unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2022.art29d
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Welche Chancen birgt der Ampel-Koalitionsvertrag für belastete Kinder und Jugendliche?
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Marc Schmid
Jörg M. Fegert
Der Ampel-Koalitionsvertrag greift unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ aus Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie viele hoch relevante und viel diskutierte Themen auf und ist dort in Anbetracht des jahrelangen Stillstandes sehr ambitioniert. Gerade wenn die Schwächsten in prekären Lebenslagen gestärkt werden sollen, braucht es ein engeres Zusammenwirken an den sogenannten Schnittstellen zwischen den Systemen Gesundheitswesen, Jugendhilfe, Teilhabeförderung und Soziales. Hier sollen deutliche Veränderungen umgesetzt werden, hinter denen, wie bei der Kindergrundsicherung, Milliardenbeträge und grundlegende Reformen stehen. Viele wichtige Themen und Aspekte werden im Koalitionsvertrag angesprochen, allerdings fehlen häufig konkrete Umsetzungsvorschläge. In vielen übergeordneten Bereichen, z.B. in der Gesundheitsprävention, fokussiert der Vertrag fast ausschließlich auf die Bedarfe von Erwachsenen. Es wird deshalb auch darum gehen, diese wichtigen Inhalte im Koalitionsvertrag in ihrer Bedeutung für Kinder und Jugendliche aufzugreifen. Der folgende Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern diskutiert zentrale Themen aus der Sicht der kooperierenden Hilfesysteme, welche Kinder und Jugendliche in Problemlagen versorgen.
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194 unsere jugend, 74. Jg., S. 194 - 208 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art29d © Ernst Reinhardt Verlag Welche Chancen birgt der Ampel-Koalitionsvertrag für belastete Kinder und Jugendliche? Was bedeutet dies für die Heilberufe und die psychosozialen Hilfssysteme? Der Ampel-Koalitionsvertrag greift unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ aus Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie/ -psychotherapie viele hoch relevante und viel diskutierte Themen auf und ist dort in Anbetracht des jahrelangen Stillstandes sehr ambitioniert. Gerade wenn die Schwächsten in prekären Lebenslagen gestärkt werden sollen, braucht es ein engeres Zusammenwirken an den sogenannten Schnittstellen zwischen den Systemen Gesundheitswesen, Jugendhilfe, Teilhabeförderung und Soziales. Hier sollen deutliche Veränderungen umgesetzt werden, hinter denen, wie bei der Kindergrundsicherung, Milliardenbeträge und grundlegende Reformen stehen. Viele wichtige Themen und Aspekte werden im Koalitionsvertrag angesprochen, allerdings fehlen häufig konkrete Umsetzungsvorschläge. In vielen übergeordneten Bereichen, z. B. in der Gesundheitsprävention, fokussiert der Vertrag fast ausschließlich auf die Bedarfe von Erwachsenen. Es wird deshalb auch darum gehen, diese wichtigen Inhalte im Koalitionsvertrag in ihrer Bedeutung für Kinder und Jugendliche aufzugreifen. Der folgende Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern diskutiert zentrale Themen aus der Sicht der kooperierenden Hilfesysteme, welche Kinder und Jugendliche in Problemlagen versorgen. von PD Dr. Dipl.-Psych. Marc Schmid Jg. 1971; ist leitender Psychologe der Klinik für Kinder und Jugendliche und Leiter des Zentrums für Liaison und aufsuchende Hilfen der Universitären PsychiatrischenKlinikenBasel(UPK). Er ist Mitglied der Kursleitung des Instituts für Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter der Universitätskliniken Basel, Bern, Zürich (IPKJ) und Vorstand der Deutschsprachigen Gesellschaftfür Psychotraumatologie (DeGPT). Des Weiteren leitet er eine Forschungsgruppe an der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Schnittstelle zwischen Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie, außerfamiliär platzierte Kinder, Be- und Entlastung vonpsychosozialen Fachkräften,Traumapädagogik und Multisystemische Therapie (MST ). Prof. Dr. Jörg M. Fegert Jg. 1956; ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, Past- Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), President Elect (2023 − 2027) der europäischen Fachgesellschaft European Society for Child and Adolescent Psychiatry (ESCAP). Er ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie Mitglied im Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Er ist darüber hinaus Vorstandsmitglied der Aktion Psychisch Kranke e.V. (APK), Präsident der Deutschen Traumastiftung e.V., Sprecher des Zentrums für Traumaforschung und Mitglied im Deutschen Komitee für UNICEF e.V. 195 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen Beim Lesen der 177 Seiten des Koalitionsvertrags wird deutlich, dass die Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“ ernst gemeint ist und wichtige Themen in Bezug auf Jugendliche mit Problemlagen endlich aufgegriffen werden. Diese Themen beschäftigen sowohl die öffentliche und freie Jugendhilfe als auch das Gesundheitswesen, insbesondere die Kinder- und Jugendpsychiatrie/ -psychotherapie schon lange und intensiv, wurden bisher aber auf politischer Ebene zum Teil auch aus Angst vor Ressortkonflikten nicht „angefasst“. Zugegebenermaßen war es wichtig, mit der Verabschiedung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes endlich eine SGB-VIII-Reform, welche diesen Namen verdient, mit breiter Beteiligung erfolgreich auf den Weg zu bringen. Diese Reform, welche nun in der Praxis umgesetzt werden muss und viele Herausforderungen stellt, hat, wie man am Koalitionsvertrag sieht, auch die Tür aufgestoßen für neue Themen und Vorhaben, die dort in einer sehr konkreten Sprache aufgegriffen werden. Klare Formulierungen wie „wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen“ oder der „Bund beteiligt sich“ aus der Feder von politisch Handelnden überraschen fast, da klar ist, dass man sich bei solch mutigen Formulierungen dann auch an Ergebnissen messen lassen muss und schon manch guter konsensfähiger politischer Vorsatz die Konfrontation mit den finanziellen Herausforderungen sogenannter Realpolitik nicht überlebt hat. Umso mehr ist dem Mut zum Fortschritt in diesem Papier Respekt zu zollen. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Themen Jugendhilfe, Abgabe von Cannabis, interpersonelle Gewalt, Reform des Familienrechts und die Fragen rund um Ausbildung und Arbeitsintegration. Auch die geplante schnellere Umsetzung der inklusiven Lösung, die die Perspektive auf die Zusammenarbeit zwischen den Systemen zur Verbesserung der Teilhabe öffnet, werden in diesem Beitrag angesprochen. Andere Bereiche mit wichtigen Neuerungen für Kinder, Jugendliche und Familien wie die Frage nach familienfeindlichen Arbeitszeiten in der Pflege, Verlängerung der Elternzeit und Urlaubstage bei Erkrankung von Kindern (gerade in der Coronapandemie wichtig), Verlängerung des Bezuges des Elterngeldes etc. werden wir bei dieser Kurzübersicht nicht thematisieren können, obwohl sie große Bedeutung haben. Gleichzeitig müssen wir Dinge ansprechen, welche in ihrer Bedeutung für Kinder und Jugendliche im Koalitionsvertrag nicht explizit genannt werden, um deutlich zu machen, dass diese Baustellen natürlich auch in ihren Spezifika für Kinder und Jugendliche aufgegriffen werden müssen. Insbesondere in den Bereichen Inklusion, Prävention und Gesundheitsversorgung ist von den besonderen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen kaum die Rede. Gerade die interdisziplinären Herausforderungen bei der Versorgung von psychisch kranken und belasteten Kindern und Jugendlichen werden viel zu wenig erwähnt, obgleich hier erhebliche Optimierungsbedarfe und echte Versorgungsnotlagen bestehen (APK 2019, 2021), wie die Versorgungsengpässe während der Covid-Pandemie nochmals deutlich offenlegten (Diethelm- Knoepfel 2021). Nur bei der Reform der psychotherapeutischen Bedarfsplanung mit dem Ziel, die Versorgung zu verbessern und Wartezeiten zu verringern, werden Kinder und Jugendliche explizit aufgeführt, was zu begrüßen ist, aber natürlich nicht ausreicht. Beginnen wir mit den großen Themen: Es besteht die Absicht, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, ein Monitoring für die Umsetzung der Kinderrechtskonvention aufzubauen und eine Kindergrundsicherung einzuführen. Kinderrechte ins Grundgesetz Schon seit vielen Jahren engagieren sich das Aktionsbündnis „Kinderrechte ins Grundgesetz“ und inzwischen über 100 weitere Organisationen und Verbände, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Dabei geht es darum, die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention sicherzustellen, die Lücken, die es bei der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland gibt, zu schließen und die Politik konsequenter am 196 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen Kindeswohl auszurichten. Durch eine Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz verspricht man sich eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung und eine höhere politische sowie juristische Präsenz der Kinderrechte. In repräsentativen Umfragen befürworten über 80 % der Bevölkerung diesen Schritt. Bereits die große Koalition hatte die Einführung von Kinderrechten in die Verfassung auf ihrem Programm. Allerdings fand der spät im Frühjahr 2021 eingebrachte, wachsweiche Vorschlag, welcher vorbei an der UN-Kinderrechtskonvention eben nicht die vorrangige Berücksichtigung der Interessen von Kindern und Jugendlichen forderte, von keiner Seite wirklich Zustimmung. Gerade die aktuellen Entwicklungen nach zwei Jahren Pandemiekrise zeigen, dass es wichtig ist, diese vorrangige Berücksichtigung der Interessen von Kindern und Jugendlichen in der Verfassung zu betonen. Die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz ist also bei Weitem nicht nur ein symbolischer Akt, sondern ein wichtiger Schritt hin zu einer kindgerechteren Gesellschaft, kindersensibleren Politik, Verwaltungspraxis und Justiz. Das Argument, dass Kinder ja auch Menschen seien und ihre Grundrechte auf Unversehrtheit etc. deshalb bereits ausreichend geschützt seien, geht ins Leere, wenn man die Einführung von Kinderrechten in die Verfassung nicht im Kontext von Artikel 6 Grundgesetz an der Schwelle zwischen Elternrechten und Kinderschutz diskutiert, die aus unserer Sicht tatsächlich hinreichend gefasst ist, sondern sich im Sinne der Persönlichkeitsentfaltung auf die jeweiligen Entwicklungsbedürfnisse und besonderen gesellschaftlichen Schutzbedürfnisse von Kindern konzentriert. Tatsächlich wird ja Deutschland bei der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention selbst in den eigenen Berichten nicht wirklich ein gutes Zeugnis ausgestellt (BMFSFJ 2019). Deshalb ist das in Aussicht gestellte Monitoring zur Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention vielversprechend und geht weit über die jetzigen Staatenberichte hinaus. Dies betrifft Debatten über Zukunftsthemen wie Klimaschutz, Generationengerechtigkeit, Familienrecht, Verwaltungsverfahren etc., in denen die Perspektive von Kindern viel deutlicher eingenommen werden muss. Gerade die Debatten um Qualifikationsvoraussetzung, z. B. von FamilienrichterInnen, im Rahmen des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt haben gezeigt, dass vielen JuristInnen nach dem Studium und zweiten Staatsexamen die verfahrensrechtlichen Regelungen zum Schutz und zur besonderen Berücksichtigung von Kindern und Jugendlichen nicht bekannt sind. Zwar sichert die UN-Kinderrechtskonvention Kindern und Jugendlichen Information und Berücksichtigung in allen sie betreffenden Verfahren zu, allerdings wird das in der Praxis nach wie vor vielerorts nicht berücksichtigt. Weil Familienrecht häufig kein prüfungsrelevanter Stoff ist, wird es in der Ausbildung auch nicht mehr gelernt. Die Verfassung kennt jeder Jurist und jede Juristin. Gerade deshalb ist es wichtig, die spezifischen Entwicklungs- und Förderungsbedarfe und Schutzbedürfnisse von Kindern und ihr Recht auf Gehör, Information und Beteiligung vor die Klammer zu ziehen und in der Verfassung zu verankern. Der ebenfalls im Koalitionsvertrag beschriebene Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung bietet sich dabei für Fortschritte in der Umsetzung