unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2022.art17d
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Acht Thesen zur Digitalisierung in der Familienberatung und Familienbildung
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Rüdiger Dreier
Die Digitalisierung spielt in allen Lebensbereichen eine immer stärkere Rolle. Sie macht auch nicht vor der Sozialen Arbeit halt. Drei von vier Familien* (* Familie bedeutet Vielfalt. Es umfasst längst nicht mehr nur das klassische Bild von Familie) googeln im Internet, wenn sie Informationen zu Familienthemen benötigen. Der Ausbau und die aktive Nutzung digitaler Formate bietet der Familienberatung und Familienbildung wesentliche Entwicklungsmöglichkeiten, Familien in ihren (digitalen) Lebenswelten zu erreichen.
Nach der Vorstellung von drei aktuellen Lebenswelten wird in acht Thesen aufgezeigt, welches Potenzial die Digitalisierung der Familienberatung und Familienbildung bietet, um Familien in den nächsten Jahren niederschwellig und individuell über die Kanäle zu erreichen, die sie heute selbstverständlich im Alltag nutzen.
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122 unsere jugend, 74. Jg., S. 122 - 129 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art17d © Ernst Reinhardt Verlag Acht Thesen zur Digitalisierung in der Familienberatung und Familienbildung Die Digitalisierung spielt in allen Lebensbereichen eine immer stärkere Rolle. Sie macht auch nicht vor der Sozialen Arbeit halt. Drei von vier Familien* (* Familie bedeutet Vielfalt. Es umfasst längst nicht mehr nur das klassische Bild von Familie) googeln im Internet, wenn sie Informationen zu Familienthemen benötigen. Der Ausbau und die aktive Nutzung digitaler Formate bietet der Familienberatung und Familienbildung wesentliche Entwicklungsmöglichkeiten, Familien in ihren (digitalen) Lebenswelten zu erreichen. Nach der Vorstellung von drei aktuellen Lebenswelten wird in acht Thesen aufgezeigt, welches Potenzial die Digitalisierung der Familienberatung und Familienbildung bietet, um Familien in den nächsten Jahren niederschwellig und individuell über die Kanäle zu erreichen, die sie heute selbstverständlich im Alltag nutzen. von Rüdiger Dreier Jg. 1972; Dipl.-Sozialpädagoge, Familientherapeut, Stabsstelle Digitalisierung bei der Caritas Münster Drei Lebenswelten Anna Anna ist 13 Jahre alt. Anna fühlt sich einsam. Ihre Familie ist zerstritten. Anna hat keine Freunde. Um sich abzulenken, scrollt sie durch Instagram und TikTok. Überall sieht sie glückliche Mädchen. Die Einsamkeit schmerzt. Der Schmerz wird immer größer und ist nicht mehr auszuhalten. Sie fängt an sich selbst zu verletzen. Durch Zufall sieht sie in der Schule ein Plakat der Caritas-Onlineberatung. Anna scannt den QR-Code ab. Sie meldet sich im Portal an. Abends um 23 Uhr ist der Schmerz wieder sehr groß. Anna verspürt den Impuls, sich zu ritzen. Sie erinnert sich an die Onlineberatung. Anna nimmt ihr Smartphone und fängt an zu tippen. Es wird eine lange Nachricht. Gegen 0 Uhr schickt sie die Nachricht ab. Der Schmerz ist kleiner geworden. Anna legt sich ins Bett und schläft ein. Frau Schmidt, Mitarbeiterin der Familienberatung, öffnet am nächsten Tag ihr Online-Postfach. Sie findet die Nachricht von Anna. Gegen 11 Uhr hat sie ein freies Zeitfenster. Frau Schmidt setzt sich an den Laptop und schreibt: „Hallo Anna, vielen Dank für deine Nachricht! …“ Als sie mit ihrer Antwort zu Ende ist, klickt sie auf Abschicken. Wann immer Anna nun in ihr Postfach schaut, es wartet eine Nachricht auf sie. 123 uj 3 | 2022 Digitalisierung in der