eJournals unsere jugend 74/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2022.art69d
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2022
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„Die Jugend von heute“ kümmert sich nicht?

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Maik Stöckinger
Dass „,die Jugend von heute‘ so unzuverlässig ist und alle so schlecht sind“, ist ein Stigma, das auch bei „der Jugend“ sehr bekannt ist, wie das Zitat zeigt. Es entstammt einer Gruppendiskussion junger Erwachsener, genauer einer 17-Jährigen. In den Diskussionen wurde der Frage nachgegangen, welche Vorstellungen die Teilnehmenden von Fürsorge haben. Um ein Teilergebnis vorwegzunehmen: „Die Jugend“ sorgt für andere und sie tut dies mitunter auch gerne.
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488 unsere jugend, 74. Jg., S. 488 - 496 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art69d © Ernst Reinhardt Verlag „Die Jugend von heute“ kümmert sich nicht? Fürsorgevorstellungen junger Erwachsener Dass „,die Jugend von heute‘ so unzuverlässig ist und alle so schlecht sind“, ist ein Stigma, das auch bei „der Jugend“ sehr bekannt ist, wie das Zitat zeigt. Es entstammt einer Gruppendiskussion junger Erwachsener, genauer einer 17-Jährigen. In den Diskussionen wurde der Frage nachgegangen, welche Vorstellungen die Teilnehmenden von Fürsorge haben. Um ein Teilergebnis vorwegzunehmen: „Die Jugend“ sorgt für andere und sie tut dies mitunter auch gerne. von Dr. Maik Stöckinger promovierte im Fach Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und lehrt Soziale Arbeit und Sozialpädagogik an der Fachhochschule des Mittelstands in Rostock. Dass Jugendliche und junge Erwachsene sich um andere kümmern und sie umsorgen, ist nur ein Ergebnis von mehreren aus einer qualitativen Studie. Der vorliegende Beitrag trägt zentrale Ergebnisse meiner als Dissertation verfassten Studie (Stöckinger 2020) zusammen, die einerseits Einblicke in die Gedankenwelt der Befragten gibt und andererseits eine Denkschablone bietet, Fürsorgebeziehungen zu analysieren. Fürsorge/ Care reziprozitätstheoretisch zu denken, bietet die Möglichkeit, sich über Motivationen und Erwartungen bewusst zu werden, die fürsorglichem Handeln und Engagement zugrunde liegen können. Insofern kann man aus dieser Befragung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehr viel lernen. Care, eine Kurzeinführung In den Sozialwissenschaften, die sich mit Fürsorge beschäftigen, wird überwiegend der Begriff „Care“ genutzt. Wer sich dieser Thematik widmet, steht zuerst einmal vor einem Berg verschiedenster Zugänge, weshalb man „Care“ auch als Dachbegriff (Aulenbacher/ Dammayr 2014, 126) für diverse Forschungsstränge und Perspektiven sehen kann. Unterteilbar ist die Careforschung auch in Analysen der Makro- oder Mikroebene. Auf der Makroebene sind Überlegungen zum Wohlfahrtsstaat und der Vergleich von Modellen dazu stark verbreitet (u. a. Daly/ Lewis 2000; Esping-Andersen 1990; Leitner et al. 2004). Auf der Mikroebene wird häufig die Beziehungsebene in den Blick genommen (u. a. Brückner 2011; Senghaas-Knobloch 2000; Waerness 2000), wie dies auch in der vorliegenden Studie der Fall ist. Resultierend aus der engen Verzahnung der Careforschung mit feministischen Diskursen (Gerhard 2014) ist die Beschäftigung mit Carefragen überwiegend verknüpft mit Geschlechterfragen. In diesen Diskursen war es ein Anliegen, Hausarbeit sichtbar zu machen, einer Arbeit, die