hervorragend an. Kindergrundsicherung Ein wesentlicher Aspekt der Kindergrundsicherung ist - neben dem Kampf gegen Kinderarmut und der Sicherstellung eines Mindestmaßes an Teilhabe von Kindern - die Entbürokratisierung der sozialen Transferleistungen für Kinder. Dies wird durch eine Zusammenführung von verschiedenen familienbezogenen Leistungen zu einer einzelnen, einkommensabhängigen Leistung erreicht. In der Praxis hat sich immer wieder gezeigt, dass Familien überfordert sind, viele gut gemeinte Hilfen, die ihnen zustehen 197 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen würden, zu beantragen. Gerade alleinerziehende Eltern sind häufiger armutsgefährdet (Bertelsmann Stiftung 2020). Weshalb in diesem Zusammenhang das vom wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen seit mehr als zwei Jahrzehnten ebenfalls kritisierte Ehegattensplitting mit seinen Fehlanreizen nicht angegangen wurde und damit die sozialen Sicherungssysteme nach wie vor auf ein Alleinverdienermodell der Fünfzigerjahre ausgerichtet bleiben, ist gerade auch mit Blick auf die prospektive soziale Sicherheit von Kindern aus Mittelschichtfamilien unverständlich bzw. nicht nachvollziehbar. In Deutschland lebt jedes 5. Kind in Armut und 13,8 % aller Kinder leben in Familien, die Sozialleistungen aus dem SGB II beziehen (Bertelsmann Stiftung 2020). Das relative Risiko, im Erwachsenenalter arm zu sein, ist 75-mal größer, wenn man in eine arme Familie geboren wurde. Gerade in der Adoleszenz zeigen sich die Unterschiede in den reichen Nationen besonders stark - junge Erwachsene aus armen Familien wollen und müssen sehr schnell unabhängig werden oder mit ihrem Einkommen die Familie unterstützen, wohingegen junge Erwachsene aus wohlhabenden Elternhäusern gerade in diesem Alter hohe Transferleistungen und Investitionen in ihre Ausbildung erhalten. Deshalb wäre es wichtig, die Kindergrundsicherung bis in die Adoleszenz zu bezahlen, da sich dort die Ungleichheit am deutlichsten manifestiert (Kendig et al. 2014) und wohlhabende Eltern bis zum Abschluss des Studiums ihrer Kinder von Kinderfreibeträgen profitieren. Wir begrüßen die Kindergrundsicherung als Möglichkeit, die sozialen und psychischen Folgen von Kinderarmut zu reduzieren und die Zukunftschancen vieler Kinder und Jugendlicher zu erhöhen. Die negativen Folgen von Kinderarmut zeigen sich in vielen Studien; der gravierend negative Einfluss von Armut auf die Hirnentwicklung von Kindern ist zum Beispiel gut belegt (Farah 2018), auch zeigen sich Zusammenhänge mit psychischen Belastungen (Vukojević et al. 2017). Auch in epidemiologischen Studien aus Deutschland zeigt sich, dass die Kinder aus ärmeren Familien psychisch häufiger und stärker belastet sind (Reiss et al. 2019), wobei hier weniger das Einkommen der Familie als die Bildungsferne eine Rolle zu spielen scheint (Besser et al. 2019). Aus entwicklungspsychopathologischer Sicht akkumulieren sich bei armen Familien oft mehrere Risikofaktoren, welche die Entwicklungschancen schmälern (Reiss et al. 2019; Hefti et al. 2016). Allgemein ist es wichtig, Kinderarmut nicht nur durch abstrakte Zahlen zu definieren, sondern auch das konkrete Erleben von Exklusion der Kinder miteinzubeziehen: es ist belastend, wenn man aus finanziellen Gründen oder aus Angst vor Stigmatisierung nicht auf die Klassenfahrt mitgehen kann, keine Kindergeburtstage feiern und seine FreundInnen nicht mit nach Hause nehmen kann. Gerade in der langen Pandemiephase zeigte sich verstärkt, dass beengte Wohnverhältnisse hochproblematisch sind, da der Stress im Haushalt hier natürlich deutlich ansteigt. Das von der WHO propagierte „One Health“, welches die Bedeutung der Umweltbedingungen im Zusammenspiel mit Gesundheit oder Krankheit thematisiert, sollte gezielt als „One Mental Health for Children and Adolescents“ ausbuchstabiert werden. Wir müssen z. B. im Städtebau die Zusammenhänge zwischen Wohnumfeld und Resilienz und Entwicklungskrisen stärker in den Blick nehmen, da z. B. bekannt ist, dass der Drang, beengte Wohnverhältnisse zu verlassen, zu mehr unstrukturierter Zeit mit Peers führen kann, was bei vulnerablen Jugendlichen wiederum problematische Entwicklungen begünstigen kann (Hoeben/ Weermann 2016). Einige Studien zeigen, dass eine finanzielle Besserstellung von Familien die psychische Gesundheit der Kinder und deren Bildungschancen verbessert (z. B. Costello et al. 2003), wobei es wohl weniger um Geldtransferleistungen als um den reduzierten Stress in den Familien geht. Zudem korrelieren elterlicher Stress und geringes Einkommen hoch. Beides korreliert wiederum damit, dass keine psychosozialen oder kinder- und jugendpsychiatrischen Angebote 198 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen in Anspruch genommen werden, auch wenn die Kinder bereits deutlich belastet sind (Hefti et al. 2016; Castro-Ramirez et al. 2021). Die Kindergrundsicherung bietet somit viele Vorteile, ist aber natürlich auch eine sehr kostenintensive Maßnahme - das IFO Institut rechnet mit mehr als 27 Milliarden Euro (Blömer et al. 2021). Wichtig wird sein, dass die Wirkung dieser weitgehenden Reform genau evaluiert wird. Wenn sie ihre intendierte Wirkung entfalten soll, darf sie auf der anderen Seite nicht dazu führen, dass Investitionen in die Lebensumwelt, in die Betreuungsinfrastruktur, in Ganztagsschulen und in die individuelle Förderung von Kindern in Bezug auf ihre Teilhabechancen zurückgefahren werden. Die Potenziale solcher Angebote, z. B. der Ganztagsbetreuung, können nicht hoch genug geschätzt werden, während bei Geldtransfers immer das Risiko bleibt, dass für die Unterstützung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gedachtes Geld nicht direkt den Kindern und deren sozialer Teilhabe zugutekommt. Kinderschutz und kindersensible Justiz Prävention und Kinderschutz sollen gestärkt und die Justiz soll für Kinderschutzthemen sensibilisiert und besser ausgebildet werden, sodass kindgerechter gehandelt werden kann - der Fortbildungsanspruch für FamilienrichterInnen wird im Koalitionsvertrag ausdrücklich nochmals erwähnt. Hier besteht ein großer, nun auch