unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2022.art66d
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7411+12
Durch die Covid-19-Pandemie erheblich verschärft: Kinder- und Jugendarmut in Deutschland
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Christoph Butterwegge
Seit vielen Jahren sind Kinder und Jugendliche hierzulande in höherem Maße als die meisten übrigen Alterskohorten von Armut betroffen. Kaum ein sozialwissenschaftlicher Fachterminus ist ähnlich umstritten wie dieser. Nicht bloß sehr Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche halten ihn sogar für einen politischen Kampfbegriff (Butterwegge 2021, 8ff). Armut ist auch kein Problem, das alle Menschen gleichermaßen (be)trifft und das sie auf dieselbe Weise wahr- und ernst nehmen. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein Phänomen, das auf einer gesellschaftlichen Zuschreibung basiert, dessen Bewertung also von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen und den herrschenden Wertvorstellungen, aber zusätzlich vom Erfahrungshorizont, der gesellschaftlichen Stellung sowie dem weltanschaulichen, religiösen und politischen Standort des / der BetrachterIn abhängen.
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454 unsere jugend, 74. Jg., S. 454 - 464 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art66d © Ernst Reinhardt Verlag Durch die Covid-19-Pandemie erheblich verschärft: Kinder- und Jugendarmut in Deutschland Seit vielen Jahren sind Kinder und Jugendliche hierzulande in höherem Maße als die meisten übrigen Alterskohorten von Armut betroffen. Kaum ein sozialwissenschaftlicher Fachterminus ist ähnlich umstritten wie dieser. Nicht bloß sehr Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche halten ihn sogar für einen politischen Kampfbegriff (Butterwegge 2021, 8ff). Armut ist auch kein Problem, das alle Menschen gleichermaßen (be)trifft und das sie auf dieselbe Weise wahr- und ernst nehmen. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein Phänomen, das auf einer gesellschaftlichen Zuschreibung basiert, dessen Bewertung also von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen und den herrschenden Wertvorstellungen, aber zusätzlich vom Erfahrungshorizont, der gesellschaftlichen Stellung sowie dem weltanschaulichen, religiösen und politischen Standort des/ der BetrachterIn abhängen. Klärung des Armutsbegriffs und Konzeptualisierung der Kinderarmut Es gibt daher auch keine allgemein verbindliche Definition, selbst in der Fachliteratur vielmehr bloß den Versuch, die komplexen Zusammenhänge durch die Unterscheidung zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut andererseits zu erhellen. Von absoluter Armut ist betroffen, wer seine Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also der für das Überleben notwendigen Nahrungsmittel, sicheren Trinkwassers, einer den klimatischen Bedingungen angemessenen Kleidung, einer Wohnung und/ oder medizinischer Basisversorgung entbehrt. Während niemand in Deutschland bezweifelt, dass es im globalen Süden (extreme) Armut gibt, von Prof. Dr. Christoph Butterwegge Jg. 1951; 1998 - 2016 Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln mit den Forschungs- und Lehrschwerpunkten „Armut und soziale Ausgrenzung“, „Sozialstaatsentwicklung“,„Ursachen und Erscheinungsformen der Ungleichheit“, „Folgen der Covid-19-Pandemie“, „Rechtsextremismus, Rassismus und (Jugend-)Gewalt“, „Globalisierung“, „demografischer Wandel“ sowie „Migration und Integrationspolitik“; Butterwegge ist Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) an der Universität zu Köln. Foto: Wolfgang Schmidt 455 uj 11+12 | 2022 Kinder- und Jugendarmut in Deutschland wird seit Jahrzehnten mit Verve darüber gestritten, ob sie auch hier existiert. Obdachlose, total verelendete Drogenabhängige, Straßenkinder und ,Illegale‘, die man besser als illegalisierte MigrantInnen bezeichnet, gehören zu den Hauptbetroffenengruppen. Für 2018 lag die Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) bei 678.000 Wohnungslosen, darunter 441.000 anerkannten Flüchtlingen. Von den Wohnungslosen lebten 71.000 (30 %) mit PartnerInnen und/ oder Kindern zusammen. Die BAG W schätzte die Zahl der Kinder und minderjährigen Jugendlichen auf 19.000, was 8 % entsprach. Auf einen deutlich höheren Wert kam die Bundesregierung in dem am 12. Mai 2021 vorgelegten Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht: Bei knapp 21 % der wohnungslosen anerkannten Geflüchteten handle es sich um Familien (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2021, 349). Erheblich mehr Familien leben in überbelegten und zu engen Wohnungen, weil sie entweder keine für sie passende Bleibe finden, diese nicht bezahlen können oder trotz vorhandener Geldmittel auf einem angespannten