unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2022.art04d
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Nicht nur sozial, sondern auch gesundheitlich benachteiligt
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Sven Schneider
Lea Kahlert
Bärbel Holzwarth
Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche sind deutlich häufiger von Übergewicht betroffen als andere ihrer Generation. Im vorliegenden Beitrag werden die aktuell diskutierten Erklärungsansätze für diesen Sozialgradienten beschrieben und in einem Modell systematisiert.
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14 unsere jugend, 74. Jg., S. 14 - 22 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Nicht nur sozial, sondern auch gesundheitlich benachteiligt Warum sozioökonomisch schlechter gestellte Kinder und Jugendliche auch häufiger von Übergewicht betroffen sind Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche sind deutlich häufiger von Übergewicht betroffen als andere ihrer Generation. Im vorliegenden Beitrag werden die aktuell diskutierten Erklärungsansätze für diesen Sozialgradienten beschrieben und in einem Modell systematisiert. von Prof. Dr. phil. Sven Schneider Jg. 1969; Soziologe M. A., Leiter der Abteilung Kindergesundheit am Mannheimer Institut für Public Health, Sozial- und Präventivmedizin der Universität Heidelberg Hintergrund Übergewicht lässt sich nicht verbergen. Übergewicht ist eine der wenigen Eigenschaften, die für jeden schnell, einfach und ohne Kenntnis der Person wahrnehmbar ist. Die gilt für Erwachsene ebenso wie für Kinder und Jugendliche. Kinder und Jugendliche sind nicht nur besonders vulnerabel für stigmatisierende oder diskriminierende Kommentare und Reaktionen, sie sind auch höchst unterschiedlich von Übergewicht betroffen. So existieren soziale Unterschiede bei den Übergewichts- und Adipositasprävalenzen. Diese auch als „Sozial-“ oder „Schichtgradient“ bezeichneten Verwerfungen sind beträchtlich. Gemäß der bundesweiten Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) sind in der Altersgruppe der 3bis 17-Jährigen 27 % der Mädchen und 24 % der Jungen mit niedrigem Sozialstatus übergewichtig, während von den Gleichaltrigen mit hohem Sozialstatus nur 7 % bzw. 9 % von Übergewicht betroffen sind (Schienkiewitz et al. 2018, Abb. 1). Noch deutlicher sind die sozialen Unterschiede, wenn man die in den Lea Kahlert Jg. 1999; Studentin B. Sc. Psychologie an der Universität Mannheim; Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg Bärbel Holzwarth Jg. 1996; Soziologin M. A., Dezernat I - Forschungsangelegenheiten und Qualitätsmanagement der Universität Mannheim 15 uj 1 | 2022 Sozioökonomische und gesundheitliche Benachteiligung obigen Angaben enthaltenen Adipositasprävalenzen betrachtet. Mädchen mit niedrigem Sozialstatus sind mit einer Prävalenz von 8 % viermal häufiger adipös als Kinder aus der hohen Statusgruppe (2 %). Ein Sozialgradient zeigt sich auch bei Jungen, wo statusniedrige mit einer Prävalenz von 11 % statushohen mit einer Prävalenz von 3 % gegenüberstehen (Schienkiewitz et al. 2018, Abb. 1). Daten aus den Schuleingangsuntersuchungen der Bundesländer legen nahe, dass die sozialen Unterschiede im Zeitraum von 2001 bis 2015 relativ konstant geblieben sind (Lampert et al. 2017). Prävalenz in Prozent (%) 30 25 20 15 10 5 0 27,0 [20,3 - 34,9] 8,1 [4,7 - 13,7] 13,0 [10,8 - 15,5] 4,7 [3,5 - 6,4] 6,5 [3,8 - 10,8] 2,0 [0,5 - 7,3] niedriger Sozialstatus mittlerer Sozialstatus hoher Sozialstatus Prävalenz in Prozent (%) 30 25 20 15 10 5 0 24,2 [17,7 - 32,3] 11,4 [7,2 - 17,7] 14,1 [11,2 - 17,7] 5,2 [3,6 - 7,5] 8,9 [5,4 - 14,2] 2,6 [1,1 - 5,9] niedriger Sozialstatus mittlerer Sozialstatus hoher Sozialstatus Übergewicht Adipositas Abb. 1: Übergewichtssowie Adipositasprävalenzen bei Mädchen (oben) und Jungen (unten) zwischen drei und 17 Jahren in Deutschland (arithmetischer Mittelwert und 95 %-Konfidenzintervall; Originaldaten nach