rechtlich normierter Weiterbildungsbedarf, der durch die Verstetigung von Modellprojekten wie „Gute Kinderschutzverfahren“ (https: / / gute verfahren.elearning-kinderschutz.de/ ) für die interdisziplinäre Zusammenarbeit im familiengerichtlichen Verfahren wenigstens teilweise gedeckt werden muss. Die Arbeit des/ der unabhängigen Beauftragten des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) soll verstetigt und auf einer gesetzlichen Basis verankert werden. Dies ist ebenso nachdrücklich zu begrüßen wie die vorgesehene Berichtspflicht im Bundestag. Es wird nun, wie vom „Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ vorgeschlagen, ein adäquates Monitoring, nicht nur im Hellfeld, sondern auch im Dunkelfeld aufgebaut. Somit können dauerhaft Themen in die Politik eingebracht werden, und es kann überhaupt erst überprüft werden, welche Wirkungen Präventionsansätze und gut gemeinte Reformen, z. B. im Sexualstrafrecht, tatsächlich haben. Das ist ein bedeutsamer Erfolg, da es die Möglichkeit bietet, dauerhaft relevante Themen in die Politik einzuspielen und die Prävention, den Schutz, Behandlungs- und Versorgungskonzepte, aber auch die Strafverfolgung über die nächsten Legislaturperioden hinweg auf der politischen Agenda halten zu können. Die (bundes-)länderübergreifende Zusammenarbeit in Kinderschutzfällen soll verbessert werden, und es sollen einheitliche Standards und Meldeketten etabliert werden. Telefon und Onlineangebote zur Unterstützung von Fachkräften im Kinderschutz sollen finanziell abgesichert werden. Das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Bericht für die europäische Region (Sethi et al. 2018) hervorgehobene Projekt der rund um die Uhr erreichbaren, kollegialen Fachberatung „Medizinische Kinderschutzhotline“, welche seit 2020 auch für Beratungsfragen zu heilberuflichen Fragestellungen aus der Jugendhilfe und der Familiengerichtsbarkeit offen ist, kann also ebenso wie die direkten Angebote des Hilfetelefons des UBSKM in eine gesicherte Zukunft schauen. Die Mittel der Stiftung „Frühe Hilfen“ sollen dynamisiert werden, um passgenau für gefährdete Familien eingesetzt und regional an die bestehenden Strukturen gut angepasst werden zu können - zentral ist insbesondere die Finanzierung der Lotsendienste. Familien in prekären Lebenslagen können so in ärztlichen Praxen, Geburtskliniken und Schwangeren-Beratungsstellen für die geeigneten Hilfen motiviert und in diese überführt werden. 199 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen Im Bereich der inneren Sicherheit und Justiz soll das Bundeskriminalamt für den Kampf gegen Kinderpornografie personell gestärkt und die Informationsweitergabe zwischen Behörden unter Wahrung des Datenschutzes erleichtert werden. Zudem sollen gesetzliche Grundlagen für die Aufarbeitung struktureller sexueller Gewalt in Vereinen und Kirchen geschaffen und nachgebessert werden. Inklusive Jugendhilfe Die inklusive Jugendhilfe soll über einen Beteiligungsprozess der Verbände, der Kommunen und Länder umgesetzt und in dieser Legislatur gesetzlich geregelt werden. Nachdem das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz zwar eine prinzipielle Einigung, aber einen unglaublich langen, mit vielen Risiken behafteten Zeitplan in Bezug auf die Umsetzung gebracht hat, ist dies nun eine klare Ansage. Fachverbände fordern die sogenannte „große Lösung“, im späteren auch die „inklusive Lösung“ seit Jahrzehnten. Im Prinzip wurde dies schon vor der Einführung des SGB VIII gefordert. Auch im 13. und 14. Kinder- und Jugendbericht wurde eine solche Lösung, welche die Teilhabeförderung für Kinder und Jugendliche in der Jugendhilfe regelt, explizit angemahnt, denn die Vorgaben durch die UN-Kinderrechts- und Behindertenrechtskonvention sind hier sehr klar. Auch die Argumente für eine inklusive Jugendhilfe, in der die Eingliederungshilfe für alle Kinder und Jugendlichen zentral im Jugendamt organisiert würden, liegen seit Langem auf dem Tisch. Es ergibt keinen Sinn, unterschiedliche Behinderungsformen unterschiedlichen Zuständigkeiten zuzuweisen. Häufig kommen auch Behinderungsformen kombiniert vor und es geht bei der Sicherung der Teilhabe eben nicht nur um Schule, sondern um alle Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen. Die Chance besteht darin, viel flexiblere Netzwerke aus schulischen, ambulanten und teilstationären Settings sowie medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen entwickeln zu können (Deutsches Institut für Urbanistik 2015; Fegert 2015; AGJ 2012, 2013). Dabei wird sich die öffentliche Jugendhilfe sehr viel stärker auch als Reha- Träger profilieren und die dahinterliegenden Rahmenbedingungen im SGB IX berücksichtigen müssen. Im Gegensatz zu den Vorschlägen aus manchen Ländern, z. B. Baden-Württemberg, ist im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz der § 35 a SGB VIII in Bezug auf die Feststellungsgrundlagen unverändert geblieben. Damit braucht es zukünftig nur noch im Kindes- und Jugendalter die Feststellung einer psychischen Störung als Voraussetzung für die Gewährung von Hilfe, während andererseits zukünftig, wie bei Erwachsenen, gleichzeitig zu den beeinträchtigten Funktionsbereichen im Sinne der ICF (International Classification of Functioning) (WHO 2007) Stellung genommen werden muss. Das gilt auch für die Jugendhilfe. Hier entsteht dadurch ein enormer Fortbildungsbedarf zu inhaltlicher, altersentsprechender Fundierung von Entscheidungen, die auch in Bezug auf die Entscheidungsgrundlagen gerichtsfest sein müssen. Die Angehörigen der Heilberufe, die in § 35 a SGB VIII explizit genannt sind, müssen nicht nur die Umstellung auf ein neues Klassifikationssystem der Krankheiten in der deutschen Version (ICD-11 GM) (WHO 2019) bewältigen, sondern sie müssen gleichzeitig in ihrer Stellungnahme, im Sinne eines Reha-rechtlichen Gutachtens, auch die Funktionsbeeinträchtigungen beschreiben. Hieraus wird ein enormer Veränderungs- und Fortbildungsbedarf in der Praxis resultieren. Doch das sind nicht die einzigen „dicken Bretter“, welche gebohrt werden müssen. Insbesondere müssen die Sorgen von Eltern mit Kindern, deren