überwiegend von Frauen geleistet wird. Doch Care/ Für- 489 uj 11+12 | 2022 Fürsorgevorstellungen junger Erwachsener sorge ist nicht auf Hausarbeit begrenzt, denn beispielsweise auch die Kindererziehung und Altenpflege sind Berufe, die unter „Care/ Fürsorge“ gefasst werden. Die vermutlich am weitesten verbreitete Definition von „Care“ stammt von Berenice Fisher und Joan Tronto, die darunter alle Tätigkeiten verstehen, die dazu dienen, unser Leben bestmöglich leben zu können (Fisher/ Tronto 1990, 40). Vorstellung der Studie Die Studie wurde in einem Teilprojekt des Bayerischen Forschungsverbundes Gender und Care erarbeitet (weitere Informationen auf www.forgendercare.de). Sie trug den Titel „,Heute nicht mehr, und wenn auf ’m Land‘ - Vorstellungen junger Erwachsener (in Bayern) zur Gestaltung von Fürsorge“. Zur Datenerhebung wurden 13 Gruppendiskussionen mit jungen Erwachsenen (nicht im definitorischen Sinne des SGB VIII) zwischen November 2015 und Juli 2016 geführt. Ziel war eine Altersspanne der Teilnehmenden zwischen 17 und 25 Jahren, allerdings war letztlich eine Person 16, eine weitere 30 Jahre alt. Diese 30-jährige Person nahm das Angebot eines offenen Jugendtreffs wahr und hielt sich dort mit Jüngeren auf, was dadurch deutlich wird, dass die 16-jährige Person zur selben Gruppe gehörte. Deshalb war davon auszugehen, dass die Person sich der Zielgruppe zugehörig fühlte, und daher wurde kein Grund gesehen, sie aus der Erhebung auszuschließen. Darüber hinaus schließe ich mich der Kritik von Albert Scherr (2014, 39f ) an, der sich gegen eine derart kategoriale Abgrenzung von Altersgruppen ausspricht. Es erscheint wenig hilfreich, Jugend oder junge Erwachsene in einem Alterskorsett zu betrachten und sie im Hinblick auf ausgewählte Kriterien von Erwachsenen abzugrenzen. Dass eine einheitliche Abgrenzung nicht gelingt, zeigen allein die in quantitativen Studien je unterschiedlichen und damit willkürlich festgelegten Altersgrenzen (u.a. Albert et al. 2019; Allmendinger 2009; Bien et al. 2015). Das Sample bestand letztlich aus 63 Diskussionsteilnehmenden, die in ihren Gruppen zumeist durchschnittlich zwei Stunden diskutierten. Der Einstieg wurde von mir immer sehr „schwammig“ gehalten, um den Teilnehmenden im Rahmen der Forschungsfrage möglichst wenig Vorgaben zu machen, wie die folgende Aussage zeigt (Stöckinger 2020, 46). Y: […] ja also ähm ja also Fürsorge, dass öh wir können auch einen anderen Begriff dafür finden wie Sorge, Selbstsorge, sich kümmern um jemanden oder etwas ähm, es gibt Berufe, die sich darum kümmern oder auch äh irgendwie nicht unbedingt nur zwingend Berufe, sondern auch einzelne Menschen, Individuen, oder Gruppen oder was auch immer, und mich interessiert, ähm was äh sprudelt da jetzt auch aus euren Köpfen raus, was ist Fürsorge für euch. Oder sorgen, also welchen Begriff nutzt ihr vielleicht auch? Vielleicht nutzt ihr ja auch einen ganz anderen Begriff dafür. Und ihr dürft einfach so miteinander loslegen. (Gruppe Studium, Aussage 62) Wenn die Diskussion erlahmte, wurden Bilder aufgezeigt, die neu zum Denken und Argumentieren einladen sollten. Auf diesen 23 Bildern wurden Situationen gezeigt, die mal mehr, mal weniger offensichtlich Fürsorge abbildeten (alle Bilder siehe Stöckinger 2020, 49). Die Diskutierenden waren nicht nur hinsichtlich ihres Alters divers. Sie kamen auch aus verschiedenen Dörfern und Städten in ganz Bayern, hatten unterschiedliche Schulabschlüsse, waren mal heterogen und mal homogen bezüglich ihrer Geschlechtsangabe zusammengesetzt und hatten unterschiedliche Konfessionszugehörigkeiten. Die meisten Diskussionen kamen über Gatekeeping zustande und wurden allesamt in gewohnten Umgebungen abgehalten. Die Fülle des Datenmaterials wurde komplett transkribiert (Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2010) und nach Vorschlägen der Grounded Theory (Strauss/ Corbin 1996; Strübing 2014) für die qualitative Analyse kodiert. 