Mietwohnungsmarkt keine Chance haben. Ein häufig ausgeblendetes, aber reales und bedrückendes Problem stellt es dar, wenn Minderjährige ohne Obdach bzw. festen Wohnsitz auf der Straße leben. Gelegentlich als „Straßenkinder“ bezeichnet, führt der Begriff in die Irre, weil es sich meistenteils um Jugendliche (14 - 17 Jahre) und Heranwachsende (18 - 24 Jahre) handelt, die es in der Familie oder einem Heim nicht mehr ausgehalten haben und vorübergehend an Bahnhöfen, auf öffentlichen Plätzen, in Parks oder leerstehenden Gebäuden unterschlüpfen. Man kann von einer hohen Suchtgefährdung dieser Personengruppe ausgehen, ein gesichertes Wissen um deren Größe und Zusammensetzung bzw. um die Herkunft, die Motive und die Lebenslagen der Betroffenen gibt es de facto aber nicht (Füller/ Morr 2021, 52f ). Lebt einE absolut ArmeR am physischen Existenzminimum, so verfehlt einE relativ ArmeR das soziokulturelle Existenzminimum. Betroffen ist, wer seine Grundbedürfnisse befriedigen, sich jedoch aufgrund fehlender materieller Ressourcen vieles von dem nicht leisten kann, was die meisten Gesellschaftsmitglieder für ,normal‘ halten. Das beinhaltet für Erwachsene hierzulande bspw. die Möglichkeit, mal ins Restaurant, ins Kino oder ins Theater zu gehen, und für Kinder, mal in den Zoo, in den Zirkus oder auf die Kirmes zu gehen. Obwohl eine scheinbar ,mildere‘ Erscheinungsform des Armutsphänomens, führt relative Einkommensarmut zu sozialer Ausgrenzung und einem finanziell bedingten Mangel an Teilhabebzw. Partizipationsmöglichkeiten (Hauser 2016, 63). Während die absolute Armut eine existenzielle Mangelerscheinung ist, verweist die relative Armut auf den Wohlstand, der sie umgibt, und den Reichtum, der sie hervorbringt. Denn ursächlich dafür ist nicht etwa das Verhalten der Betroffenen, ausschlaggebend sind vielmehr die sozioökonomischen Verhältnisse, unter denen sie leben (müssen). Aufgrund einer EU-Konvention aus dem Jahr 1984 gelten Personen als relativ arm, wenn sie weniger als 60 % des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens (Armutsrisikoschwelle) zur Verfügung haben. Um die Unterschiedlichkeit der Haushaltsgrößen zu berücksichtigen, benutzt man sog. Äquivalenzskalen und berechnet damit ein bedarfsgewichtetes Einkommen. Aus dem Nettoeinkommen jenes Haushalts, dem eine Person angehört, wird auf diese Weise ihr Nettoäquivalenzeinkommen ermittelt, das ihren Lebensstandard mit dem anderer Personen unabhängig von deren Familienkonstellation vergleichbar macht. Kaum weniger umstritten als der Begriff „relative Armut“ selbst ist das Konzept ihrer empirischen Erfassung und Messung. Denn es ist ausgesprochen schwierig, eine Armutsgrenze zu bestimmen, die als Schwelle der bürgerlichen Respektabilität gelten kann. Unterschei- 456 uj 11+12 | 2022 Kinder- und Jugendarmut in Deutschland den lassen sich Ressourcen- und Lebenslagenansätze als Zugänge, über die man Armut im Kinder- und Jugendalter erfassen kann (Zimmermann 2000, 65ff; Chassé 2020). Ressourcenansätze, die zu eruieren suchen, über welche Mittel ein Mensch verfügt, um seine Fortexistenz zu gewährleisten, kaprizieren sich meist auf dessen finanzielle Situation, statt alle Dimensionen der Existenzsicherung zu berücksichtigen. Monetäre Aspekte stehen im Mittelpunkt, was zu einer ökonomistischen Verkürzung der Untersuchungsperspektive führen kann. Besonders für Kinder ist Armut jedoch mehr, als über wenig Geld zu verfügen. Sie bedeutet auch, persönlicher Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten beraubt, in fast allen Lebensbereichen benachteiligt und (etwa im Hinblick auf Bildung und Kultur, Gesundheit, Wohnen und Wohnumfeld oder Freizeit und Konsum) unterversorgt zu sein. Armut entwürdigt die von ihr Betroffenen nicht bloß, sondern schließt diese auch von der aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben weitgehend aus. Wer bereits in jungen Jahren sozial deklassiert und ausgegrenzt wird, vermag soziale, kulturelle und Bildungsprozesse womöglich nie mehr im Sinne seiner persönlichen Emanzipation zu nutzen. Kinder haben in der Regel kein eigenes Einkommen, und das der erwachsenen Haushaltsmitglieder erreicht sie nicht unbedingt anteilig. Insofern sind Lebenslagenansätze besonders im Hinblick auf die Erfassung von Kinderarmut vorzuziehen, auch weil die jüngsten Familienmitglieder weder die Einkommensverhältnisse ihrer Eltern genau kennen noch wissen können, welch zentrale Bedeutung deren finanzieller Situation für ihre Lebenslage zukommt. Vielmehr kommt es darauf an, möglichst präzise Informationen über die Lebensbedingungen zu erhalten, unter denen Familien und Kinder aufwachsen. Kinder- und Jugendarmut ist ein mehrdimensionales Problem, das ökonomische (monetäre), soziale und kulturelle Aspekte umfasst. In diesem Sinne arm zu