Hilfe zur Teilhabe bislang aus dem SGB-IX-Kontext gewährt wurden, vor der Zuständigkeit der Jugendhilfe aufgelöst werden. In der Jugendhilfe wiederum muss die Scheu vor den ehemaligen Instrumenten der Eingliederungshilfe dringend abgebaut werden. Schon unsere Ulmer Heimkinderstudie hat gezeigt, dass viele Kinder und Jugendliche mit Teil- 200 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen habebeeinträchtigung aufgrund einer sogenannten „drohenden seelischen Behinderung“ in der Heimerziehung keine Hilfen nach § 35 a SGB VIII erhalten haben (Schmid/ Fegert 2006). Schon in der vorletzten Legislaturperiode hat ein Projekt für das BMFSFJ (Kooperation DJI/ Uni Ulm) Vorschläge für eine rechtskonforme und altersadäquate Erhebung des Teilhabebedarfs entwickelt (Möhrle et al. 2019). Nun braucht es dringend Modellprojekte, um die teilweise an unterschiedlichen Orten vorhandenen Kompetenzen zusammenzubringen und Jugendämter zu Kompetenzzentren der Teilhabeförderung in der interdisziplinären Praxis zu machen. Die Biopro-Initiative Baden-Württemberg fördert hier in vier Modellregionen die Entwicklung und den Einsatz eines digitalen Erhebungsinstrumentes für die partizipative Unterstützung von jungen Menschen im Transitionsalter, da sich gerade hier der vorhandene Bruch zwischen den Vorgehensweisen im Sozialgesetzbuch VIII und Sozialgesetzbuch IX besonders eklatant zeigt. Auch in diesen Bereichen braucht es Pilotprojekte und verlässliche Erhebungsinstrumente, mit denen der Eingliederungsbedarf gerade auch von komplexen Fällen verlässlich erfasst und der Hilfeplanung zugänglich gemacht werden kann. Vermutlich ist es sinnvoll, Kompetenzbereiche aus Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Sozialer Arbeit, Psychologie und Medizin gezielt in Kompetenzzentren in den Jugendämtern zusammenzuführen. Mehr Schutz und bessere Unterstützung für Heim-, Pflege- und Adoptivkinder Neben den wichtigen Reformen im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz zum Schutz und zur Unterstützung von Heim- und insbesondere Pflegekindern, ist eine wichtige, lange geforderte Neuerung, dass Heim-, Pflege- und Adoptivkinder ihr hinzuverdientes Geld nun vollumfänglich behalten dürfen sollen und dieses nicht mehr auf die Sozialleistungen ihrer leiblichen Eltern angerechnet werden kann. Dies schafft endlich für viele Jugendliche und junge Erwachsene in der Transitionsphase die notwendigen Voraussetzungen, um z. B. im Rahmen einer begonnenen Ausbildung oder eines Ferienjobs Geld für den sehnlich erwünschten Führerschein, eine Wohnung oder Reisen anzusparen etc. und bietet somit Anreize für eine eigene verantwortliche Zukunftsplanung und Lebensgestaltung und erlaubt es, Barrieren zu den Lebenswelten von jungen Menschen aus Mittelschichtsfamilien abzubauen. Straßenkinder, Initiativen gegen Obdachlosigkeit Der Koalitionsvertrag sieht vor, den Zugang zu medizinischen Leistungen zu erleichtern und insbesondere bei jungen Obdachlosen sogenannte Housing-First-Konzepte umzusetzen, um dadurch überhaupt die Grundlagen dafür zu schaffen, mit diesen höchst belasteten jungen Menschen wieder in eine sinnvolle Hilfeplanung einsteigen zu können. Letztlich ist gerade zur Obdachlosigkeit von AdoleszentInnen und Jugendlichen mit dem Lebensmittelpunkt Straße anzumerken, dass hier die Datenbasis noch sehr dünn ist. Es ist erschreckend, wie wenig man über die Lebenssituation und die Hilfebedarfe der schätzungsweise 6.000 wohnungslosen Jugendlichen (bis 18 Jahre) und 37.000 obdachlosen AdoleszentInnen (unter 27 Jahren) weiß (Beierle/ Hoch 2017). Einige Studien, insbesondere die Studie des Deutschen Jugendinstitutes (Beierle/ Hoch 2017), lieferten jedoch einige Hinweise dafür, wie hoch belastet die Jugendlichen sind und welche Jugendhilfekarrieren jede/ r der untersuchten Jugendlichen durchlief. Es fehlen im deutschsprachigen Raum aber noch epidemiologische Studien, die eine ausreichende Zahl von Jugendlichen, die auf der Straße leben, mit standardisierten psychometrischen Testverfahren untersuchen. Solche Studien werden auch international dringend angemahnt (Mason 2019). 201 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen Die meisten wohnungslosen Jugendlichen stammen aus extrem belasteten sogenannten „Multiproblemfamilien“ und haben dort Gewalt, körperliche und emotionale Vernachlässigung, Misshandlung sowie nicht selten auch sexuellen Missbrauch erlebt und entwickeln eine Vielzahl von psychiatrischen Symptomen und Traumafolgestörungen (Wong et al. 2014). Fast alle Obdachlosen und insbesondere die jüngeren Wohnungslosen leiden unter mindestens einer, zumeist aber unter mehreren psychischen Erkrankungen (Edidin et al. 2012). Epidemiologische Forschung, die neben den psychosozialen und psychischen Belastungen vor allem auch die Jugendhilfekarrieren von obdachlosen Jugendlichen untersucht, wäre dringend angezeigt. Im Idealfall könnte man diese auch mit der Motivation zur Inanspruchnahme von Streetwork, Housing-First-Projekten oder mobilen kinder- und jugendpsychiatrischen/ -psychotherapeutischen Sprechstunden kombinieren. Mit solchen Sprechstunden in Notschlafstellen konnten in Pilotprojekten wohnungslose Jugendliche recht gut erreicht, anbehandelt und für eine weitere Hilfeplanung gewonnen werden (Lynch et al. 2015). Drogenpolitik Die Bundesregierung sieht vor, die kontrollierte Abgabe von Cannabis zumindest in Modellprojekten einzuführen und parallel dazu den Ausbau der Suchtprävention im Jugendalter voranzutreiben. Cannabis ist die mit Abstand am häufigsten konsumierte Droge im Jugendalter und wird in diesem Alter auch viel häufiger konsumiert als im Erwachsenenalter. Von einer kontrollierten Abgabe von Cannabis verspricht sich die Bundesregierung, neben dem Effekt der Entlastung der Strafverfolgungsbehörden, vor allem einen besseren Schutz vor verunreinigtem Cannabis und eine Unterbindung des Gateway-Effektes, bei dem durch den illegalen Verkauf von Cannabis auch der Zugang zu anderen, potenziell noch gefährlicheren illegalen Drogen erleichtert werden kann (Kandel 2002; Balon 2018). In Anbetracht der leider gut belegten