Familienberatung und -bildung Frau Glück Frau Glück lebt mit ihrer zweijährigen Tochter Luisa in einer Wohnung in Hamburg. Sie ist aus beruflichen Gründen in die Stadt gezogen. Familie hat sie dort keine. Der Vater von Luisa hat sich vor der Geburt von Frau Glück getrennt. Er lebt inzwischen in Freiburg. Luisa geht in eine U 3- Gruppe. In der Kita gibt es heute Abend um 20 Uhr einen Elternabend zum Thema „bindungsorientierte Erziehung“. Frau Glück würde sehr gerne an dem Elternabend teilnehmen. Leider hat sie keinen Babysitter für Luisa gefunden. Um 14.30 Uhr holt sie Luisa von der Kita ab. Bei der Gruppenleitung will sie für abends absagen. Sie erfährt, dass der Elternabend hybrid stattfindet. Abends um 20 Uhr schläft Luisa tief und fest. Frau Glück macht sich einen Tee, nimmt ihren Laptop, setzt sich auf ihr Sofa und wählt sich in den Elternabend ein. Herr Müller Herr Müller ist Fernfahrer. Sonntags um 22 Uhr verabschiedet er sich von seiner Frau und seinem neunjährigen Sohn Lukas. Er startet seinen Lkw und rollt los. Freitags gegen 17 Uhr stellt er den Lkw auf dem Parkplatz seiner Firma ab und geht nach Hause. Lukas ist in der Grundschule sehr auffällig. Auf Anraten der Klassenlehrerin suchen sie eine Familienberatung auf. Für den ersten Termin nimmt sich Herr Müller Urlaub. Im Gespräch macht der Familienberater, Herr Riese, den Vorschlag, alle zwei Wochen ein Elterngespräch per Video zu führen, damit auch Herr Müller an den Gesprächen teilnehmen kann. Die Familie findet die Idee sehr gut. Zwei Wochen später stellt Herr Müller um 17 Uhr seinen Lkw auf einem Rastplatz in Karlsruhe ab. Er nimmt sein Tablet zur Hand und wählt sich in das Videogespräch ein. Seine Frau und Herr Riese befinden sich schon im digitalen Beratungsraum. Das gemeinsame Gespräch kann beginnen. Drei Beispiele für typische Lebenswelten von Familien im Jahr 2021. Lebenswelten, die real sind. Lebenswelten, die von der Familienberatung und Familienbildung über reine Präsenzangebote nicht erreicht werden. 1 Digitalisierung ermöglicht orts- und zeitunabhängige Erreichbarkeit Die Lebenswirklichkeiten von Kindern, Jugendlichen und Eltern sind heute komplexer und vielschichtiger geworden. In immer mehr Familien sind die Elternteile berufstätig, die Kinder gehen bis nachmittags in die Kita oder kommen um 16 Uhr von der Schule nach Hause. Freizeitangebote folgen direkt im Anschluss. Eltern müssen die Care-Arbeit, Familie und Beruf eng aufeinander abstimmen. Der Besuch einer Beratungsstelle oder die Teilnahme an einem Kurs in der Familienbildung scheitert für diese Familien an den Öffnungs- und Angebotszeiten der Institutionen. Wie die drei Beispiele von digitaler Erreichbarkeit zeigen, ermöglichen digitale Kanäle eine Erweiterung der klassischen Beratungskanäle: Onlineberatung, die rund um die Uhr für Menschen in Krisen zur Verfügung steht; Messengerberatung, über die live oder zeitversetzt ortsunabhängig Beratung per Chat oder Video stattfinden kann; Kontaktformulare, über die Familien die Möglichkeit haben, ihre Anliegen direkt auf der Website der Beratungsstelle einzutippen; digitale Terminbuchung, über die Ratsuchende selbstständig zu jeder Tag- und Nachtzeit den Beratungskanal, den Tag und die Uhrzeit für ein Erst- oder Folgegespräch buchen können; hybride Angebote, die auch später noch als Video auf der Website der Familienbildung abrufbar sind. 2 Digitalisierung ist ein Baustein bei der Umsetzung kundInnenzentrierten Denkens und Handelns Wie die Lebenssituation von Anna, Frau Glück und Herrn Müller aufzeigen, können Kinder, Jugendliche und Eltern immer weniger die