sein, bedeutet für die jungen Menschen vor allem: ➤ Mittellosigkeit und Verbzw. Überschuldung als Folge mangelnder Erwerbsfähigkeit, fehlender Arbeitsmöglichkeiten oder unzureichender Entlohnung; ➤ einen dauerhaften Mangel an unentbehrlichen und allgemein für notwendig erachteten Gütern, die es jungen Menschen ermöglichen, ein halbwegs ,normales‘ Leben zu führen; ➤ strukturelle Benachteiligungen in unterschiedlichen Lebensbereichen, etwa Wohnen, Freizeit und Sport; ➤ den Ausschluss von (guter) Bildung, (Hoch-)Kultur und sozialen Netzwerken, welche für die gesellschaftliche Inklusion nötig sind; ➤ eine Vermehrung der Existenzrisiken, Beeinträchtigungen der Gesundheit und eine Verkürzung der Lebenserwartung; ➤ einen Verlust an gesellschaftlicher Wertschätzung, öffentlichem Ansehen und damit meistens auch individuellem Selbstbewusstsein; ➤ Gefühle der Ohnmacht sowie Hilf- und Einflusslosigkeit in allen Entscheidungsbereichen des Lebens. Kinder- und Jugendarmut als Erscheinungsform sozioökonomischer Ungleichheit Während die Bücher und Broschüren zur Kinderarmut inzwischen ganze Bibliotheken füllen (Weimann 2015; März 2017; Hübenthal 2018; Rahn/ Chassé 2020), haben Studien zur Jugendarmut nach wie vor Seltenheitswert. Entweder nimmt man die armen Jugendlichen nicht wahr, weil das bei uns vorherrschende Armutsbild von absoluter Not und Elend im globalen Süden geprägt ist. Oder der manchmal geradezu voyeuristische Blick vieler BeobachterInnen verweilt auf den Kleinkindern, die als Prototyp der ,würdigen‘ Armen gelten, weil man sie nicht selbst für ihre soziale Misere verantwortlich machen kann. Dabei wirkt 457 uj 11+12 | 2022 Kinder- und Jugendarmut in Deutschland Armut gerade in der Adoleszenz demütigend, deprimierend und demoralisierend, weil diese Lebensphase für das Selbstbewusstsein der Betroffenen von entscheidender Bedeutung ist. Unterversorgungslagen führen leicht zur sozialen Isolation der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen. Denn sie unterliegen viel stärker als Erwachsene dem Druck der Werbe- und Konsumgüterindustrie, die ihnen einzureden versucht, dass ein „cooler Typ“ nur ist, wer die teuerste Markenkleidung, das neueste Tablet oder das tollste Smartphone besitzt. Schule und Jugendhilfe können nur in beschränktem Maße dazu beitragen, befriedigende Lebensverhältnisse für Minderjährige und ein Höchstmaß an Chancengleichheit zwischen Jugendlichen unterschiedlicher sozialer wie ethnischer Herkunft zu schaffen. Kehrseite der relativen Armut ist der Reichtum. Dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich hier wie anderswo seit geraumer Zeit vertieft, ist Ausdruck einer wachsenden sozioökonomischen Ungleichheit. Dies gilt auch im Hinblick auf die Einkommens- und Vermögenssituation von Familien und Kindern. Einerseits lebten 20,8 % der Kinder und Jugendlichen 2021 unterhalb der EU-offiziellen Armuts(gefährdungs)grenze. Andererseits gab es auch noch nie so viele reiche Kinder und Jugendliche, denen ihre vermögenden Eltern - oft schon kurz nach ihrer Geburt - aus steuerrechtlichen Gründen bspw. einen Teil ihrer Wertpapiere, Unternehmensanteile und Immobilien geschenkt hatten (Butterwegge/ Butterwegge 2021, 63ff ). Von den steuerfreien Unternehmensübertragungen der Festsetzungsjahre 2011 bis 2014 im Wert von 144 Milliarden Euro, für die Altersangaben verfügbar sind, fielen 37 Milliarden Euro an Minderjährige; 90 Kinder im Alter von unter 14 Jahren, denen ein Vermögen von mindestens 20 Millionen Euro übertragen wurde, erhielten zusammen 29,4 Milliarden Euro, was im Durchschnitt mehr als 327 Millionen Euro pro Kind ergibt (Bach/ Mertz 2016, 812). Wie kaum eine andere Zahl illustrieren diese Daten, welche enormen Vermögen manchen Sprösslingen von Unternehmerfamilien in den Schoß fallen, und zwar, noch bevor ihre Eltern tot sind. Da kann man mit Fug und Recht von „Kinderreichtum“ sprechen, obwohl dieser Begriff im Deutschen paradoxerweise ausschließlich für große Familien und Länder mit einer besonders jungen Bevölkerung verwendet wird. In einer Wohlstands- und Konsumgesellschaft wie der unseren ist Armut für Kinder und Jugendliche manchmal schwerer zu ertragen als in einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern nur das Allernötigste bietet. Da junge Menschen unter dem Einfluss ihrer Peergroup versuchen, durch das Tragen teurer Markenkleidung oder den Besitz immer neuer, möglichst hochwertiger Konsumgüter ,mitzuhalten‘, kann Armut für Mitglieder dieser Altersgruppe zudem noch beschämender als für Erwachsene sein. Wird bspw. ein Schüler von seinen KlassenkameradInnen ausgelacht, weil er etwa im tiefsten Winter mit Sandalen auf dem Pausenhof steht und Sommerkleidung trägt, ist das für ihn wahrscheinlich schlimmer als die ihn peinigende Kälte. Auch weniger