gravierenden Folgen von Cannabiskonsum im Entwicklungsalter auf die körperliche und seelische Gesundheit (Hall/ Degenhardt 2009), sollte die Regierung hier unbedingt mit äußerster Vorsicht vorgehen. Die Auswirkungen von Cannabis auf das ungeborene Leben durch Konsum in der Schwangerschaft, onkologische Risiken, negative Auswirkungen auf das Immunsystem und auf Unfälle im Straßenverkehr dürfen nicht unterschätzt werden. Die gravierendsten negativen Wirkungen sehen wir insbesondere in den Auswirkungen auf die seelische Gesundheit, die kognitive Leistungsfähigkeit und die soziale Teilhabe, insbesondere bei früh beginnendem Konsum. Ganz praktisch stellt sich die Problematik z. B. in der kinder- und jugendpsychiatrischen, psychotherapeutischen Versorgung von Heimkindern, wenn teilweise Medikamente gegeben werden, ohne dass der Cannabiskonsum hinreichend berücksichtigt wird. Durch das allgemeine Verbot des Cannabiskonsums in den Hausordnungen von Heimeinrichtungen, welches aber lokal sehr unterschiedlich beachtet wird, entstehen multiple Konfliktfelder und eine Double-Bind-Kommunikationssituation, die wahrscheinlich durch eine Liberalisierung im Erwachsenenalter eher noch verstärkt wird. Es gilt inzwischen als gesichert, dass Cannabiskonsum das Auftreten von psychischen Störungen, insbesondere von Angsterkrankungen, Depressionen und weiteren Suchterkrankungen sowie leider auch Psychosen fördert und nicht nur häufig parallel als komorbide Störung auftritt. Diverse Studien belegen die gravierenden Auswirkungen von Cannabis auf die Motivation, Konzentrationsfähigkeit und andere exekutive Funktionen wie Arbeitsgedächtnis, schlussfolgerndes Denken und planerisches Vorgehen (Crean et al. 2011; Scott et al. 2018). Insbesondere scheinen sich die negativen Effekte nach einer längeren Abstinenz auch nicht einfach wieder zu regenerieren (Scott et al. 2018) und wirken sich gravierend auf die soziale Teilhabe, insbesondere auf die Arbeitsintegration und die Finanzen aus (Brook et al. 2013). Eine große kanadische Studie belegte auch nochmal, dass 202 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen bereits kleine Mengen von Cannabis während der Schwangerschaft gravierende langfristige Schäden bei den ungeborenen Kindern auslösen (Cook/ Blake 2018). Insofern muss die Praxis der Jugendhilfe hier diese Befunde und die möglichen Auswirkungen der gesellschaftlichen Veränderung fachlich neu einordnen und diskutieren. Es wird sehr aufwendig sein, die geplante Reform unter Wahrung des Gesundheits- und Jugendschutzes umzusetzen. Viele Aspekte sollten sehr detailliert und gut geregelt werden, zum Beispiel, ob der Verkauf von Cannabis außerhalb der kontrollierten Abgabe trotzdem weiter strafrechtlich relevant bleibt. Auch die Frage, wie damit umzugehen ist, wenn Erwachsene das für ihren eigenen Bedarf gekaufte Cannabis an Minderjährige weitergeben, muss geklärt werden. Natürlich stellt sich gerade auch bei AdoleszentInnen die Frage, wie kontrolliert werden kann, ob jemand kompetent konsumiert oder bereits einen Risikokonsum zeigt - ob man zum Beispiel nur eine gewisse Menge pro Monat beziehen darf. Viele dieser Aspekte müssten natürlich, wenn man sie konsequent zu Ende denkt, genauso auch für Alkohol gelten - wie viele Jugendliche, welche Cannabis konsumieren, zu Recht einwenden. Deshalb wäre zu fordern, dass mit der Legalisierung Einnahmen aus einer zukünftigen Cannabisabgabe in die Drogenprävention, Jugendarbeit und Suchtbehandlung investiert werden, um die riesigen Aufgaben, die dort auf die Gesellschaft zukommen, auch gegenfinanzieren zu können. Gerade aus Perspektive der stationären Jugendhilfe, in deren Einrichtungen über 20 % der Jugendlichen einen Risikokonsum aufweisen (Seker et al. 2021; Schu et al. 2015), der oft in das Erwachsenenalter persistiert (Bürgin et al. in press), sind Pilotprojekte und selektive, indizierte Präventionsprogramme sehr wichtig. Die Jugendhilfe ist noch nicht ausreichend auf eine kontrollierte Abgabe vorbereitet, weshalb diese unbedingt systematisch in solche Präventionsprojekte inkludiert werden sollte. Es wäre entscheidend, verschiedene Modellprojekte mit unterschiedlichen Abgabesystemen miteinander zu vergleichen, um maladaptive Folgen möglichst zu reduzieren. Gerade für die Präventionsarbeit in der Jugendhilfe ist es wichtig, die rechtliche Situation von konsumierenden Jugendlichen eindeutig zu klären, um darauf adäquat reagieren zu können. Es wäre sicherlich nicht im Sinne des Gesetzgebers, dass die Erwachsenen sich das saubere Cannabis an zertifizierten Ausgabestellen abholen und die Jugendlichen weiterhin von DealerInnen mit verunreinigtem Stoff mit mehr THC versorgt werden und sich somit nur geändert hätte, dass die letzte Angst vor der Strafverfolgung wegfallen würde. Die Situation der Jugendlichen muss bei der Lösung bis zum Ende mitgedacht werden. Der Gesetzgeber sollte hier mit äußerster Vorsicht vorgehen und in methodisch gut „aufgegleiste“ Pilotprojekte investieren. Die Konsequenzen einer kontrollierten Abgabe für Erwachsene und einer ungewollten de facto Legalisierung für Jugendliche könnte für viele vulnerable Jugendliche gravierende Langzeitfolgen haben. Der Preis dafür, dass viele Gelegenheits-KonsumentInnen aus der Mittelschicht keine Angst mehr vor einer Strafverfolgung haben müssten, könnte für die Risikogruppen bei einer nicht ausreichend vorbereitenden Umsetzung sehr hoch sein. Es ist wichtig, den Cannabiskonsum aus der Illegalität zu holen, um diesen besser kontrollieren zu können. Wenn dies geschieht, ist der Gesetzgeber aber auch in der Pflicht, Strukturen und Methoden anzubieten, die dies kontrollieren und den Schutz der KonsumentInnen auch nach besten wissenschaftlichen Erkenntnissen garantieren. Familienrecht Im Familienrecht soll von den Koalitionspartnern das sogenannte „kleine Sorgerecht“ für soziale Eltern eingeführt und gesetzlich besser verankert werden. Eine solche Regelung kann für hoch belastete Eltern, die unter rezidivierenden psychischen und körperlichen Krankheiten leiden, die Chance bieten, in guten Zeiten ein Netzwerk, das für die Kinder sorgt, aufzubauen. Es werden Änderungen im Unterhaltsrecht in 203 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen Aussicht gestellt. So sollen dereinst bisherige und zukünftige Betreuungsanteile eher berücksichtigt und Unterhaltskosten steuerlich besser geltend gemacht werden können. Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen „Gemeinsam getrennt erziehen“ hat hier viele Überlegungen, vorhandene Befunde und Lösungsvorschläge aus familienwissenschaftlicher Sicht in die Debatte eingebracht (Prayon-Blum/ Fegert 2022). Im Sorgerechtsverfahren sollen Kindern eigene Umgangsrechte auch mit Großeltern und Geschwistern gewährt werden. Hiermit wird ein ganz wichtiger Aspekt zur Stärkung des Kindes im Scheidungsverfahren gestärkt, da es eigentlich nicht einzusehen ist, dass Kinder bei Konflikten ihrer Eltern auch den Kontakt zu ihren Großeltern, Geschwistern und anderen Verwandten verlieren. Allerdings muss dabei stets die Kindperspektive, mit Blick auf das Kindeswohl, betont werden und nicht die von den Erwachsenen geäußerten Umgangswünsche, die Kinder in ihrem altersentsprechenden Gestaltungsspielraum in Bezug auf die Freizeit auch massiv einengen können. Wichtig und gut ist, dass Angebote in der Trennungs- und Scheidungsberatung ausgebaut werden sollen. Dies betrifft auch die Einführung neuer digitaler Angebote. In Anbetracht der gesellschaftlichen Bedeutung, die der Beratung in diesen Fällen zukommt, überrascht es, gerade auch im Vergleich zum Ausland, dass in Deutschland keine methodisch gute Forschung mit randomisierten Studiendesigns zur Beratung von Umgangsregelungen und zur Beratung von hoch konflikthaften Eltern realisiert wurde. In Bezug auf die tatsachenwissenschaftlichen Grundlagen bei familienrechtlichen Reformen besteht ein riesiger interdisziplinärer Forschungsbedarf in Deutschland. Seit der Förderung in den Schwerpunkten Recht und Verhalten der VW-Stiftung um die Jahrtausendwende gab es hier, wegen der unterschiedlichen Ressortzuständigkeiten, keine gezielte Forschungsförderung in Deutschland, was in Anbetracht der immensen gesellschaftlichen Bedeutung dieser Thematik dringend angezeigt wäre. Schutz vor Gewalt Die explizite Nennung von Kindern im Zusammenhang von Opfern von häuslicher Gewalt und der bekundete Wille, eine verlässliche, bundeseinheitliche Finanzierung von Frauenhäusern zu realisieren, sind sehr zu begrüßen. Insbesondere mit der Aussage, dass sich der Bund an der Regelfinanzierung für den bedarfsgerechten Ausbau der Frauenhäuser beteiligt, ist ein bedeutsamer Fortschritt zur Überwindung der oft prekären Finanzierung vieler Frauenhäuser und der Unterversorgung in vielen Regionen (Kavemann 2012). Erfreulich ist auch, dass Schutzsysteme für gewaltbetroffene Männer oder diverse Menschen explizit mitbenannt und einbezogen werden. Die Forderung des Koalitionsvertrags, dass gerichtsverwertbare, vertrauliche Beweissicherung wohnortnah umgesetzt wird, ist nicht nur für die Strafverfolgung ein wichtiger Schritt, sondern auch ein Zeichen, dass das Thema ernst genommen wird. Zudem hat dies langfristig über die Abschreckung vielleicht auch eine präventive Wirkung. Durch die explizite Nennung der Kinder und die Forderung nach einer bundesweit einheitlichen Finanzierung werden Fragen nach der strukturellen Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und den Frauenhäusern/ -beratungsstellen aufgeworfen (z. B. könnten die Kinder in den Frauenhäusern nach § 41 SGB VIII in Obhut genommen werden). Frauenhäuser und Jugendämter kooperieren im Alltag natürlich oft bereits gut, es zeigt sich aber auch, dass es durchaus unterschiedliche Interessen zwischen einem möglichst niederschwelligen Angebot für gewaltbetroffene Frauen und einer strukturellen Zusammenarbeit im Kinderschutz gibt. So könnte die Niederschwelligkeit eines Angebots für Frauen darunter leiden, wenn sofort sämtliche Aspekte des generellen Kindeswohles mit den Jugendämtern diskutiert werden und der Einstieg in die Hilfeplanung erfolgt. 204 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen Letztlich widersprechen sich die Interessen ja nicht grundsätzlich und es wäre deshalb sicher sinnvoll, Pilotprojekte zu starten, die das Zusammenspiel von Niederschwelligkeit und integriertem Kindesschutz optimieren. Nicht wenige Frauen suchen ja auch explizit Hilfe und Schutz für ihre Kinder. Zudem wäre es wichtig, diese Hilfen traumasensibel aufzubauen und Frauen und Kindern Zugang zu evidenzbasierter Traumabehandlung zu erleichtern, z. B. durch Liaisonkonzepte. Keine Aussagen trifft der Koalitionsvertrag zu flankierenden Maßnahmen eines Frauenhausaufenthaltes, z. B. zu Beratungen von gewaltbetroffenen Frauen, die ja auch vor oder nach einem Frauenhausaufenthalt notwendig sind. Aus Perspektive von Familien mit Erfahrung von PartnerInnengewalt bergen einige der neuen Forderungen aus dem Familienrecht Gefahren. Wie sollen Trennungsberatungen, gemeinsame Umgangsrechte und Wechselmodelle realisiert werden, wenn man Angst vor einem oder einer gewalttätigen PartnerIn haben muss? Hier sollte darauf geachtet werden, dass bei der Ausarbeitung der Gesetze im Detail auch die besonderen Bedürfnisse von Systemen mit häuslicher Gewalt ausreichend Beachtung finden und sichergestellt wird, dass diese Familien nicht zusätzlichen Belastungen ausgeliefert werden. Dies haben die Koalitionspartner erkannt und benennen im Abschnitt zum Familienrecht explizit, dass häusliche Gewalt, wenn sie festgestellt wurde, bei der Umgangsregelung zwingend mitzuberücksichtigen ist. Diese Berücksichtigung wirft in der Praxis bezüglich der Wahrung des Kindeswohls aber natürlich auch viele Fragen auf. Gerade für die Praxis des begleitenden Umgangs und bei der Überführung in Regelumgang fehlt es bisher noch an empirischer Forschung, welche auf die Belastung und den Willen des Kindes fokussiert (Kindler et al. 2017). Hier wäre es wichtig, die Forschung zu fördern, um evidenzbasierte Möglichkeiten solcher Prozesse erfolgreich zu begleiten, zu entwickeln und evaluieren zu können. Arbeit und Ausbildung Der Koalitionsvertrag sieht eine Ausbildungsplatzgarantie und den damit