Angebotszeiten der sozialen Institutionen nutzen. Wenn Einrichtungen kundInnenzentriertes Denken und Handeln ernst nehmen wollen, 124 uj 3 | 2022 Digitalisierung in der Familienberatung und -bildung dann müssen sie für diese Familien zusätzliche Angebote entwickeln. Angebote, die Familien in deren jeweiligen digitalen Lebenswelten abholen, und Angebote, die Kinder, Jugendliche und Eltern in den Zeitfenstern nutzen können, die ihnen im Alltag verbleiben. Das ist heute nicht mehr unbedingt das Face-to-Face- Gespräch um 15 Uhr in der Beratungsstelle, wenn beide Eltern beruflich verhindert sind, Kinder und Jugendliche sich bis 16 Uhr in der Schule befinden oder ein Elternteil gerade mehrere hundert Kilometer entfernt ist. Es ist auch nicht mehr der Elternabend um 19.30 Uhr ausschließlich in Präsenz, wenn Mama und Papa gerade dabei sind, ihre Kinder ins Bett zu bringen, Eltern müde vom Tag auf dem Sofa sitzen oder Alleinerziehende niemanden finden, der oder die auf ihr Kind aufpassen kann. Dank der Digitalisierung können zusätzliche Formate angeboten werden, die von Familien flexibel und selbstbestimmt zu einer Zeit und an einem Ort ihrer Wahl genutzt werden können. So wie das heute viele Anbieter schon längst außerhalb der Sozialen Arbeit machen. Als zusätzliche digitale Formate eignen sich neben Online-, Messenger- und Videoberatung oder hybriden Angeboten zusätzliche, themenspezifische Formate wie Blogs, Podcasts und Videos bzw. Webinare on demand, die zu jeder Tages- und Nachtzeit abrufbar sind. Eine solche zusätzliche Angebotsvielfalt würde Eltern den Zugang zu Beratungsdiensten und Bildungsangeboten ermöglichen. 3 Digitale Kanäle sind als aufsuchendes Angebot gut geeignet Familienberatung findet bislang mehrheitlich in den Räumlichkeiten der Beratungsstellen oder eines Kooperationspartners statt. Präsenzgespräche heißt für die Zielgruppe, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein. Das ist nicht selten mit Aufwand und Stress verbunden. Gerade junge Familien profitieren von der Nutzung digitaler Kanäle. Wenn Videoberatung in der Mittagszeit angeboten wird, können Eltern während des Mittagsschlafs ihres Kindes ganz in Ruhe von zu Hause aus an dem Gespräch teilnehmen. Viele Eltern müssen, je nach Anfahrtsweg, für ein einstündiges Beratungsgespräch einen doppelten Zeitaufwand einkalkulieren. Den FamilienberaterInnen wird im Videogespräch ein kleiner Ausschnitt gezeigt, wie die Familie lebt. Sie lernen eventuell weitere Familienmitglieder kennen, wenn diese kurz ins Bild kommen. Sie können erleben, wie vollgepackt der Küchentisch ist oder wie das Wohnzimmer aussieht. Somit kann die Videoberatung zu einem kleinen Hausbesuch werden. Wenn in der Face-to-Face-Beratung die morgendliche Frühstückssituation Thema ist, können sich die FamilienberaterInnen per Video an einem Morgen dazuschalten. Oder eine Familie kann den nächsten vereinbarten Termin nicht in Präsenz wahrnehmen, sich dafür aber im digitalen Beratungsraum treffen. Zeitgleich können wichtige Unterlagen für das Gespräch abfotografiert und per Messenger direkt an die zuständige Familienberaterin geschickt werden. 