dramatische Unterversorgungslagen führen leicht zur sozialen Isolation der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen. Zahlreiche Untersuchungen gelangten um die Jahrtausendwende zu dem Ergebnis, dass arme Kinder als Hauptleidtragende des neoliberalen Globalisierungs- und Individualisierungsprozesses, der Erosion des traditionellen Familienmodells mit einer Auflösung der bürgerlichen „Normalfamilie“ und der Deregulierung des Arbeitsmarktes mit einer Aushöhlung des „Normalarbeitsverhältnisses“ zu betrachten sind (Butterwegge 2000; Beisenherz 2002; Palentien 2004). In der Medienöffentlichkeit blieb (Kinder-)Armut jedoch weiterhin ein Tabuthema, bis es durch das Inkrafttreten von Hartz IV am 1. Januar 2005 für kurze Zeit zu 458 uj 11+12 | 2022 Kinder- und Jugendarmut in Deutschland einem Topthema in den TV-Talkshows avancierte, ohne dass die politisch Verantwortlichen wirksame Gegenmaßnahmen ergriffen hätten (März 2017). In einer so reichen Gesellschaft wie der unseren ist Armut nicht gott- oder naturgegeben, sondern vorwiegend systemisch, d. h. durch die bestehenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen bedingt (Butterwegge 2020, 325ff ). Diesen können sich besonders sozial vulnerable Personengruppen schwer entziehen, weil sie aufgrund ihrer subalternen Position in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung strukturell benachteiligt werden. Dass die Armut von Kindern und Jugendlichen in der jüngsten Vergangenheit eher weiter zunahm, war einer Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen sowie einer von KritikerInnen wie seinen HauptnutznießerInnen als systematische Demontage erlebten Restrukturierung des Sozialstaates geschuldet. Die neoliberalen Reformen der „Agenda 2010“ von Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Demontage des Sozialstaates durch die sog. Hartz-Gesetze (Butterwegge u. a. 2008, 48ff; ders. 2018, 66ff ) haben für eine Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse und eine Verringerung der sozialen Sicherheit gerade für junge Menschen gesorgt. Die unsozialen Folgen der Covid-19-Pandemie für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende Mit 16,6 % erreichte die Armuts(gefährdungs)quote im Pandemiejahr 2021 einen Rekordstand im vereinten Deutschland. Das entsprach 13,8 Millionen Betroffenen. Sehr hohe Armutsrisiken wiesen Alleinerziehende (41,6 %), Menschen ohne deutschen Pass (35,3 %) bzw. mit Migrationshintergrund (28,1 %) und Familien mit drei oder mehr Kindern (31,6 %) auf. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren waren mit 20,8 % überdurchschnittlich betroffen, mit 25,5 % noch stärker allerdings Heranwachsende und junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren. Von den 13,863 Millionen Minderjährigen lebten 1,759 Millionen (unverheiratete) Kinder und Jugendliche 2021 in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, die oft als „Hartz-IV-Haushalte“ bezeichnet werden. Während der Anteil unter den Kindern und Jugendlichen, die einkommensarm bzw. armutsbedroht waren, noch nie so hoch wie heute war, ist die Zahl der Minderjährigen im Hartz-IV-Bezug während der vergangenen Jahre um etwa ein Viertel gesunken. Wie ist das auf den ersten Blick paradoxe Auseinanderdriften der zwei Kernindikatoren für die Höhe der Kinderarmut - Armutsrisikoquote und Hartz-IV-Quote - zu erklären? Bundesregierungen unterschiedlicher parteipolitischer Zusammensetzung haben die Kinder- und Jugendarmut in der Vergangenheit ,bekämpft‘, indem sie die Hartz-IV-Statistik zu bereinigen suchten. So fielen etwa durch die Inanspruchnahme des im Rahmen des sog. Starke-Familien-Gesetzes erhöhten und entbürokratisierten Kinderzuschlages sowie des gleichfalls reformierten Wohngeldes viele Alleinerziehende mitsamt ihren Kindern aus dem Hartz-IV-Bezug heraus, ohne dass ihre Familie durch den relativ geringen Einkommenszuwachs die Armutsrisikoschwelle überwanden. Während der Covid-19-Pandemie ließen sich Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus und Lernrückstände für Kinder und Jugendliche auch beim Wechsel- oder Distanzunterricht im Lockdown leichter vermeiden, wenn die Familie ein gut ausgestattetes Eigenheim bewohnte, statt wie Flüchtlingsfamilien in einer Gemeinschaftsunterkunft ohne WLAN-Anschluss zu leben. Die ausgeprägte Ungleichheit der Lebensbedingungen und Wohnverhältnisse junger Menschen wurde in der pandemischen Ausnahmesituation nicht bloß deutlicher sichtbar, sondern teilweise auch drastisch verschärft. 