490 uj 11+12 | 2022 Fürsorgevorstellungen junger Erwachsener Fürsorge als Beziehung Fürsorge ist der Wille zur Unterstützung anderer Die offene Diskussionsfrage liefert zahlreiche Deutungen von „Fürsorge“. Dabei wird auch über Pflege von alten und kranken Menschen gesprochen, ebenso über Kindererziehung in der Kita oder zu Hause oder über den Wohlfahrtsstaat. Fürsorge wird aber auch in Themenbereichen diskutiert, die aus Sicht der Careforschung zuerst einmal irritieren, wie zum Beispiel zwischenstaatliche Fürsorge. So wird es als fürsorglich beschrieben, dass die deutsche Bundeswehr Militärpersonal in Afghanistan ausbildet, damit dieses sich dann selbst schützen kann. Fürsorge kann potenziell das ganze Leben über geleistet werden und man kann potenziell das ganze Leben Fürsorge erhalten. Fürsorge kann, so die jungen Erwachsenen, Menschen gegeben werden, aber auch Tieren oder sogar der Natur, wenn es um Umweltschutz geht. Diskutiert wird sogar, ob man auch einem Auto gegenüber fürsorglich sein kann, wenn man es putzt. Dies wird allerdings verworfen, da es sich beim Autowaschen eher um eine Tat für sich selbst und nicht für das Auto handelt. Putzt man hingegen unentgeltlich das Auto einer anderen Person, die dies aus irgendwelchen Gründen nicht selber erledigen kann, so fällt diese Tätigkeit wiederum unter Fürsorge. Damit wird das Handlungsziel wesentlich, um eine Tätigkeit als Fürsorge zu bezeichnen. So wie am Beispiel der Bundeswehr deutlich wird, muss ein Wille erkennbar sein, anderen zu helfen. Erst dann kann, so die Deutungen der jungen Erwachsenen in dieser Studie, eine Tat als fürsorglich eingestuft werden. Etwas nur für sich selbst zu tun, ist damit keine Fürsorge. Aber auch dies ist diskutabel, wie die Diskussionsteilnehmenden anhand eines anderen Beispiels deutlich machen. Eine Person, die Sport treibt, tut dies für sich selbst, betreibt also Selbstsorge. Tut sie dies aber auch, um dann wieder ganz für die eigenen Kinder da sein zu können (körperliche oder geistige Regeneration), dann hat diese Person gleichzeitig Fürsorge betrieben. Außerdem wird hier deutlich, dass Selbstsorge als Voraussetzung von Fürsorge gesehen werden kann. Ein Spannungsfeld aus Freiwilligkeit und Verpflichtung Ein weiteres Wesensmerkmal von Fürsorge aus Sicht der Studienteilnehmenden ist die Freiwilligkeit zum eigenen Handeln. Fürsorge ist immer daran gekoppelt, etwas nicht unter Druck, Zwang oder Verpflichtung zu tun. Allerdings wird diese hehre Beschreibung im Laufe der Explikationen relativiert. So wird in einer Gruppe, die ausschließlich aus Studierenden der Sozialen Arbeit besteht, festgestellt, dass einer Mutter in der Ausübung ihrer Fürsorge auch gesetzliche Pflichten obliegen. Beispielhaft dafür ein Zitat von Eva (Stöckinger 2020, 100; der Name ist anonymisiert). Eva: Wenn ich jetzt ein Kind kriege und das nicht haben möchte, darf ich das nicht in die Mülltonne hauen. (Gruppe Soziale Arbeit, Aussage 780) Mit dieser Aussage meint Eva, dass der Freiheit zur