Schienkiewitz, A., Brettschneider, A., Damerow, S., Rosario, A. 2018) 16 uj 1 | 2022 Sozioökonomische und gesundheitliche Benachteiligung Der Sozialgradient setzt sich im jungen Erwachsenenalter fort und ist auch dort bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern: In der Altersgruppe der 18bis 29-Jährigen sind 32 % der Frauen der niedrigen Sozialstatusgruppe übergewichtig (inkl. adipös), während es in der oberen Sozialstatusgruppe 17 % sind. Die Werte liegen auch in diesem Alter weiter auseinander als die der Männer, bei denen die Vergleichswerte 33 % und 25 % betragen (Schienkiewitz et al. 2017). Auch in den höheren Altersgruppen ist ein solcher Gradient seit vielen Jahren zu beobachten (Schienkiewitz et al. 2017). Im Übrigen ist nicht nur der adipositasspezifische Sozialgradient per se, sondern auch der deutlichere Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Adipositas bei Frauen im Vergleich zu Männern seit Langem auch in anderen Industrieländern zu beobachten (Lampert et al. 2017). Dieser Beitrag hat zum Ziel, diese deutlichen sozialen Unterschiede in der Verbreitung des Übergewichtes unter Kindern und Jugendlichen zu erklären. Dazu stellen wir im Folgenden ein Modell vor (Abb. 2). Es konstatiert eine Interkonnektivität, bei der individuelles Verhalten aus unterschiedlichen Faktoren auf Makro- und Mikroebene resultiert und schließlich in einer Dysbalance zwischen Energieaufnahme und Energieverbrauch und daraus resultierendem Übergewicht mündet (Abb. 2). Modellvorschlag Adipogene Umwelt Kinder und Jugendliche leben eingebettet in ihre Umwelt, interagieren mit ihr und werden von ihr in ihrem Handeln beeinflusst. Der Be- Sozialgradient bezüglich … … adipogener Umwelten … materieller Deprivation … Gesundheitskompetenzen … psychosozialer Stressoren & Ressourcen … genetischer, prä- & perinataler Faktoren Ernährungsverhalten körperliche Aktivität Ruhestoffwechsel Energieaufnahme Energieverbrauch Übergewicht / Adipositas Makrolevel Mikrolevel Abb. 2: Konzeptionelles Erklärungsmodell zu sozioökonomischen Unterschieden bei der Adipositasprävalenz 17 uj 1 | 2022 Sozioökonomische und gesundheitliche Benachteiligung griff der „adipogenen Umwelt“ bezeichnet die Summe aller Einflüsse aus Umfeld, Gelegenheitsstrukturen und Lebensbedingungen auf die Entstehung von Übergewicht (Swinburn et al. 1999). Adipogene Umwelten begünstigen insbesondere ein ungesundes Ernährungsverhalten und körperliche Inaktivität. Für die hier interessierende gesundheitliche Ungleichheit ist in diesem Zusammenhang relevant, dass auf der Ebene des Sozialraums der Sozialstatus eines Wohngebietes (engl. neighbourhood socioeconomic status) häufig negativ mit adipogenen Merkmalen korreliert. Dies gilt zum einen hinsichtlich der sogenannten Ernährungsumwelt: Für das individuelle Ernährungsverhalten ist das Angebot im regionalen stationären Einzelhandel und in der Gastronomie relevant. Aus diesem Angebot treffen Kinder, Jugendliche und deren Eltern Einkaufsentscheidungen. International und mittlerweile auch für Deutschland ist belegt, dass sich in statusniedrigen Wohnvierteln regelmäßig mehr Anbieter von Fast Food finden als in privilegierten Gegenden. Die Versorgungsdichte mit gerade für Jugendliche attraktiven Imbissbuden, Dönerläden und Hamburger-Restaurants ist in statusniedrigen Wohngebieten höher und der Weg zum nächstgelegenen Fast Food-Anbieter ist kürzer (Schneider et al. 2013). Somit kann die Ernährungsumwelt im Sinne einer deutlich höheren Exposition gegenüber ungesunden Nahrungsmitteln grundsätzlich einen Sozialgradienten verstärken und mitverursachen. In diesem Zusammenhang hat sich international der Begriff einer „deprivation amplification“ für die Folgen einer ungesünderen Ernährungsumwelt in deprivierten Wohngebieten etabliert (Schneider et al. 2019). Zum anderen herrscht in sozioökonomisch benachteiligten Wohngebieten - zumindest hierzulande - häufig eine höhere Verkehrsdichte, was