459 uj 11+12 | 2022 Kinder- und Jugendarmut in Deutschland Über zwei Jahre lang hat die Pandemie das Leben der Minderjährigen hierzulande mit wenigen Unterbrechungen beherrscht, und zwar von morgens bis abends ebenso wie nachts, weil viele Kinder und Jugendliche nicht (gut) ein- oder durchschlafen konnten. Zu den Existenzsorgen armutsgefährdeter Familien gesellte sich bei ihnen nun die für sensible ZeitgenossInnen besonders unangenehme Infektionsangst. Außerdem beeinträchtigten Arbeitsplatzverluste, Phasen der Kurzarbeit sowie Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen das Familienklima. Die nichtakademische, ohnehin stark von Prekarisierung bedrohte Jugend litt während der Covid-19-Pandemie unter einem signifikanten Rückgang des Lehrstellenangebots in krisengeschüttelten Branchen und Betrieben. Offenbar folgte der „Generation Praktikum“, die zur Jahrtausendwende mit unbezahlten oder minderbezahlten Tätigkeiten abgespeist wurde, statt sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu erhalten, im Zeichen der Coronakrise eine „Generation kein Praktikum“, der 2020/ 21 weder genug Ausbildungsnoch genug Praktikumsplätze zur Verfügung standen. Deshalb machte bald die Warnung vor einer „verlorenen Generation“ die Runde. Seit der Vereinigung von BRD und DDR begannen in keinem Jahr so wenig junge Menschen eine Berufsausbildung wie 2020, denn die Zahl der neu geschlossenen Ausbildungsverträge sank um fast 10 % gegenüber dem Vorjahr. Zwar waren im Januar 2021 nur knapp ein Zehntel mehr 15bis 24-Jährige als (jugend)arbeitslos registriert als im selben Monat des Vorjahres, zu vermuten ist allerdings, dass sich viele Heranwachsende nicht bei den Jobcentern gemeldet oder aus der Not eine Tugend gemacht und ihre Schullaufbahn verlängert bzw. sich einen Studienplatz gesucht hatten. Denkt man an die künftigen Berufsaussichten der jungen Leute, erhöhte sich die Ungleichheit zwischen der akademischen und der nichtakademischen Jugend dadurch weiter. Obwohl der Bund ein Programm „Ausbildungsplätze sichern“ auflegte, das es der Agentur für Arbeit ermöglichte, jenen Unternehmen, die weniger als 250 (später: 500) Beschäftigte hatten und trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten verstärkt ausbildeten, eine „Azubi-Prämie“ in Höhe von maximal 3.000 Euro bzw. ab 1. Juni 2021 sogar 6.000 Euro pro Lehrstelle zu zahlen, fiel es SchulabgängerInnen während der Pandemie schwerer als früheren Jahrgängen, einen für sie passenden Ausbildungsplatz zu finden. 67.800 junge Menschen gingen im Jahr 2021 leer aus. Wo die Einkommen sowieso niedriger sein werden als bei akademisch Gebildeten und hochqualifizierten Fachkräften, wurde der Start ins Berufsleben dadurch zusätzlich erschwert, verzögert oder verhindert. Auch die akademische Jugend wurde sozial und ökonomisch stärker gespalten. Da nur 12 % der 2,8 Millionen Studierenden vor der Pandemie staatliche Unterstützung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög) erhielten und mehr als zwei Drittel von ihnen einen Nebenjob hatten, gehörten sie größtenteils zu den Krisenopfern. Studierende, die von ihren Eltern nicht unterstützt werden (können) und/ oder mit ihrem Bafög-Satz nicht auskamen, verloren wegen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020, daraus resultierender Geschäftsaufgaben und Betriebsschließungen häufig ihren Nebenjob (z. B. in der Gastronomie), der ihren Lebensunterhalt bis dahin mit gesichert hatte. Da sie weder Kurzarbeiternoch Arbeitslosengeld I oder II erhalten konnten, waren akuter Geldmangel und manchmal der Abbruch des Studiums die Folge, es sei denn, dass es ihnen gelang, einen Aushilfsjob im (Lebensmittel-)Einzelhandel oder bei einem Lieferdienst zu bekommen. Wohnten notleidende Studierende nicht ohnehin dort, kehrten manche von ihnen während der Pandemie aus Kostengründen ins Elternhaus zurück. Die beliebte und preiswerte Wohnform der studentischen WG wies eine höhere Ansteckungsgefahr auf, weil man 460 uj 11+12 | 2022 Kinder- und Jugendarmut in Deutschland seinen KommilitonInnen und deren BesucherInnen in der Gemeinschaftsküche schlecht aus dem Weg gehen kann. Ihre zumeist relativ kleinen Zimmer, die Studierenden sonst hauptsächlich als Schlaf- und Ruheraum dienen, wurden angesichts der besonders lange geschlossenen Hochschulen zum permanenten Arbeitsplatz umfunktioniert. Auch war der Gang zur Lebensmitteltafel eine mögliche Alternative zur ebenfalls dichtgemachten Mensa, wo viele Studierende vorher preiswert gegessen hatten. Wurden die Studierenden zuerst auf zinslose Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau verwiesen, so konnten sie später die Überbrückungshilfe aus einem Notfallfonds des Bundes in Höhe von maximal 500 Euro erhalten. Dies war aber nur dann der Fall, wenn sie weniger als diesen Betrag auf ihrem Konto hatten. Viele der Anträge wurden abgelehnt, meistenteils mit der Begründung, dass zwar eine finanzielle Notlage bestehe, diese aber schon vor der Pandemie existiert habe (Meyer auf der Heyde 2020, 31). Hieraus zog Achim Meyer auf der Hyde den Schluss, dass