Entscheidung, ob man fürsorglich sein will oder nicht, auch Grenzen gesetzt sind. Es besteht also eine Fürsorgepflicht. Zwischen den Polen „Freiwilligkeit“ und „Verpflichtung/ Zwang“ besteht jedoch ein Spektrum und so lange Freiwilligkeit Teil der Handlung ist, auch wenn sie zum größten Teil aus Pflicht getan wird, so kann man diese Handlung den Befragten zufolge durchaus noch als fürsorglich bezeichnen. Eine weitere Abgrenzung von Fürsorge zeigt die folgende Sequenz (Stöckinger 2020, 111). Y: Und ähm was ist vielleicht ist es auch einfacher zu äh beantworten, was für euch nicht Fürsorge ist? 491 uj 11+12 | 2022 Fürsorgevorstellungen junger Erwachsener Markus: Wenn es nur ums Geld geht, ganz einfach. Also wenn einer nur aufs Geld aus ist. Karsten: Ja also ich find das jetzt, wenn jemand wirklich nur aufs Geld aus ist, dann ja ist im Endeffekt eigentlich keine Fürsorge mehr. Leon: Fürsorge ist ja doch irgendwie freiwillig einfach. (Gruppe Feuerwehr 3, Aussagen 634 - 639) Hier findet sich auch wieder, was beim Autoputzen zuvor bereits anklang: Etwas ausschließlich für Geld zu tun, kann keine Fürsorge sein. Es wurde zwar nicht darüber gesprochen, aber wenn eine Person einem Job nachgeht, nur um das Geld zu verdienen, dieses Geld aber dazu dient, beispielsweise der Familie oder Angehörigen etwas Gutes zu tun, so wird aus dieser Handlung möglicherweise doch wieder Fürsorge. Bis hierher wird bereits deutlich, dass die Frage nach Fürsorge eine sehr komplexe Frage ist, die nicht einfach zu beantworten ist. Kontexte von Fürsorge Zur weiteren Annäherung an die Fürsorgevorstellungen der jungen Erwachsenen wird eine Kontextualisierung vorgenommen. In der Familie findet Fürsorge bereits ab Geburt statt, da die Neugeborenen von ihr abhängig sind. Fürsorge wird aber auch den älteren und alten Familienmitgliedern gegeben und natürlich den Kranken. Thematisiert wird auch die Hausarbeit als Fürsorgearbeit, so das Abwaschen, Kochen oder Laubfegen. Oft geht es dabei um Arbeitsteilung bzw. darum, andere Familienmitglieder zu unterstützen, da man selbst Unterstützung erfahren hat. In Familien findet, so die Studienteilnehmenden, ein „Geben und Nehmen“ statt. Zu beobachten wäre dies bei der Aufteilung der Hausarbeit, aber auch wenn die Kinder, die im jungen Alter die Fürsorge ihrer Eltern erhalten haben, diese im hohen Alter unterstützen. Selbst Babys, die einen engen eigenen Handlungsspielraum haben, geben, so eine Gruppe, den Eltern „mehr oder weniger was zurück“ (Stöckinger 2020, 220). Gemeint sind hier überwiegend Emotionen, da die Eltern den Alltag mit dem Baby, trotz der vielen Arbeit mit dem Neugeborenen, dennoch auch genießen und wertschätzen (können). Die jungen Erwachsenen sehen viele Parallelen zwischen familiärer Fürsorge und der Fürsorge in Freundschaften. Auch dort geben sich die Menschen etwas zurück, sei es zeitnah oder über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Basis dessen ist Vertrauen. Etwas anders verhält es sich bei Fürsorge für Menschen, die einem nicht sehr nah stehen oder sogar unbekannt sind. So ordnen die Befragten auch das Ehrenamt und Spenden der Fürsorge zu, sehen hier jedoch zumeist andere Erwartungen an die Sorgetätigkeit gekoppelt. Wer spendet, erwartet dafür oft nicht viel zurück. In manchen Angelegenheiten, so führt eine Gruppe aus, spendet man jedoch auch für ein Schild an der Parkbank, die man gezahlt hat. Im Ehrenamt „profitiert“ (Stöckinger 2020, 176) man mitunter davon, dass man selbst noch etwas lernt oder dass man soziale Kontakte hat. Viele der Diskutierenden waren selbst ehrenamtlich tätig. Allein fünf Diskussionen fanden mit jungen Erwachsenen statt, die selbst Jugendarbeit leisteten (drei Jugendfeuerwehren, eine katholische Jugend, eine freikirchliche Jugend). Daneben bekleideten weitere Teilnehmende in den anderen Gruppen Ehrenämter. Unter staatlicher Fürsorge fassen die Diskutierenden neben der Rente auch die Sozialversicherungen, wobei sie in der Regel nicht systematisch unterscheiden. Hervorgehoben wird, dass sich der Staat um die Menschen sorgt und dafür eben diese Absicherungen eingeführt hat. Kritisiert werden allerdings Menschen, die keinen Beitrag leisten und nur auf Kosten anderer leben. Wer körperlich und geistig einen Beitrag leisten kann, muss dies auch tun, denn sonst gerät die staatliche Fürsorge an ihre Grenzen und andere, die auf die Fürsorge angewiesen sind, können nicht angemessen unterstützt werden, wie das folgende Zitat veranschaulicht (Stöckinger 2020, 134). 492 uj 11+12 | 2022 Fürsorgevorstellungen junger Erwachsener Phillip: Das mit dem Ausnutzen, das ist wieder so eine Sache. Ähm jetzt wie du das gesagt hast, mit dem Hartz Vier. Ähm wenn also das kriegt einer, aber aber er will ja nichts dafür, weißt er er will bloß das Geld haben, macht aber nichts. Äh dann hat man auch wieder das Problem, dann kriegt der das, macht aber nichts dafür, und andere, die es brauchen, kriegen halt dann nicht so viel, weil halt einfach dann nicht mehr so viel da ist. Dann streicht man wieder den anderen Mitmenschen, äh die also einen Teil von der materiellen Fürsorge, und ähm ja und somit äh kann man dann einfach durch solche Quersteller, äh durch solche Quersteller kann man dann einfach nicht mehr wirklich äh anderen Leuten die Fürsorge richtig ermöglichen. Das ist dann wieder ein Problem, was wir haben. (Gruppe Feuerwehr 2, Aussage 300) Wie zuvor bereits ausgeführt, sprechen die jungen Menschen jedoch nicht nur über diese Art staatlicher Fürsorge, sondern auch über zwischenstaatliche, bei der ein Staat dem anderen hilft. Wird dies thematisiert, so geht es oftmals auch um die Frage, was ein Staat davon hat, einem anderen Staat zu helfen. Durch das Absetzen von Saddam Hussein, was der dortigen Bevölkerung zugutegekommen sei, habe die USA nun Zugang zu Öl und durch die Hilfen in Afghanistan sei Deutschland weniger im Fokus von Personen, die Terrorakte verüben wollen, was die eigene Bevölkerung ebenfalls schützt. Ein weiterer Kontext, der häufig thematisiert wird, ist die Arbeit in sozialen Berufen. Hier sehen die jungen Erwachsenen eine deutliche Diskrepanz zwischen „Fürsorge“ und dem, was die Arbeitenden zurückerhalten. Eine Gruppendiskussion wurde mit Studierenden der Sozialen Arbeit geführt, eine weitere mit Auszubildenden an einer Pflegeschule. Das Deutungsmuster aber ist gleich, unabhängig vom schulischen oder beruflichen Hintergrund. Die Diskutierenden stellen fest, dass die Bezahlung in Fürsorgeberufen nicht ausreichend ist und die Arbeitsbedingungen unzureichend sind. Für die Teilnehmenden der Pflegeschule scheint ein Ausweg zu sein, sich emotional nur begrenzt in den Job zu involvieren, damit die Balance stimmt. Reziprozität in Fürsorgebeziehungen In mehreren Gruppendiskussionen kam die Redewendung „Geben und Nehmen“ vor, auch mal in umgekehrter Variante „Nehmen und Geben“ oder weniger prägnant formuliert (Stöckinger 2020, 168). Dies verleitet in der Interpretation des Datenmaterials dazu, genauer hinzusehen. Es zeigte sich letztlich, dass in allen Gruppendiskussionen eine Denkweise vorhanden war, die ich, einer Äußerung innerhalb einer Gruppe folgend (in-vivo-Code), „Geben-und-Nehmen-Prinzip“ nenne (ebd.). Dieses Prinzip wiederum lässt sich mit älteren anthropologischen und soziologischen Studien verknüpfen. Die Beschäftigung mit sozialwissenschaftlichen Reziprozitätstheorien folgte somit der Analyse des Datenmaterials und beides wurde anschließend miteinander verwoben. Das in diesem Themenfeld wohl bekannteste Werk ist der Essay „Die Gabe“ von Marcel Mauss, welcher 1923/ 1924 geschrieben wurde (Mauss 2013). Auch Mauss geht auf das Spannungsfeld von Freiwilligkeit und Verpflichtung ein und schreibt, dass Geschenke immer eine Verpflichtung auf der anderen Seite auslösen, selbst auch wieder etwas zu schenken. Für frühere Gesellschaftsformen kann dies als Form des Handels gesehen werden: Ein Stamm beschenkte einen anderen und konnte erwarten, dass dann etwas zurückkommt. Ähnliche Erwartungen an eine Gegengabe werden auch in den Fürsorgevorstellungen der jungen Erwachsenen deutlich. Ich gehe davon aus, dass dies so oder in ähnlicher Form auch in den anderen Altersgruppen ein dominantes Denkmuster ist. 493 uj 11+12 | 2022 Fürsorgevorstellungen junger Erwachsener Dazu passend schrieb Georg Simmel bereits 1908 einen Aufsatz zu Treue und Dankbarkeit (Simmel 2016). Er analysierte, dass eine erste Gabe in der beschenkten Person Dankbarkeit hervorruft, die darin resultiert, dass diese Person wieder etwas zurückgibt. Doch keine Gabe ist ein Äquivalent zur vorigen und so bleibt immer so etwas wie eine „Restschuld“. Das ist der Grund, warum Gaben Beziehungen stiften und am Leben erhalten können, das macht Sozialität (ebd., 670). Passend zu den Aussagen der jungen Erwachsenen in der hier vorgestellten Studie ist ein Aufsatz von Marshall D. Sahlins, der Verwandtschaftsbeziehungen früherer Gesellschaften in den Blick nimmt (Sahlins 1972; deutsch: Sahlins 1999). Er sieht ein Spektrum zwischen Gabe und Ausbeutung (Sahlins 1999, 154f ). Die reine Gabe ist eine Gabe, die völlig ohne die Erwartung einer Gegengabe gegeben wird. Er nennt dies „generalisierte Reziprozität“ (ebd.). Doch, so schreibt Sahlins dazu, diese Form der Gabe kommt real nicht vor. Sie ist lediglich der Pol auf einer Seite des Spektrums. Den anderen Pol nenne ich in Abwandlung „reines Nehmen“. Er befindet sich im Bereich der Ausbeutung der Gabe, was Sahlins „negative Reziprozität“ nennt (ebd., 155). In der Mitte dieses Spektrums liegt die „ausgeglichene“ bzw. „balancierte“ Reziprozität (ebd., 154), hier halten sich Gabe und Gegengabe die Waage. Reine Gabe Balancierte Reziprozität Reines Nehmen Generalisierte Reziprozität Negative Reziprozität (Ausbeutung) Abb. 1: Spektrum der Reziprozität (eig. Darstellung) Abb.: Maik Stöckinger u emotionale Bindung Ausbeutung generalisierte Reziprozität Abb. 2: Reziprozität und emotionale Nähe (eig. Darstellung, abgewandelt nach Sahlins 1972) Abb.: Maik Stöckinger 494 uj 11+12 | 2022 Fürsorgevorstellungen junger Erwachsener Dieses Spektrum trägt Sahlins auf Kreisen verwandtschaftlicher Beziehungen ab (Sahlins 1972, 199). Das Ergebnis ist, dass die Reziprozität „generalisierter“ wird, je näher der Verwandtschaftsgrad der beteiligten Personen ist. Dieser Gedanke ist, so denke ich im Anschluss an die Äußerungen der jungen Erwachsenen, nicht auf einen Verwandtschaftsgrad zu beschränken. Je näher einem eine