4 Bewertungsportale nutzen heißt, transparent mit der Zufriedenheit der Zielgruppe umzugehen Wer im Internet unterwegs ist, nutzt sie auf die ein oder andere Weise: Online-Reputationen von KundInnen. Ob Sternchen, Noten oder Daumen hoch/ runter, auf nahezu allen Portalen und Internetauftritten sind sie zu finden. Für viele Internet-UserInnen gilt: Was im Internet nicht bewertet wird, gibt es nicht oder ist so schlecht, dass der Anbieter bewusst keine Bewertungsmöglichkeit bereitstellt. Mithilfe von Bewertungen wird die nächste Urlaubsreise über ein Reiseportal gebucht, eine neue Küchenmaschine gekauft oder ein Augenarzt in der Umgebung gesucht. Bewertungen von unbekannten Menschen unterstützen bei der Entscheidungsfin- 125 uj 3 | 2022 Digitalisierung in der Familienberatung und -bildung dung. Das ist nichts Neues, das war schon immer so. In der analogen Welt nennt man dies „Mund-zu-Mund-Propaganda“ oder „persönliche Empfehlungen“. Die spielen in der Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle. Viele Familien wenden sich an Institutionen, weil eine Person aus dem sozialen Umfeld die Familienberatung oder Familienbildung empfohlen hat. Was aber, wenn jemand in seinem Stadtteil nicht gut vernetzt ist oder niemandem von seinen Schwierigkeiten erzählen möchte? In der Regel greift diese Person zum Smartphone oder Tablet und sucht bei Google und Co. nach Unterstützungsmöglichkeiten. Die aufgelisteten Ergebnisse haben meistens keine besondere Aussagekraft. Der Link führt in der Regel zu einer kurzen inhaltlichen Beschreibung des Angebots, welches von der Einrichtung zur Verfügung gestellt wird. Die Hemmschwelle, eine Beratungsstelle aufzusuchen oder an einem Angebot der Familienbildung teilzunehmen, ist für viele Familien sehr hoch. Sie brauchen für eine Entscheidung mehr als nur eine Angebotsbeschreibung. Es ist ein großer emotionaler Unterschied, ob Familien eine persönliche Hilfe und Unterstützung suchen oder einen neuen Kühlschrank kaufen wollen. Familienberatung und Familienbildung hat viel mit Vertrauen und dem Gefühl zu tun, gut aufgehoben zu sein. Was ist im Vorfeld hilfreicher als persönliche Empfehlungen von Familien, die selbst schon einmal Hilfe und Unterstützung angenommen haben? Wie entscheiden sich Eltern, wenn sie folgende Bewertung lesen: „Ich möchte mich herzlich bei Ihnen bedanken. Für all Ihre Worte, für Ihr offenes Ohr. Nochmals vielen lieben Dank, dass Sie da waren, als es mir dreckig ging.“ Um Familien die Kontaktaufnahme zu familienbezogenen Leistungen so leicht wie möglich zu machen, ist die Bereitstellung eines Bewertungsportals ein wichtiger Baustein. Die Sorge vieler Institutionen, nur negative Bewertungen zu erhalten, ist unbegründet. Bewertungen können über Google und Co. jetzt schon abgegeben werden. Was Menschen, die unzufrieden mit einer Beratung waren, auch heute schon aktiv nutzen. Wenn aber Familien, die eine Beratung für sich genutzt haben, aktiv auf die Möglichkeit einer Bewertung hingewiesen werden, wird eine hohe Zufriedenheit deutlich. Das haben Studien bereits eindrücklich festgestellt und so zeigen es Erfahrungen von Beratungsangeboten, die sich im Netz bewerten lassen (z. B: www.elternleben.de). Eine weitere Möglichkeit, die Zufriedenheit der Zielgruppe transparent zu machen, ist die Verwendung von persönlichen Rückmeldungen auf der Website. Beispiel: „Wir danken Ihnen sehr für Ihre ausführliche Beratung. Sie haben uns damit sehr geholfen - Familie R.“ 5 Durch Nutzung von Social Media erreicht die Familienberatung und Familienbildung (neue) Zielgruppen In der sozialen Arbeit wird oft von Sozialräumen und Sozialraumorientierung gesprochen. Es gibt unterschiedliche Definitionen von „Sozialräumen“. Für eine immer größere Anzahl von Familien sind das Internet und Social Media zu einem eigenen digitalen Sozialraum geworden. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung von Sozialräumen in der analogen Welt ab. Kinder gehen heute mit einem oder zwei Jahren in die U 3-Gruppe oder zur Tagesmutter. Die Zeitspanne für eine Unterhaltung während der Bring- und Abholzeit ist kurz. Auch für einen kurzen Stopp im Elterncafé fehlt oftmals die Zeit. Gleichzeitig nehmen aus denselben Gründen immer weniger Eltern an den Kursen der Familienbildung teil. Eltern fehlt somit der Austausch im analogen Sozialraum. Wenn die „alten“ Sozialräume nur mit großem Aufwand für Eltern nutzbar sind, suchen sie sich neue Sozialräume, die sie flexibel, selbstbestimmt und eigenverantwortlich aufsuchen können. Sie finden diese Räume im Internet und in Social Media. In Facebook-Gruppen, WhatsApp-Chats, auf Familienblogs, Instagram 126 uj 3 | 2022 Digitalisierung in der Familienberatung und -bildung und Pinterest wird sich ausgetauscht, informiert und unterhalten. Dort finden sie ein großes Netzwerk an Müttern und Vätern, die sich in ähnlichen Lebenssituationen befinden und darüber sehr persönlich berichten. Die Familienberatung und Familienbildung ist in diesen Sozialräumen so gut wie nicht präsent. Wie aber können die Institutionen die vorhandenen Ressourcen der digitalen Sozialräume nutzen? Den Dialog mit Familien pflegen Familienberatung und Familienbildung können die digitalen Sozialräume dafür nutzen, mit Familien in einen Dialog zu treten. Wichtig ist, überhaupt auf den relevanten Kanälen präsent zu sein und mit den Zielgruppen ins Gespräch zu kommen. Dafür ist es notwendig, den Familien einen Mehrwert zu bieten, indem familienrelevante Angebote aus den analogen Sozialräumen digital mitgeteilt, für aktuelle Themen ein Gesprächsangebot unterbreitet und sich gegenseitig über die Kommentarfunktionen ausgetauscht wird - selbstverständlich nur über allgemeine Familienthemen. Persönliche Beratungsgespräche haben im digitalen Sozialraum genauso wenig zu suchen wie im analogen Sozialraum beim Elternfrühstück. Dafür gibt es in Präsenz und im Digitalen geschützte Bereiche. Niederschwellig Informationen weitergeben Über die digitalen Sozialräume können Einrichtungen niederschwellig Informationen weitergeben. Ob Erziehungstipps geteilt werden, über aktuelle Themen informiert oder das neue Kursangebot gepostet wird. Als Service für Familien können auch Informationen von Kooperationspartnern oder generell Informationen aus dem Wohnort über die Accounts der Einrichtung geteilt werden. Eltern müssen nicht erst einen bestimmten Newsletter abonnieren oder eine Tageszeitung kaufen. Die Informationen landen ohne großen Aufwand in ihren persönlichen Timelines. Familien haben es selbst in der Hand, ob sie anschließend weitere Informationen einholen oder auch nicht. Neue Inhalte und Angebote entwickeln Institutionen haben über den Austausch auf Social Media die Möglichkeit, neue Inhalte und Angebote zu entwickeln. Sie können beispielsweise über die Story ihre FollowerInnen fragen, was diese gerade beschäftigt und worüber sie gerne mehr erfahren möchten. Wenn mehrere Familien das gleiche Thema nennen, kann die Einrichtung dazu ein passendes Angebot entwickeln und parallel über Social Media das Thema aufgreifen. Gleichzeitig besteht die Chance, dass die BeraterInnen über die Community mitbekommen, worüber gerade im Netz diskutiert wird. Um sich über aktuelle Themen zu informieren, eignet sich auch die Teilnahme in themenspezifischen Facebook-Gruppen. Über die dort geteilten Kommentare können Fachkräfte Einblicke erhalten, worüber Eltern gerade diskutieren. Um bei den aktuellen Themen am Ball zu bleiben, ist es zusätzlich hilfreich, bestimmten Hashtags wie beispielsweise #lebenmitkindern, #coronaeltern, #mentalload, #bedürfnisorientiert etc. zu folgen. Durch Contentmarketing Familienberatung und Familienbildung bekannt(er) machen Viele Eltern kennen weder Familienberatung noch Familienbildung. Ein Weg, familienbezogene Leistungen bekannter zu machen, ist die Nutzung von Strategien aus der Werbung. Ziel ist es, durch regelmäßige Posts mit relevanten und wertvollen Inhalten die Angebote der Familienberatung und Familienbildung der Zielgruppe näherzubringen und in einem zweiten Schritt die Familien zu motivieren, bei Bedarf die Angebote der Institutionen zu nutzen. Es geht darum, Vertrauen auf- und mögliche Vorbehalte abzubauen. 