die Studienfinanzierung eines Teils der KommilitonInnen aus der unteren Mittelschicht prekär sei, weil ihre Familien den ihnen zustehenden Elternunterhalt nicht leisten könnten. Man brauche deshalb eine Strukturreform der staatlichen Studienfinanzierung und ein Bafög, das existenzsichernd sei, wieder mehr Studierende erreiche und für nationale Krisensituationen einen generellen Öffnungsmechanismus vorhalte, meinte der damalige Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks (DSW). Für zwei finanziell nicht auf Rosen gebettete Heranwachsende, Marius Sackers und Jens Jaschik (2020, 125), zeichnete sich ein wegen der Infektionsgefahr riskanter Job beim Spargelstechen anstelle des Sommersemesters 2020 ab, während sie die damit unvergleichliche Luxussituation der Studierenden aus „besseren Kreisen“ in dem Beitrag für einen Sammelband über die Covid-19-Pandemie folgendermaßen beschrieben: „Für die Kinder von reichen Eltern ist die Corona-Krise wie Semesterferien mit Einschränkungen. Die Miete wird von Mama und Papa bezahlt, arbeiten müssen sie während des Studiums sowieso nicht.“ Die sonst üblichen Abiturfeiern, Schüleraustausche und Auslandssemester, bei denen man leicht neue Freundschaften schließen kann, entfielen während der Pandemie ganz. Man unterschätzt meistenteils die Bedeutung des einer Alterskohorte wie den „68ern“ gemeinsamen Erfahrungsschatzes für das Leben, die Einstellung und das Weltbild der betreffenden Personen. So dürfte das einschneidende Schicksal der pandemischen Ausnahmesituation, des wiederholten Lockdowns und der vielfältigen Einschränkungen des ,normalen‘ Lebens gerade Kinder, Jugendliche und Heranwachsende stark prägen. Man kann von einer „Generation Corona“ sprechen, weil das Virus ihr Aufwachsen erheblich beeinträchtigt und die Pandemie als biografische Zäsur gewirkt, weil sie mehr als Erwachsene vorübergehend aus der Bahn geworfen wurde und sich ihr der Kontaktmangel als kollektive Schlüsselerfahrung möglicherweise für Jahrzehnte ins Gedächtnis gebrannt hat. Gleichwohl widerspricht der Marburger Erziehungswissenschaftler Benno Hafeneger (2021, 37) der These von einer verlorenen Corona-Generation, und zwar mit der Begründung, dass es die Jugend als homogene Gruppe gar nicht gebe, sondern höchstens „Jugenden“ im Plural, wobei er altersbezogene, soziale und kulturelle Differenzierungen zu erkennen glaubt: „Dazu zählen insbesondere die unterschiedlichen sozialen Lebens- und Wohnbedingungen, häuslichen und materiellen Ressourcen sowie die Zeitbudgets von Erwachsenen mit mehr oder weniger schützenden Umgebungen und sicheren Beziehungen.“ Dieter Dohmen und Klaus Hurrelmann vertreten die Auffassung, dass der Begriff „Generation Corona“ immer dann vorschnell benutzt werde, 461 uj 11+12 | 2022 Kinder- und Jugendarmut in Deutschland wenn man irgendeine ungünstige Entwicklung kritisieren wolle. Die beiden Bildungsforscher fassen das „geflügelte Schlagwort“ sehr viel enger und verwenden den Terminus nur, wenn es um „grundlegendere und nachhaltige strukturelle Einschränkungen bzw. Verschlechterungen der Zukunftschancen einer größeren Gruppe von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ geht, die sich ursächlich auf die Gegebenheiten der Covid-19-Pandemie zurückführen lassen. Dohmen und Hurrelmann (2021, 280) weisen auf die Verstärkung der im Bildungssystem ohnehin existierenden sozialen Segregation hin und leiten daraus eine unterschiedlich starke Belastung von SchülerInnen aus mehr und solchen aus weniger begüterten Familien ab: „Egal aus welcher Perspektive man die Auswirkungen der Corona- Pandemie auch betrachtet, die Ergebnisse passen zusammen und verstärken den Befund, dass es vor allem die Kinder und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien sind, die von der Pandemie überproportional beeinträchtigt sind und somit Gefahr laufen, zur Generation Corona zu zählen.“ Je schwächer die Finanzkraft, der soziale Status und die physische bzw. psychische Fitness eines Menschen war, umso stärker traf ihn in der Regel die Coronakrise. Der Pädagoge Reinhold Gravelmann (2022, 66ff ) hat dies für mehrere Gruppen junger Leute in prekären Lebenslagen gezeigt: Kinder armer Eltern, Jugendliche mit Migrationshintergrund, junge Geflüchtete, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen bzw. körperlichen, sensorischen, kognitiven oder seelischen Beeinträchtigungen sowie jene, die sich in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (Vollzeitpflege, Heimerziehung und andere betreute Wohnformen sowie sozialpädagogische Einzelbetreuung) befanden. „Gleichgültig, ob als Jugendliche mit einem Migrationshintergrund, als junge Menschen mit einer Behinderung oder aus Armutsverhältnissen oder ob sie sogar von einer Kumulation dieser Lebenslagen betroffen sind, für diese jungen Menschen stellte die Pandemie eine deutlich erhöhte Herausforderung mit negativen Implikationen dar. Auch die Nachwirkungen der Pandemie etwa in der Schule oder beim Berufseinstieg, auf die Integration in die Arbeitswelt sowie bei den zu erwartenden Sparmaßnahmen zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte werden sie in besonderem Maße treffen“ (ebd., 79f ). Strategien zur Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut Da die Kinderarmut allenthalben öffentlich beklagt, aber nicht energisch bekämpft wird, sollte zunächst ein politisches Klima geschaffen werden, das ihre „strukturelle Unsichtbarkeit“ beendet, von der Daniel März (2017, 14) spricht: „Kindheit in Armut kann sich zwar des Mitgefühls ihrer gesellschaftlichen Umwelt gewiss sein, jedoch nicht eines hinreichenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungswillens.“ Nötig sind in erster Linie mehr Sensibilität für aktuelle Prekarisierungs-, Marginalisierungsbzw. Pauperisierungsprozesse sowie eine höhere Sozialmoral, die aufgrund der Wohnungsnot und des Mietwuchers in Großstädten und Ballungsgebieten allmählich bis in die Mittelschicht reichende Desintegrations-, Exklusions- und Deprivationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift. Weil die Entstehung von Kinder- und Jugendarmut nicht monokausal zu begreifen ist, sondern multiple, teilweise eng miteinander verknüpfte Ursachen hat, ist sie auch nur mehrdimensional zu bekämpfen. Armutsbekämpfung sollte auf sämtlichen Ebenen des föderalen Systems (Bund, Länder und Kommunen) sowie allen dafür geeigneten Politikfeldern ansetzen, auch wenn im Folgenden bloß einige ausführlich behandelt werden können. Nur durch eine konzertierte Aktion im Bereich der Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik, der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, der Sozial- und Gesundheitspolitik, der Familien- 462 uj 11+12 | 2022 Kinder- und Jugendarmut in Deutschland politik, der Bildungspolitik sowie der Wohnungs-, Wohnungsbau- und Stadtentwicklungspolitik sind dauerhafte Erfolge möglich. Dabei müssen auch Landes- und Kommunalpolitik mehr Verantwortung übernehmen (Baum 2003; Gintzel u. a. 2008; Lutz 2010). Je umfassender die Maßnahmen zur Verringerung bestehender und/ oder zur Verhinderung der Entstehung neuer Kinderarmut angelegt und je besser sie aufeinander abgestimmt sind, desto eher ist dem Problem beizukommen. Auch die Forderung des Grundgesetzes nach Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist bisher unerfüllt. Dies gilt besonders für Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien, die sich in den Großstädten und Regionen wie Berlin, dem Ruhrgebiet oder Bremen/ Bremerhaven konzentrieren. Deshalb müssten solche Regionen durch finanzielle Unterstützung des Bundes befähigt werden, ihre soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur so weit zu entwickeln, dass die dort extrem hohe Kinder- und Jugendarmut sinkt. Nur wenn genügend Kindertagesstätten, gut ausgestattete Schulen (mit besser ausgebildetem und mehr Lehrpersonal, SchulsozialarbeiterInnen und SchulpsychologInnen) sowie interessante Freizeitangebote (von Jugendzentren über Bibliotheken bis zu Museen) vorhanden sind, kann verhindert werden, dass ein Großteil der nachwachsenden Generation unterversorgt und perspektivlos bleibt. Es gibt zwar kein Patentrezept, aber fünf Kernelemente eines integrierten Gesamtkonzepts, die sämtlich mit kleinem „g“ bzw. mit großem „G“ beginnen: ein gesetzlicher Mindestlohn ohne Ausnahmen und in existenzsichernder Höhe, eine Ganztagsbetreuung für alle Klein- und Schulkinder, eine Gemeinschaftsschule, eine soziale Grundsicherung, die ihren Namen im Unterschied zu Hartz IV verdient, weil sie bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei ist, d. h. ohne Sanktionen auskommt, und eine Großoffensive gegen Kinder- und Jugendarmut. 1. Kinder und Jugendliche sind arm, wenn ihre Familien bzw. ihre Mütter arm sind bzw. kein ausreichend hohes (Erwerbs-)Einkommen erzielen (können). Deshalb fängt die Bekämpfung der Familienarmut im Erwerbsleben an. Nur durch einen gesetzlichen Mindestlohn in existenzsichernder Höhe und ohne Ausnahmen lässt sich der Niedriglohnsektor, das Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien-, Kinder- und Jugendarmut, zurückdrängen. Der ab 1. Oktober 2022 geltende Mindestlohn in Höhe von 12 Euro brutto pro Stunde erscheint zwar als Meilenstein auf dem Weg zur erfolgreichen Armutsbekämpfung, verhindert aber höchstens eine weitere Lohnspreizung und dichtet den Niedriglohnsektor nach unten ab, ohne ihn zu beseitigen, was nötig wäre, um Kinderarmut und soziale Ausgrenzung nachhaltig zu bekämpfen. GeringverdienerInnen, die in einer Großstadt mit den heute üblichen hohen Mieten wohnen, haben