verbundenen weiteren Ausbau der Unterstützung bei der Einstiegsqualifizierung und assistierten Ausbildungen vor. Die Angebote der Ausbildungshilfe sollen explizit für Menschen mit Fluchterfahrungen geöffnet werden. Beide Vorhaben sind für die Jugendhilfe und Flüchtlingshilfe hoch relevant. Die berufliche Integration von psychisch und psychosozial hoch belasteten jungen Menschen wird vermutlich eine der größten Herausforderungen für die Jugendhilfe und Adoleszenzpsychiatrie in den nächsten Jahren sein, da die Zahl der Frühbenennungen aufgrund psychischer Erkrankungen auch schon bei jungen Menschen steigt. In einer Gesellschaft, in der die beruflichen Anforderungen stetig zunehmen - indem einfache Jobs im Zuge des internationalen Wettbewerbs ins Ausland verlagert oder direkt automatisiert werden, auch in einfachen Jobs ein großer Leistungsdruck herrscht und Nischen im beruflichen Alltag systematisch abgebaut werden - drohen viele Jugendliche, an dieser Entwicklungsaufgabe zu scheitern (Sabatella/ von Wyl 2018). Misserfolgserlebnisse bei der Jobsuche und unstrukturierte Tagesabläufe verstärken dann wiederum die psychischen Probleme und der Teufelskreis schließt sich. Über 70 % der arbeitslosen Jugendlichen leiden unter psychischen Erkrankungen und/ oder beschreiben sich selbst als psychisch sehr belastet (Reissner et al. 2011; Sabatella/ von Wyl 2018). Für eine erfolgreiche berufliche Integration braucht es Modelle, in denen belastete Jugendliche viel flexibler in den Arbeitsmarkt integriert und dort vor Ort unterstützt werden sowie gegebenenfalls die Firmen für diesen Integrationsaufwand entschädigt oder bei den Lohnkosten deutlich entlastet werden. Im Koalitionsvertrag wird im Abschnitt zum Bürgergeld eine engere Kooperation zwischen Jobcentern und Jugendhilfe nach § 16f SGB II diskutiert. Diese interdis- 205 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen ziplinäre Zusammenarbeit soll gestärkt werden und es sollen gemeinsame Anlaufstellen geschaffen werden. Die Ampelregierung möchte den Jobcentern mehr Möglichkeiten der freieren, kreativen und individuelleren Förderung in diesen Bereichen übertragen und es erlauben, sich an regionale Gegebenheiten besser anzupassen - dies scheint in die richtige Richtung zu gehen, da die Hilfen dadurch passgenauer angepasst werden können. Letztlich müssten daher die gesamte Arbeitsintegration von belasteten jungen Menschen und die Ausbildungsprogramme in der Jugendhilfe viel stärker an wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie an dem Bedarf der Jugendlichen ausgerichtet werden. Die Ausbildungsangebote in berufsintegrierenden Heimen sollten viel konsequenter am Arbeitsmarkt ausgerichtet werden und Jugendliche dorthin auch bereits während des Aufenthaltes und der Transitionsphase integrieren. Es wäre wichtig, genauer zu analysieren, welche Jobs Care LeaverInnen langfristig ausüben können, sie bewusster in solche Jobs zu integrieren und hierzu vielleicht auch Kooperationen mit der Wirtschaft aufzubauen, indem subventionierte Arbeitsplätze für junge Menschen geschaffen werden, in denen die Jugendlichen agogisch begleitet werden. Dies hat die neue Bundesregierung bereits erkannt und im Koalitionsvertag in Aussicht gestellt, dass die Angebote von Werkstätten für behinderte Menschen stärker auf die Integration sowie die Begleitung von Beschäftigungsverhältnissen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ausgerichtet werden. Grundsätzlich ist klar, dass Investitionen im Bereich der Arbeitsintegration von psychisch und psychosozial belasteten jungen Menschen nicht nur viel menschliches Leid mindern, sondern auch sehr viel Geld einsparen. In Anbetracht der Größe der Herausforderung sollte es in diesem Bereich schnell gehen und es sollten verschiedene Pilotprojekte für die Zusammenarbeit zwischen Jobcentern und Jugendämtern gefördert werden. Was fehlt bisher noch? Auffallend ist, dass die psychosozialen Folgen der COVID-19-Pandemie für Kinder, Jugendliche und Familien im Koalitionsvertrag zu wenig Beachtung finden (Fegert et al. 2020). Dies ist in Anbetracht der hohen Belastungen, welche die COVID-19-Pandemie für LehrerInnen, ErzieherInnen, SozialpädagogInnen, SozialarbeiterInnen, aber auch für PsychologInnen und Kinder- und JugendpsychiaterInnen, in erster Linie aber natürlich für vulnerable Jugendliche verursachte, erstaunlich. Die Erwähnung eines Zukunftspaketes, welches auf das Corona-Aufholpaket folgen und Kultur, Sport und Gesundheit fördern soll, wirkt in Anbetracht der Situation in den psychosozialen Hilfssystemen gerade etwas irritierend. Der extreme Anstieg an psychischen Erkrankungen unter Jugendlichen, die Zunahme an häuslichen Konflikten und Gewalt sind ja keine Entwicklungen, die mit einem Ende der Pandemie und einer Rücknahme der Schutzmaßnahmen verschwinden. Viele Folgen werden unsere Gesellschaft noch lange beschäftigen. In mancherlei Hinsicht besteht die Gefahr, dass die Leistungs- und Tragfähigkeit der psychosozialen Hilfesysteme, der Schulen und des Kinderschutzes durch die nun schon zwei Jahre andauernde Pandemie aufgezehrt wird (Beckmann/ Berneiser 2021). Dadurch könnten diese Institutionen der dauerhaften Mehranforderung nicht mehr gerecht werden. Es besteht die Gefahr, dass hier dringend benötigte Fachkräfte ausfallen oder sich beruflich umorientieren und diese Systeme in den nächsten Jahren noch weiter unter Druck kommen. Deshalb wäre es einfach schön und eigentlich auch notwendig, wenn die Koalitionsparteien diese Entwicklung antizipieren könnten und gezielte Förderpakete zur Kompensation der psychosozialen Coronafolgen auflegen würden. Damit könnte die sowieso schon prekäre Situation von Jugendämtern (z. B. Beckmann/ Berneiser 2021), SchulsozialarbeiterInnen und anderen sozialen Hilfssystemen zumindest abgefedert werden - sie sind auch nach der Krise systemrelevant. 206 uj 5 | 2022 Chancen des Koalitionsvertrags für belastete junge Menschen Fazit Im Koalitionsvertrag werden viele heiße, schon lange Zeit schwelende Themen aufgegriffen und die KoalitionärInnen sind für den Mut, diese hoch relevanten Themen anzugehen, zu loben. