“ in Tiefen, die selbst für Profis zur Herausforderung werden? Zunächst einmal scheint es mit Blick auf die komplexen Fragestellungen, mit denen sich Beschäftigte der Kinder- und Jugendhilfe tagtäglich konfrontiert sehen, unabdingbar, eine gewisse Tiefe zu erreichen. Auf komplexe Fragen kann es kaum einfache Antworten geben. Was geschieht, wenn es weder dem/ der SupervisorIn noch der Supervisionsgruppe gelingt, eine inhaltliche Tiefe herzustellen? Fast logisch wird sich der Inhalt der Supervision auf die Beschreibung der Symptomatik beschränken. Dies birgt stets die Gefahr, zügig in einen „Klagemodus“ zu verfallen, der - einem Circulus vitiosus gleich - in aller Regel die beklagten Symptome verstärken und möglicherweise festschreiben dürfte. Selbst wenn es gelingt, aus der Klage heraus und in konstruktivlösungsorientierte Denkmuster einzutauchen, verharrt diese Lösungssuche ohne die notwendige Tiefe in der Behandlung von Symptomen. Ähnlich wie in der Somatik vermag dies zwar die Beschwerden kurzzeitig zu lindern, ein heilender Effekt stellt sich jedoch selten ein (vgl. Winkens 2021, 69). Zudem blendet die oberflächliche Betrachtung die Rahmenbedingungen des Arbeitskontextes aus und vergibt somit die Chance, beeinflussbare Faktoren von „starren“ Vorgaben zu separieren. Die Trennung ebenjener Aspekte ermöglicht langfristig, Selbstwirksamkeit gerade damit herzustellen, die Felder eigener Gestaltungsspielräume im vorgegebenen Rahmen aufzuzeigen und damit auch die Möglichkeiten, Bedingungen „von innen heraus“ zu verändern, ganz im Sinne des steten Tropfens, der bekanntermaßen den Stein höhlt. Hierin zeigt sich eine der großen Herausforderungen des/ der SupervisorIn. Bei aller Wichtigkeit, mit SupervisandInnen in Beziehung und Kontakt zu sein, benötigt es ein professionelles Austarieren von Nähe und Distanz, Beschäftigten der Jugendhilfe, die qua Beschreibung ihres Arbeitsfeldes zwar ebenso mit der Nähe-Distanz-Frage konfrontiert sind, diese jedoch durch die Vorgaben und Aufträge ihres Arbeitsfeldes vor allem in den stationären Gruppen häufig eher mit viel Nähe beantworten, die Möglichkeit innerer Distanzierung und Reflexivität überhaupt zu ermöglichen. Oder anders: Ist der/ die SupervisorIn sich seiner Position in Bezug zum supervidierten 427 uj 10 | 2022 Zwischen „Schnorcheln“ und „Tiefseetauchen“ System nicht bewusst, so droht er/ sie gleichsam zum Mitglied desselben zu werden und damit nur noch bedingt hilfreich sein zu können. Insbesondere die erste der beiden Erfahrungen weist derartige Hinweise auf. Somit wiederholte sich auf der Ebene der Supervision, was sich bereits im Kontakt zwischen Team, Vorgesetzten und Klientel als problematisch erwies. Um nicht missverstanden zu werden: die Wichtigkeit empathischen Beziehungsaufbaus zu SupervisandInnen ist unstrittig und wichtig. Supervision als geschützter Rahmen entsteht vorwiegend durch den Aufbau einer guten professionellen Arbeitsbeziehung. Diese beinhaltet aber eben auch das Bewusstsein aller Beteiligten, dass der/ die SupervisorIn eben nur hilfreich aus einer gewissen Distanz arbeiten kann. Die Verantwortung für das kontinuierliche Austarieren jenes Verhältnisses von Nähe und Distanz liegt hierbei eindeutig bei dem/ der SupervisorIn als der Person, die das Setting bereitstellt und rahmt. Eine gewisse inhaltliche Tiefe scheint also für gelingende Supervision nicht nur hilfreich, sondern notwendig zu sein. Doch ähnlich dem Tauchgang im Ozean muss auch Supervision sich die Frage stellen, ob Tiefe aus gesunden Gründen begrenzt sein sollte. So weist auch Herbert Winkens darauf hin, „dass eine als Supervision verklärte Psychotherapie als klarer Kunstfehler im supervisorischen Rahmen anzusehen ist“ (Winkens 2021, 59). Dieses sollte sich bereits aus dem geschlossenen Kontrakt und den erteilten Aufträgen ergeben. Supervision ist immer und ausschließlich im beruflichen Kontext verortet und unterscheidet sich dadurch von anderen beraterischen Settings. Gleichwohl sind Fachkräfte in der Jugendhilfe immer aufgefordert, ihre Persönlichkeit sozusagen als Arbeitsmittel einzusetzen. Demzufolge provoziert dieses Berufsbild geradezu das Verschwimmen von professioneller Haltung und eigener Persönlichkeit. Entsprechend deutlich findet sich immer wieder die Neigung unter PädagogInnen, ErzieherInnen, PsychologInnen und dergleichen mehr, auch kollegiale Bezüge und Dynamiken zu „therapeutisieren“. Die Grenzen scheinen fließend, wenn die Persönlichkeit der Mitarbeitenden einen ungleich höheren Einfluss auf die Arbeit hat als in anderen Berufsfeldern. Umso mehr ist es die Aufgabe des/ der SupervisorIn, dieser Entgrenzung in vielfacher Weise entgegenzuwirken. Bereits prophylaktisch ist er/ sie dazu aufgerufen, seine/ ihre Gestaltungsverantwortung des Settings wahrzunehmen und deutliche Grenzen sowie Regeln des Umgangs miteinander zu formulieren. Dem schließt sich logischerweise an, die Einhaltung ebenjener Regeln nicht nur penibel zu prüfen und ggf. einzufordern, sondern auch höchstselbst die Grenzen entsprechend zu achten. Vor allem in konfliktmoderierenden Teamsupervisionen tun sich mannigfaltige Einladungen auf, deutliche Überschreitungen persönlicher Grenzen Einzelner als fachlichen Tiefgang in der Ursachenforschung misszuverstehen und darüber genau dort zu verharren, wo man eigentlich nicht hinwollte - „schnorchelnd“ an der Oberfläche. Auch in Fallsupervisionen drohen ähnliche Fallen. Pseudotherapeutische Spekulationen enden nicht selten beim „Verzetteln“ in kleinen Details, die den Blick auf den Kern der Sache eher verstellen als erklären. Das richtige Maß Kein simples Unterfangen also, die passende Tiefe des „supervisorischen Tauchgangs“ auszuloten. Schließlich gilt es, den Bereich zwischen der Oberfläche und dem gefährlich grenzüberschreitenden Tiefgang herauszufinden und so auszunutzen, dass Supervision das ist, wofür sie eingekauft wird - ein Mittel zur Professionalisierung von Mitarbeitenden der Jugendhilfe. Dafür benötigt der/ die SupervisorIn ein hohes Maß an Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstreflexion (vgl. Winkens 2021, 52ff, 90). Hierbei ist der/ die SupervisorIn auch Modell für die SupervisandInnen. 428 uj 10 | 2022 Zwischen „Schnorcheln“ und „Tiefseetauchen“ Die Grenzen sind fließend und durchaus individuell. Einzelsupervisorische Settings mögen eine andere Tiefe zulassen als die Begleitung eines gesamten Teams beispielsweise in einer Konfliktklärung, die - wie bereits ausgeführt - immer auch die Gefahr des „Vorführens“ Einzelner vor dem Team oder der Organisation beinhaltet. Das Erreichen dieser Grenzen dürfte nebenher bemerkt fast unvermeidbar sein, ja möglicherweise sogar hilfreich - denn wie können Grenzen erkannt und gewahrt werden, wenn wir uns nicht trauen, an sie heranzutreten? Unbedingt nötig ist jedoch der Respekt individueller Grenzen sowohl einzelner AkteurInnen als auch gesamter Systeme. Ohne die Wahrung derselben droht Supervision in pseudotherapeutische „Gewässer“ abzudriften, die schlussendlich sowohl ethische Standards als auch den professionellen Kontext vermissen lassen. Rückbezug Die oben beschriebenen Erfahrungen mit Supervision illustrieren anschaulich, wieso sie nur eingeschränkt hilfreich gewesen sein können. Im ersten Beispiel ist es dem Supervisor auch langfristig nicht gelungen, das empathische „Verstehenwollen“ der belastenden Rahmenbedingungen in eine kritische Distanz zu bringen, die es ermöglicht hätte, den SupervisandInnen auch einen Spiegel vorzuhalten - „Was hat all das mit euch zu tun? Wo vergebt ihr Chancen zur Mitgestaltung ebenjener Bedingungen? Wie bleibt ihr handlungsfähig trotz des vorgegebenen Rahmens? “ In der Folge etablierte sich nicht nur eine depressive Grundstimmung im betroffenen Team, die sich natürlich auch auf die Stimmung unter den KlientInnen auswirkte und somit das Drehen im Teufelskreis beschleunigte, sondern auch die Idee, man sei Gefangener der Umstände und kaum verantwortlich für die beschriebene Misere. Im zweiten Beispiel erkannte die Supervisorin offensichtlich nicht die gestellte Falle, den auf der Hand liegenden Konflikt zwischen zwei Teammitgliedern zwar korrekterweise als die Arbeit des gesamten Teams beeinflussend zu erkennen, aber therapeutisierend auf die mutmaßlich guten Gründe der Mitarbeiterin für ihr Verhalten zu fokussieren, ohne die Wahrnehmung als solche kritisch zu hinterfragen und somit die Klärung zu öffnen für das gesamte Setting. Im weiteren Verlauf manifestierte sich der Konflikt und nötigte andere Teammitglieder, Position zu beziehen; schlussendlich nahm die „beschuldigte“ Mitarbeiterin eine wichtige, gleichwohl sehr undankbare Rolle als „Ursache jeglichen Übels“ ein. Unnötig zu erwähnen, dass sie diesem Team über kurz oder lang den Rücken kehrte. Ausblick Schafft Supervision es, sich in dem idealtypisch beschriebenen Bereich „zwischen den Ebenen“ zu bewegen, so bereitet sie den Boden für fachlich distanzierte Betrachtung professioneller Fragestellungen der Jugendhilfe, für Selbst- und Fremdreflexion, für die Entwicklung eines angemessenen Umgangs mit spezifischen Belastungen und in der Folge für die Gesunderhaltung der supervidierten Menschen. Idealerweise schafft sie es, Fachkräfte davon zu überzeugen, dass die aufgewendete Zeit wertvoll im Sinne des inhaltlichen Fortkommens ist, obgleich „Reflexion immer das praktische Handeln ausbremst“, wie Herbert Winkens treffend formuliert (Winkens 2021, 59). Gelungene Supervision mutet hierbei ihrer Kundschaft durchaus zu, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen und kalkuliert ein, dass Wohlbefinden nach einer Supervisionseinheit nicht nur nicht garantiert gesteigert ausfällt, sondern manchmal sogar gedämpft - niemand hat je behauptet, dass supervisorische Beratung eine „Wellness-Veranstaltung“ sei. Elementar ist jedoch, dass die zumindest in Kauf genommenen Zumutungen stets mit größtmöglicher Wertschätzung und der Maxime des „Verstehenwollens“ 429 uj 10 | 2022 Zwischen „Schnorcheln“ und „Tiefseetauchen“ in Kauf genommen werden (vgl. Winkens 2021, 60ff ). Wertschätzung betrifft an der Stelle im Übrigen auch die Würdigung des im Supervisionssetting dargestellten Problems und der daraus resultierenden Belastung. Insofern kann Supervision durchaus eine Weile wie „professionell begleitetes Jammern“ für Außenstehende wirken - sofern sie hierin nicht verharrt und der/ die SupervisorIn über ausreichend Weitblick sowie genügend Handwerkszeug verfügt, die Beratungsatmosphäre über kurz oder lang in konstruktivere Fahrwasser zu lenken. Oder andersherum: „Halte Dich an der beklagten vordergründigen Symptomatik so lange wie möglich auf“ (Winkens 2021, 131), wenn Supervision zum Scheitern verurteilt sein soll. Kurz vor Schluss … Es ist offenkundig alles eine Frage der passenden „Wassertiefe“. Inwieweit es dem Autor gelungen ist, diese zwischen schnorchelndem Dümpeln an der Oberfläche und Apnoetauchen in der Tiefsee auszuloten und einen kleinen Einblick in die bunte Unterwasserwelt systemischer Supervision in der Jugendhilfe zu ermöglichen, mag der/ die geneigte (und hoffentlich wohlgesonnene) LeserIn selbst beurteilen. Sebastian Rumohr E-Mail: rumohr@haus-st-stephanus.de Literatur Gabriel, T. (2007): Wirkungen von Heimerziehung. Perspektiven der Forschung. In: Struzyna, K. H., Gabriel, T., Wolf, K., Macsenaere, M., Finkel, M., Munsch, C. (Hrsg.): Beiträge zur Wirkungsorientierung von erzieherischen Hilfen. Wirkungsorientierte Jugendhilfe. ISA Planung und Entwicklung, Münster, 14 - 18 Macsenaere, M., Esser, K. (2015): Was wirkt in der Erziehungshilfe? 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München/ Basel Winkens, H. (2021): Zehn Kennzeichen von Supervision in der Jugendhilfe. Ein Lehrbuch für PraktikerInnen. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel - Anzeige -