praktisch keine Chance, der Hartz-IV-Abhängigkeit zu entkommen. Sie müssen nach wie vor die Grundsicherung für Arbeitsuchende in Anspruch nehmen und den entwürdigenden Gang zum Jobcenter antreten. Beseitigt werden müssten die junge Menschen treffenden Ausnahmen, damit der Mindestlohn für Beschäftigte jeden Alters gleichermaßen gilt. 2. Noch immer fehlt zahlreichen Eltern in Deutschland eine Versorgung mit gut ausgestatteten öffentlichen Betreuungseinrichtungen, die in manchen europäischen Staaten fast flächendeckend existieren. Erheblich mehr Ganztagsschulen, die gebührenfrei zur Verfügung gestellte Kindergarten- und Hortplätze ergänzen sollten, hätten einen Doppeleffekt: Einerseits würden von Armut betroffene oder bedrohte Jugendliche umfassender betreut und systematischer gefördert, andererseits könnten ihre Eltern leichter als sonst einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, was sie finanzielle Probleme eher meistern ließe. Vornehmlich alleinerziehende Mütter - und 463 uj 11+12 | 2022 Kinder- und Jugendarmut in Deutschland im seltenen Ausnahmefall: Väter - würden befähigt, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, ohne hier wie dort Abstriche machen zu müssen. Durch die Ganztagsals Regelschule lassen sich psychosoziale Benachteiligungen insofern kompensieren, als eine bessere Versorgung der Kinder und Jugendlichen mit Nahrung (gemeinsame Einnahme des Mittagessens), eine gezielte Förderung leistungsschwächerer SchülerInnen, etwa bei der Erledigung von Hausaufgaben, und eine sinnvollere Gestaltung der nachmittäglichen Freizeit möglich werden. 3. So wichtig mehr und bessere öffentliche Ganztagsbetreuung für Jugendliche ist, so wenig reicht sie aus, um Bildung stärker von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. Gleichwohl stößt die öffentliche Reformdebatte selten bis zum eigentlichen Hauptproblem, der hierarchischen Gliederung des Schulwesens in Deutschland, vor. Wer von der Gesamtbzw. Gemeinschaftsschule für Kinder und Jugendliche aller Bevölkerungsschichten jedoch nicht sprechen will, sollte auch von der Ganztagsschule schweigen. Zweckmäßig wäre eine umfassende Strukturreform, die der sozialen Selektion im mehrgliedrigen deutschen Schulsystem ein Ende bereiten müsste. In „einer Schule für alle“ nach skandinavischem Vorbild wäre kein Platz für die frühzeitige Aussonderung ,bildungsferner‘ oder ,leistungsschwacher‘ Kinder, die arm sind bzw. aus sog. Problemfamilien stammen. Mit einer inklusiven Pädagogik, die keine ,Sonderbehandlung‘ für bestimmte Gruppen (Menschen mit Behinderung und mit Migrationshintergrund ebenso wie Arme) mehr kennt, könnte man sozialer Desintegration und damit dem Zerfall der Gesellschaft insgesamt entgegenwirken. 4. Ergänzend zu einer solidarischen Bürgerversicherung, die alle WohnbürgerInnen mit sämtlichen Einkommen und Einkunftsarten (möglichst ohne Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen) zur Finanzierung der nötigen Leistungen im Sozial-, Pflege- und Gesundheitsbereich heranzieht, bedarf es einer sozialen Grundsicherung, die im Gegensatz zu Hartz IV allen das soziokulturelle Existenzminimum garantiert. Dazu gehört auch ein neues Berechnungsverfahren für die Höhe der Regelbedarfe, das - wie vom Bundesverfassungsgericht in seinem Hartz-IV-Urteil vom 9. Februar 2010 gefordert - sachgerecht, seriös und transparent sein muss. Sanktionen, die in der Vergangenheit vor allem junge Menschen mit voller Härte trafen, müssen abgeschafft werden, ohne dass die Verpflichtung entfällt, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu sichern, wenn die Möglichkeit dazu besteht, also die notwendigen Qualifikationen, aber weder gesundheitliche noch psychische Beeinträchtigungen existieren. 5. Längst überfällig ist eine Großoffensive gegen Kinder- und Jugendarmut, die der Bund zusammen mit den Ländern und Kommunen anstoßen, aber Kirchen, Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft, Wohlfahrtsverbände, Jugend- und Betroffenenorganisationen, Bürgerinitiativen, zivilgesellschaftliche Akteure sowie globalisierungskritische Netzwerke einbinden muss. Ob die von der „Ampel“-Koalition geplante Kindergrundsicherung als Grundlage dafür dienen kann, hängt davon ab, ob sie die unterschiedlichen Bedarfe der Familien berücksichtigt und auch den steuerlichen Kinderfreibetrag einbezieht, damit es künftig nicht mehr Kinder erster und zweiter Klasse gibt. Neben höheren Geldbeträgen ist ein flächendeckender Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur von zentraler Bedeutung. Prof. Dr. Christoph Butterwegge Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Gronewaldstr. 2 50931 Köln 464 uj 11+12 | 2022 Kinder- und Jugendarmut in Deutschland Literatur Bach, S., Mertz, T. 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