127 uj 3 | 2022 Digitalisierung in der Familienberatung und -bildung Ratsuchenden Einblick geben Wie läuft eine Beratung ab, mit welchen Themen kommen andere Familien in die Beratungsstellen? Wer sitzt mir in der Beratung gegenüber? Viele Ratsuchende stellen sich diese und weitere Fragen. Über Social Media können die Einrichtungen regelmäßig „Takeover“ posten. Bei einem „Takeover“ übernimmt jemand vorübergehend den Account der Einrichtung, um eigene Inhalte zu erstellen und zu posten. Das kann eine Beraterin oder ein Berater aus dem Team sein, ein Kooperationspartner oder auch eine Influencerin oder ein Influencer aus dem analogen Sozialraum. Ziel ist es, an einem Tag individuell und persönlich von den eigenen Eindrücken und Erfahrungen in der Beratung zu berichten. Durch regelmäßige „Takeovers“ kann das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit in die Einrichtung erhöht und das Interesse für die Angebote geweckt werden. Ein „Takeover“ ist ein besonderes Ereignis, das Familien und auch MultiplikatorInnen dazu anregt, dem Account Aufmerksamkeit zu widmen, während der „Takeover“ stattfindet. Mithilfe eines „Takeovers“ können Familienberatung und Familienbildung auch weitere Zielgruppen erreichen, indem sie ortsansässige Familien-InfluencerInnen den Account für einen Tag zur Verfügung stellen und diese parallel auf ihren eigenen Kanälen davon berichten. Elternabende und Veranstaltungen digital bewerben Die digitalen Sozialräume eignen sich gut, auf eigene Angebote in Präsenz und im Digitalen hinzuweisen und Veranstaltungen zu bewerben. So kann zwei Wochen vor einem Elternabend der erste Post mit dem Datum und der Uhrzeit in Social Media geteilt werden. Drei Tage vor dem Event wird in der Story an den Elternabend erinnert. Am Tag des Elternabends folgt ein weiterer Post mit der genauen Beschreibung und einer Information über den Mehrwert für Familien. Mit etwas Glück teilen interessierte Eltern die Veranstaltung in ihrer Community und eine neue Zielgruppe wird erreicht. Elternabende live über Social Media niederschwellig anbieten Viele Eltern sind täglich in Social Media unterwegs. Das kann man gut oder schlecht finden - Fakt ist, sie nutzen die Kanäle. Daher macht es Sinn, den digitalen Sozialraum nicht nur für Werbeaktionen, sondern auch für die Präsentation eines Live-Elternabends oder eines Live-Kursangebots zu nutzen. Ein großer Vorteil von Live-Aktionen auf den digitalen Kanälen: Eltern können über Social Media die Veranstaltungen ohne großen Aufwand besuchen. Eltern sind schon da, sie müssen nicht erst den Kanal wechseln, es kommt zu keinem Medienbruch. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass das Video von dem Elternabend oder Kurs anschließend auf den Social-Media-Kanälen geteilt werden kann. So bleibt das Angebot auch für Eltern erreichbar, die an dem Zeitpunkt des Elternabends verhindert sind. Weiterer Mehrwert: Familien können in ihren Communitys das Video des Elternabends teilen. Die Reichweite der Angebote erhöht sich, ohne dass die Einrichtung viel investieren muss. 6 Ohne Ausbau der Digitalisierung wird die Familienberatung und die Familienbildung „Schiffbruch“ erleiden In vielen anderen Arbeitsfeldern ist es schon deutlich zu spüren: Durch die Digitalisierung kommt es zu massiven Veränderungen. Vor 128 uj 3 | 2022 Digitalisierung in der Familienberatung und -bildung 15 Jahren hätte sich niemand vorstellen können, dass Bankgeschäfte komplett digital abgewickelt werden. Selbst Kreditgeschäfte werden per Chat-, Mail- oder Videoberatung abgeschlossen. Jetzt ist die Bankwirtschaft nicht unbedingt eins zu eins mit der Sozialwirtschaft vergleichbar, aber es gibt Überschneidungen. Wenn die Zielgruppen der Familienberatung und Familienbildung in allen anderen Lebenslagen ganz selbstverständlich digital agieren können, werden sie immer weniger Verständnis dafür aufbringen, warum sie bezüglich familienbezogener Leistungen über analoge Hürden springen müssen, um Beratung und Unterstützung zu erhalten. Gleichzeitig wird die Sozialplattform von Bund, Ländern und Kommunen (Stichwort Online-Zugangsgesetz), die 2022 u. a. mit einer Onlineberatung und einem Terminbuchungsportal startet, den Druck auf alle Beratungsdienste in der Sozialen Arbeit erhöhen, eigene digitale Kanäle für die Zielgruppe anzubieten. Hinzu kommt, dass immer mehr gewerbliche Anbieter für die Bereiche Familienberatung und Familienbildung (kostenpflichtige) Angebote und Dienstleistungen entwickeln. Auch die technische Entwicklung bleibt nicht stehen. Chatbots bzw. die künstliche Intelligenz werden täglich weiterentwickelt. In wenigen Jahren können digitale „BeraterInnen“ fachlich fundierte Antworten auf die komplexesten Fragen geben. Was sie (noch) nicht können: Sie sind weder empathisch noch mitfühlend und Emotionen können sie auch nicht zeigen. Das ist wiederum eine Kernkompetenz der Mitarbeitenden in der Familienberatung und Familienbildung. Aus den oben genannten Gründen ist es wichtig, dass die Soziale Arbeit aktiv die Digitalisierung nach ihren ethischen Grundsätzen mitgestaltet und dass die Einrichtungen für die Zielgruppe in Präsenz und digital über Kommunikationskanäle erreichbar sind und bleiben. 7 Nur durch Kooperationen können hilfreiche Beratungstools datenschutzkonform entwickelt werden In Deutschland gibt es eine Vielzahl an Familienberatungsstellen und Einrichtungen der Familienbildung. Egal, ob es sich um freie oder öffentliche Träger handelt, keine dieser Einrichtungen schafft es ohne Kooperationen, hilfreiche datenschutzkonforme Beratungstools zu entwickeln und für die Zielgruppe attraktiv zu gestalten. Dafür sind die Entwicklungskosten zu hoch, es fehlt an Ressourcen, Wissen und eigener Reichweite. Positives Beispiel ist aktuell die Beratungsplattform der Caritas Deutschland. Der Quelltext der Software ist öffentlich zugänglich, kann geändert und genutzt werden (Stichwort Open Source). Die Diakonie Deutschland nutzt den Quellcode und entwickelt die Plattform für sich weiter. Die Erweiterungen stellt sie wiederum öffentlich zur Verfügung. Diese Erweiterungen werden von der Caritas in ihre Plattform integriert usw. Durch die Kooperation werden Entwicklungskosten reduziert und gemeinsam Marktanteile gewonnen. 8 Die aktuelle Refinanzierung passt nicht mehr zur (digitalen) Lebenswelt der Familien im Jahr 2021 Es gibt verschiedene Gründe, warum die aktuellen Refinanzierungsmodelle ein alter Hut sind. Sie alle aufzulisten, würde den Umfang sprengen. Daher an dieser Stelle nur vier (Negativ-) Beispiele: Notwendige technische Ausstattung und Ressourcen Die Erweiterung bzw. Bereitstellung digitaler Kanäle kostet Geld, viel Geld. Einrichtungen, die neben den Angeboten in Präsenz digitale Beratung anbieten wollen, brauchen dafür eine zusätzliche technische Ausstattung. Das fängt bei 129 uj 3 | 2022 Digitalisierung in der Familienberatung und -bildung digitalen Endgeräten an, geht über Beleuchtung, Ton, WLAN weiter und hört bei der Bereitstellung von datenschutzkonformen Tools wie Whiteboard, digitales Familienbrett etc. auf. Neben all der technischen Ausstattung werden u. a. dauerhaft zeitliche Ressourcen benötigt, um sich mit der fachlichen Weiterentwicklung auseinanderzusetzen, Tools auszuwählen und einzuführen, Mitarbeitende zu schulen oder den digitalen Wandel langfristig zu begleiten. Refinanziert sind diese Ressourcen bislang nicht. Spezielle Beratung Eine Familie bekommt über das Internet mit, dass in einer Beratungsstelle in Bremen eine Koryphäe zum Thema „Trauerarbeit mit Kindern“ arbeitet. In ihrem Landkreis in Norddeutschland gibt es keine Familienberatung, die zu dem Thema Beratung und Begleitung anbietet. Die Familie möchte mit der Beraterin einen Videoberatungstermin vereinbaren. Da die Familie nicht aus Bremen kommt, muss die Expertin den Beratungswunsch ablehnen. Digitaler Elternabend Wenn ein Träger digital einen Elternabend stadtweit zum Thema „Pubertät“ anbietet und 300 Eltern daran teilnehmen, kann die Einrichtung den Elternabend nur als eine Veranstaltung abrechnen. Für einen aufwendig entwickelten Elternabend, der als reines E-Learning-Video „on demand“ auf der Website 24/ 7/ 365 angeboten wird, gibt es aktuell noch gar kein passendes Refinanzierungsmodell - Ausnahme, die Einrichtung wird pauschal finanziert. Alle anderen Beratungsstellen und Bildungseinrichtungen können so ein Angebot nicht oder maximal als eine Veranstaltung abrechnen. Eine Abrechnung nach TeilnehmerInnen (über einen längeren Zeitraum) ist nicht möglich. Für Träger lohnt es sich heute daher noch immer, Elternabende in zehn und mehr Schulen in Präsenz anzubieten. Ob damit die Zielgruppe niederschwellig erreicht wird, spielt bei der Refinanzierung keine Rolle. Textbasierte Onlineberatung In Deutschland gibt es viele Gebiete, die viel Fläche, aber kaum EinwohnerInnen aufweisen. Der Weg zur nächsten Beratungsstelle oder Familienbildung kann dort sehr weit sein. Für Familien, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, auch zu weit. Diese Familien finden vielleicht über das Internet eine Onlineberatungsplattform wie die der Caritas oder der Diakonie. Sie melden sich dort an. Bevor sie ihr Anliegen aufschreiben können, wird ihnen mitgeteilt, dass für diese Region digital leider keine Fachkraft zur Verfügung steht. Sie müssten sich an die Beratungsstelle in Präsenz in ihrer Kommune wenden. Dabei gibt es eigentlich genug Online-BeraterInnen, die bereit wären, die Anfrage zu beantworten. Nur sind sie regional nicht zuständig, da sie nur Anfragen aus ihrer eigenen Stadt bzw. Kommune annehmen dürfen. Gedanken zum Abschluss Unsere Familienberatung und Familienbildung von morgen entscheiden wir im Heute. Warum? Weil Digitalisierung nicht innerhalb von 72 Stunden umgesetzt werden kann. Weil viele Vorüberlegungen notwendig sind. Weil die gleichberechtigte Nutzung der Beratungskanäle in Präsenz und digital als ein tiefgreifender Organisationsentwicklungsprozess verstanden werden muss. Um in Zukunft mehr Menschen wie Anna, Frau Glück und Herrn Müller erreichen zu können, müssen wir heute Entscheidungen treffen, die sich größtenteils erst morgen auf unsere Arbeitsfelder auswirken. Rüdiger Dreier Weidenweg 12 B 48153 Münster Tel.: (01 71) 7 17 89 64 E-Mail: ruediger.dreier@online.de