die nichtmotorisierte Mobilität (das Fahrradfahren von Kindern, die objektive und subjektive Sicherheit auf dem Schulweg usw.) einschränkt. Zwar ist in benachteiligten Wohngebieten die quantitative Versorgung mit Bewegungsmöglichkeiten (Spiel-, Sport- und Bolzplätzen, Skateparks usw.) oft vergleichbar oder gar besser als in sozioökonomisch bessergestellten Gebieten, allerdings zeigen mittlerweile auch Studien aus Deutschland, dass die Qualität dieser gerade für Kinder zentralen Bewegungsressourcen in benachteiligten Wohngebieten oft signifikant schlechter ist (Buck et al. 2019). Materielle Deprivation Materielle Deprivation kann mitverantwortlich für die Entstehung von Übergewicht und Adipositas und darüber hinaus für einen schlechteren Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen sein (Schneider 2002). Ein niedriges Einkommen verringert den familiären Zugang zu einem umfassenden Angebot an gesunden Lebensmitteln und die Möglichkeiten für körperliche Betätigung: Aus europäischen Studien ist bekannt, dass Lebensmittelpreise Einkaufs- und somit Ernährungsgewohnheiten determinieren. So ist der relative Anteil der Ausgaben für Lebensmittel an den Gesamtausgaben eines Haushaltes bei höherem Einkommen mit unter 10 % am geringsten, bei geringem Einkommen mit rund 30 % deutlich höher und schließlich in Haushalten mit Sozialleistungsbezug mit rund 40 % am höchsten (Robertson et al. 2007). Damit werden für die in der Regel einkaufenden Eltern die Lebensmittelausgaben insbesondere in einkommensschwachen Haushalten anders als etwa die Mietkosten zu einer flexiblen Ausgabenposition mit Sparpotenzial. Die günstigste Kalorien-pro-Euro-Relation, so die Autoren, lasse sich im Falle eines monetär begrenzten Budgets am ehesten durch billige Lebensmittel mit hoher Energiedichte und gleichzeitig geringer Nährstoffdichte erreichen (Robertson et al. 2007). Auch die ernährungsphysiologische Qualität der explizit für Kinder angebote- 18 uj 1 | 2022 Sozioökonomische und gesundheitliche Benachteiligung nen Gerichte in der Gastronomie korreliert mit dem Preis, wie jüngst eine bundesweite Analyse von Kinderspeisekarten in deutschen Restaurants zeigen konnte (Rüsing et al. 2020). Auch die Optionen für eine sportliche Betätigung von Kindern und Jugendlichen sind von den materiellen Bedingungen abhängig. Viele organisierte und nichtorganisierte Sportarten lassen sich mit einem geringen Budget nicht realisieren (z. B. Tennis, Reitsport, Golf, Surfen). Neben Vereinsbeiträgen seien hier exemplarisch die Kosten für Sportausstattung, Startgelder und Fahrtkosten zu Wettkämpfen genannt. Gesundheitskompetenz Gesundheitskompetenz (engl. Health Literacy) ist die Fähigkeit des Einzelnen, selbstständig grundlegende Informationen zu finden, zu verarbeiten und zu verstehen und Dienstleistungen zu verwenden, um angemessene gesundheitsrelevante Entscheidungen treffen zu können (Chari et al. 2014). Bezogen auf die zu erklärenden sozioökonomischen Unterschiede bei der Adipositasprävalenz erscheint hier relevant, dass die Realisierung gesundheitsförderlichen Verhaltens den Erwerb von und den Zugang zu gesundheitsrelevantem Wissen zur Voraussetzung hat. Damit sind zum einen direkte Bildungseffekte wie etwa medizinische Wissensbestände (der Kinder und Jugendlichen selbst sowie ihrer Eltern) und die Antizipation gesundheitsrelevanten Verhaltens (beispielsweise basales Wissen zu den negativen Folgen einer ungesunden Ernährung und zu den Auswirkungen regelmäßigen Sports) gemeint. Zum anderen spielen hierbei auch indirekte Effekte eine Rolle, wie etwa die durch Bildung erworbene Befähigung zu Recherche, Diskussion, Handlungskompetenz und Selbstdisziplinierung (Becker 1998; Maas et al. 1997). Hinzu kommt eine günstigere Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen bei PatientInnen aus der oberen Sozialschicht (Gerhard 1991). Nun ist aus zahlreichen internationalen Studien bekannt, dass die Gesundheitskompetenz positiv mit dem Bildungsstand und damit auch mit dem Sozialstatus korreliert (Chari et al. 2014). Eine für die Europäische Kommission erarbeitete Übersicht kommt allerdings zu dem Schluss, dass ein Mangel an einschlägigen Informationen über Ernährung und Bewegung unter den Teilnehmenden der Eurobarometer-Umfrage von 2006 unabhängig vom sozioökonomischen Status kein wesentlicher Grund für eine unausgeglichene Energiebilanz war (Robertson et al. 2007). Folglich, so die Autoren, sollte die Bedeutung reiner Aufklärungskampagnen im Sinne einer klassischen „Gesundheitserziehung“ nicht überschätzt werden (Robertson et al. 2007). Psychosoziale Stressoren und Ressourcen Sozioökonomische Unterschiede in der Adipositasprävalenz lassen sich auch damit erklären, dass Menschen mit höherem Sozialstatus zum einen über weniger Stressoren und zum anderen über mehr Ressourcen verfügen als Menschen mit niedrigerem Sozialstatus. Dies ist bereits früh im Lebenslauf zu beobachten: Die Stressbelastung ist bei sozioökonomisch schlechter Gestellten bereits im Kindesalter vielfach höher (Elsenburg et al. 2017; Hapke et al. 2013), zum Beispiel aufgrund aversiver Kindheitserfahrungen durch soziale und ökonomische Deprivation des Elternhauses. Das familiäre Stresserleben kann durch Arbeitsstress der Eltern noch verstärkt werden. Hier zeigen unter anderem Studien auf Basis des von Siegrist entwickelten Modells beruflicher Gratifikationskrisen eine deutlich höhere Stressbelastung bei schlechter bezahlten Tätigkeiten und prekären Beschäftigungsverhältnissen (Siegrist 1994). Die kumulative Stressbelastung wirkt sich sowohl behavioral als auch biologisch auf die Entwicklung von juveniler Adipositas aus: Stresserleben korreliert mit ungünsti- 19 uj 1 | 2022 Sozioökonomische und gesundheitliche Benachteiligung gen Ernährungsgewohnheiten, Schlafstörungen und impulsivem Verhalten. Chronischer Stress führt bei dem sich entwickelnden Organismus über die dauerhafte Ausschüttung von Cortisol und Katecholaminen zu vermehrter Produktion von Insulin bei gleichzeitig verringerter Produktion von Wachstumshormonen und Sexualhormonen. Es kommt bei den Kindern und Jugendlichen zu einer Akkumulation von Fett im Bauchbereich und zu einem Verlust von Muskelmasse, was sich negativ auf den Ruhestoffwechsel auswirkt (Pervanidou/ Chrousos 2011). Die subjektive Stressbelastung kann durch entlastende Ressourcen moderiert, genauer gesagt abgepuffert, werden. Wichtige Ressourcen in diesem Zusammenhang sind psychischer und emotionaler Support, instrumentelle, informationelle und finanzielle Unterstützung durch die Eltern sowie die Unterstützung sozialer Netzwerke, also etwa der FreundInnen in Schule und Freizeit. Genetische, prä- und perinatale Faktoren Auch genetische, prä- und perinatale Determinanten für Übergewicht und Adipositas sind sozial ungleich verteilt. Neben genetischen und epigenetischen Faktoren ist das Gewicht vom prä- und perinatalen Verhalten der Eltern und hier vor allem der Mutter beeinflusst (Weschenfelder et al. 2019). Wenngleich an dieser Stelle auf die komplexen Wechselwirkungen zwischen maternalem BMI, maternaler Gewichtszunahme während der Schwangerschaft, fetaler Programmierung, Stillverhalten und Säuglingsernährung nicht weiter eingegangen werden kann, so soll zumindest der bekannte Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Mutter, ihrem BMI und dem Geburtsgewicht des Kindes erwähnt werden (Weschenfelder et al. 2019). Ernährungs-, Aktivitätsverhalten und Ruhestoffwechsel Entsprechend dem sozialökologischen Modell sind die bisher besprochenen Faktoren, welche sozioökonomische Unterschiede bei der Prävalenz juveniler Adipositas erklären sollen, entweder eher der Makroebene oder eher der Mikroebene zuzuordnen. Dies wird in der Grafik (Abb. 2) entsprechend veranschaulicht. All diese Faktoren stehen einerseits in Interaktion und wirken andererseits auf das individuelle Verhalten - konkret auf das Ernährungsverhalten, das Aktivitätsverhalten sowie den Ruhestoffwechsel von Kindern und Jugendlichen (Lehrke/ Laessle 2009). Insbesondere Letzterer rückte im Zuge neuer Erkenntnisse zur eigenständigen Bedeutung sedentären Verhaltens, also der sitzenden Lebensweise (PC, Gaming, Mediennutzung), zunehmend in den Fokus der Forschung (Wallmann-Sperlich et al. 2014). Der Forschungsstand zu sozioökonomischen Unterschieden bezüglich dieser drei Lebensstilaspekte ist umfangreich und in der Synopse eindeutig: Die Ernährungs- und Bewegungsmuster sozioökonomisch schlechter gestellter Kinder und Jugendlicher weisen ein höheres Risiko einer positiven Energiebilanz auf. Ihre Energieaufnahme übersteigt eher den Energieverbrauch, weil die gekauften, verfügbaren und letztlich konsumierten Nahrungsmittel einen höheren Energiegehalt und einen geringeren Gehalt an Mikronährstoffen aufweisen, als es bei typischen Warenkörben sozioökonomisch besser Gestellter der Fall ist. Kinder und Jugendliche aus niedrigen Statusgruppen essen beispielsweise weniger Gemüse und Obst und trinken mehr gesüßte Erfrischungsgetränke (Robertson et al. 2007). Besonders gravierende sozioökonomische Unterschiede zeigen sich bei Kindern und Jugendlichen z. B. hinsichtlich des Konsums von Softdrinks (Schneider et al. 2020). Recht einheitlich ist auch die Befundlage zur Energiebilanz auf der Verbrauchsseite: So ist für Kinder und Jugendliche bekannt, dass 20 uj 1 | 2022 Sozioökonomische und gesundheitliche Benachteiligung sozioökonomisch schlechter Gestellte weniger Sport treiben (Krug et al. 2018). In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass insbesondere sozioökonomisch schlechter gestellte Mädchen körperlich weniger aktiv sind und mehr sitzen als andere Jugendliche (Robertson et al. 2007). Neuere Erklärungsansätze - Die Lebenslaufperspektive Die Ätiologie von Adipositas und besonders ihre sozioökonomisch ungleiche Verteilung sind bisher noch nicht vollständig entschlüsselt. Wissenschaftlicher Konsens ist eine multifaktorielle Genese makro- und mikrofaktorieller Einflüsse (Reeske/ Spallek 2011). Hier konnten wir lediglich die wichtigsten in der Literatur diskutierten Determinanten des besagten Sozialgradienten skizzieren. Bereits im Zuge dieser verkürzten Darstellung wurde deutlich, dass die Erklärung dieser komplexen Wirkungszusammenhänge eine Betrachtung über den gesamten Lebenslauf erfordert. Schließlich haben einige Determinanten in verschiedenen Lebensphasen eine unterschiedlich große Bedeutung. Hinsichtlich der Relevanz weicht das zunächst bedeutsame Stillen mit zunehmendem Alter u. a. der elterlichen Tisch- und Esskultur, diese später der lokalen Schulverpflegung und schließlich der Stressbelastung am Ausbildungs- oder Studienplatz und der Walkability des Wohnquartiers. Aus Sozialepidemiologie und Medizinsoziologie ist bekannt, dass Einflussfaktoren gesundheitlicher Ungleichheiten während des gesamten Lebens interagieren und sich im Laufe der Zeit akkumulieren können. In den genannten Nachbardisziplinen hat sich deswegen in den letzten Jahrzehnten der Forschungszweig der Lebenslaufforschung etabliert. Reeske und Spallek fordern deswegen, bei der Adipositasprävention grundsätzlich stets sozioökonomische Aspekte - und dies idealerweise im Rahmen eines lebenslaufbasierten Ansatzes - mit zu berücksichtigen (Reeske/ Spallek 2011). Selektionsthese Unser Modell berücksichtigt auch die umgekehrte Wirkungsrichtung, also den Einfluss von Übergewicht und Adipositas auf den sozioökonomischen Status. Die auch als Driftthese bezeichnete Selektionsthese (Schneider 2002) ist in unserer Abbildung in Form eines retrograden Pfeils repräsentiert (Abb. 2). Dieser Kausalzusammenhang ist intrapersonell ebenso relevant wie interpersonell: Aus der Sozialpsychologie ist bekannt, dass adipöse im Vergleich zu schlanken respektive athletischen Personen in sozialen Kontexten benachteiligt werden (Puhl/ Heuer 2009). Intrapersonell ist ebenso denkbar, dass gesundheitliche Folgen des Übergewichts einem schulischen Aufstieg im Wege stehen. Interpersonell bedeutet die Selektionsthese, dass adipöse Eltern ihr Übergewichtsrisiko in gewissem Maße an die nächste Generation weitergeben. Auch aus der Sozialpädagogik sind Hinweise auf die Selektionsthese bekannt. Menschen, die übergewichtig bzw. adipös sind, wird durch andere häufig ein niedrigeres Einkommen und ein geringerer Bildungsgrad zugeschrieben als normalgewichtigen Personen. Negative Attribute wie Faulheit und eine geringe Intelligenz werden damit fälschlicherweise in Verbindung gebracht (Puhl/ Heuer 2009). Es wird unterstellt, dass Übergewicht selbstverschuldet sei und sich die Betroffenen nur nicht ausreichend um eine gesunde Lebensweise bemühen (Puhl/ Heuer 2009). Strukturelle Benachteiligungen, wie sie oben im Text bereits beschrieben wurden, werden dabei häufig außer Acht gelassen. Diese Stereotype gegenüber Menschen mit Übergewicht beeinflussen die Erwartungen, die an die betroffene Person gestellt werden. Erwartungen prägen die Interaktion zweier Personen miteinander, was im schulischen und universitären Lern- und Leistungskontext eine Rolle spielt. In einem Trainingsexperiment mit amerikanischen Studierenden hat sich zum Beispiel gezeigt, dass die Erwartungen von AusbilderInnen an die Leistung der Auszubildenden 21 uj 1 | 2022 Sozioökonomische und gesundheitliche Benachteiligung negativer war, wenn diese angeblich übergewichtig waren, als wenn sie als normalgewichtig beschrieben wurden. Das führte dazu, dass die Qualität der Instruktionen abnahm und in Folge dessen die vermeintlich übergewichtigen Auszubildenden im Durchschnitt eine schlechtere Leistung zeigten als die als normalgewichtig beschriebenen Pendants (Shapiro et al. 2007). Auch im Schulkontext konnte dieses Phänomen, das als Self-Fulfilling Prophecy bezeichnet wird, durch diverse Studien nachgewiesen werden (Meadows 2012). Es gibt einige Befunde, die darauf hinweisen, dass übergewichtige bzw. adipöse SchülerInnen schlechtere akademische Leistungen erzielen als normalgewichtige SchülerInnen, was zumindest teilweise an den Erwartungen der Lehrkräfte, Peers und Eltern an sie liegen könnte. Wenn mit Übergewicht über das Phänomen der Self-Fulfilling Prophecy tatsächlich eine geringere akademische Leistung einhergeht, kann sich das langfristig negativ auf den Sozialstatus der Betroffenen auswirken. Fazit Kinder und Jugendliche sind je nach ihrem Sozialstatus unterschiedlich von Übergewicht betroffen. Wir haben versucht, das komplexe multifaktorielle Geschehen aus adipogenen Umwelten, materieller Deprivation, Gesundheitskompetenzen, psychosozialen Stressoren und Ressourcen, genetischen, prä- und perinatalen Faktoren zu systematisieren. Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit sind zwei verschiedene und hochrelevante Entitäten. Selbst wenn es in den nächsten Jahren gelänge, die Ausbreitung von Adipositas in unserer Gesellschaft einzudämmen oder gar zu reduzieren, könnte die adipositasspezifische gesundheitliche Ungleichheit unverändert bleiben oder sich vergrößern. Nämlich dann, wenn gemäß des Phänomens des „preaching to the converted“ künftige Interventionen vor allem die oberen Statusgruppen erreichen. Deswegen konstatieren wir abschließend, dass eine Eindämmung sozioökonomischer Unterschiede bei der Adipositasprävalenz ohne eine interdisziplinäre Berücksichtigung des multifaktoriellen Geschehens und ohne konzertierte Interventionen auf Mikro- und Makroebene weiterhin kaum gelingen wird. Prof. Dr. phil. Sven Schneider Mannheimer Institut für Public Health, Sozial- und Präventivmedizin Universität Heidelberg Ludolf-Krehl-Straße 7 - 11 68167 Mannheim Tel. (06 21) 3 83 - 7 18 15 E.Mail: sven.schneider@medma. uni-heidelberg.de Literatur Becker, R. (1998): Bildung und Lebenserwartung in Deutschland. 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