Person emotional ist - egal, ob dies in Familie oder Freundschaft ist -, desto eher ist man bereit, dieser Person Fürsorge angedeihen zu lassen, ohne dass dabei ein Äquivalent zurückkommt. Pierre Bourdieu beschrieb dies als Risiko, welches mit der Gabe eingegangen wird (Bourdieu 2015, 163). Abbildung 2 zeigt das Spektrum der Reziprozität und die emotionale Bindung der Handelnden. Der Kreis symbolisiert dabei Menschen, die sich in gewisser Weise nahe sind. Außerhalb des Kreises könnten dann fremde Menschen liegen, wobei aber dennoch eine geringe Nähe vorhanden sein kann. In der Kreismitte sind dann sehr enge Beziehungen zu denken. Diese zwischenmenschliche Reziprozität basiert auf Aushandlungen, die jedoch nicht bewusst und intendiert vorgenommen werden müssen. Derartige Abwägungen finden auch unbewusst und aufgrund gesellschaftlicher Normen statt (Gouldner 1984 a). Damit eine Fürsorgebeziehung aufrechterhalten bleibt, muss sich diese Beziehung einigermaßen in Balance befinden. Gabe und Gegengabe, obwohl nicht genau messbar, müssen sich ähneln. Ein großes Ungleichgewicht kann dazu führen, dass sich eine Seite aus der Beziehung zurückzieht (Breithecker/ Stöckinger 2020). Die Bewertung von Gabe und Gegengabe obliegt jedoch dem Individuum. Dieses wägt (bewusst oder unbewusst) die Erwartungen an die Gegengabe und das „Gewicht“ der eigenen Gabe ab. Somit haben wir es mit einer doppelten Reziprozität zu tun: einerseits der zwischenmenschlichen (interpersonalen) und andererseits der individuellen (intrapersonalen) Reziprozität. Beide müssen in Einklang gebracht werden. Dieses Theoriekonzept muss um die Kontexte der Fürsorge erweitert werden, die auch die jungen Erwachsenen diskutierten. Eine Klassifizierung von Gabe und Gegengabe könnte vier verschiedene Formen hervorbringen. Fürsorge kann unterschieden werden in: ➤ unterstützende Tätigkeiten ➤ Wertschätzung, Dankbarkeit ➤ Materielles (z. B. Entlohnung) ➤ Selbstwirksamkeit. In Familien und Freundschaften wird Fürsorge zumeist als unterstützende Tätigkeit gegeben, beispielsweise als Trostspende, Hilfe im Haushalt oder Umzugshilfe. Erwartet wird in engen Beziehungen oft keine materielle Gegengabe, sondern ebenfalls zukünftig eine unterstützende Tätigkeit oder Dankbarkeit. Im Fürsorgeberuf stellt sich dies anders dar. Hier wird Geld, also Materielles, erwartet. Hierunter sind jedoch auch Arbeitsbedingungen zu fassen, die ein gewisses Mindestmaß erreichen müssen. Auch Selbstwirksamkeit spielt in der Fürsorge kontextübergreifend eine große Rolle. Die genannten verschiedenen Formen können sich kompensieren (Gouldner 1984 b, 50f ). Mit diesem Theoriekonzept wird fassbar, warum viele Menschen einem Fürsorgeberuf nachgehen, obwohl die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen schlecht sind: Sie erfahren eine gewisse Erfüllung durch Selbstwirksamkeit. Wie dieses Beispiel zeigt, wird also eine Gegengabe nicht zwingend von der Person erwartet, die die Gabe erhält, sondern sie kann auch von Dritten kommen. Die Äußerungen der Gruppe Pflegeschule sind ebenfalls unter diesem Aspekt nachvollziehbar. Weil die Arbeitsbedingungen so schlecht sind und die Diskutierenden das wissen, wollen sie sich nicht sehr stark in den zukünftigen Job involvieren. Dies scheint eine Art Selbstschutz zu sein, der sie vor Ausbeutung bewahren soll. Das Theoriekonzept kann außerdem erklären, warum viele Pflegepersonen während der Corona-Pandemie ihren Beruf verließen: Die Arbeitsbedingungen wurden so schlecht, dass sich die Waage ihrer individuellen Reziprozität nicht mehr in Balance befand. 495 uj 11+12 | 2022 Fürsorgevorstellungen junger Erwachsener Fazit Der Titel dieses Beitrages greift zwei Klischees auf. Zum einen die Redewendung „Jugend von heute“ und zum anderen die Erwartung mancher Erwachsener, Jugendliche würden sich nicht kümmern. Zum ersten Klischee ist zu sagen, dass es „die Jugend“ so nicht gibt. Junge Menschen sind genauso individuell wie mittelalte und alte Menschen. Ihre Lebenswelt unterscheidet sich in vielen Fällen von den Lebenswelten älterer Menschen und dies kann man thematisieren, aber es ist nicht angezeigt, allen jungen Menschen einen Stempel aufzudrücken. Das zweite Klischee ist mit der diesem Beitrag zugrunde liegenden Studie zu widerlegen. Es gab keine Aussage, die zeigt, dass keine Bereitschaft zur Fürsorge vorhanden wäre. Auch der sogenannte (familiäre) Generationenvertrag wird von denTeilnehmenden „eingehalten“. Die Ausgestaltung dessen ist jedoch ungewiss. Hierzu müssen die einzelnen Lebensumstände, aber auch die Beziehungen der jungen Erwachsenen zu ihren Eltern betrachtet werden. Einige der Befragten teilten mit, dass sie bereit sind, ihre Eltern selbst zu pflegen, sie im hohen Alter auch zu sich nach Hause zu holen. In einer Gruppe, die aus Teilnehmenden einer Wohngruppe bestand, wurde an manchen Stellen eine schlechte Beziehung zu den Eltern deutlich. Dies wurde in der Erhebungssituation nicht genauer ausgeführt, doch fassen wir das Gesamtbild zusammen, so ist durchaus denkbar, dass diese jungen Menschen sich wenig in die Fürsorge ihrer zukünftig pflegebedürftigen Eltern einbringen werden. Möglicherweise werden dies die Eltern ungerecht finden, weil sie eine andere Wahrnehmung der Beziehung zu ihren Kindern haben als die Kinder selbst. Die Redewendung „Geben und Nehmen“ ist keine, die allein der Lebenswelt junger Menschen entspringt. Sie ist auch unter Erwachsenen bestens bekannt. Damit wird deutlich, dass die jungen Erwachsenen kaum ganz eigene Zugänge im Umgang mit dem Leben und dem Alltag aufbauen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene leben immer noch in der gleichen Welt, in der gleichen Gesellschaft. Die hier dargelegten Denkmuster sind übertragbar auf sämtliche Altersgruppen. Forschung müsste genauer analysieren, ob das Konzept regional, alters- und milieuspezifisch etc. abgewandelt bzw. angepasst werden müsste. Im Grundsatz jedoch wird es, so meine abschließende These, kaum einen Unterschied geben. Auch Erwachsene haben Erwartungen an andere, wenn sie ihnen Fürsorge zukommen lassen. Dass dies jedoch sehr wenig mit ökonomischem Handel oder Warentausch zu tun hat, muss hier ein letzter Hinweis bleiben. Dr. Maik Stöckinger E-Mail: maik.stoeckinger@mailbox.org Literatur Albert, M., Hurrelmann, K., Quenzel, G. (Hrsg.) (2019): Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort. Beltz, Weinheim Allmendinger, J. (2009): Frauen auf dem Sprung. Wie junge Frauen heute leben wollen. Die Brigitte-Studie. Pantheon, München Aulenbacher, B., Dammayr, M. (2014): Zwischen Anspruch undWirklichkeit: Zur Ganzheitlichkeit und Rationalisierung des Sorgens und der Sorgearbeit. In: Aulenbacher, B., Riegraf, B., Theobald, H. (Hrsg.): Sorge: Arbeit, Verhältnisse, Regime. Nomos, Baden-Baden, 125 - 140 Bien, W., Pätter, U., Quellenberg, H. (2015): Methodische Grundlagen von AID: A II. Stichprobe und Fallzahlen. 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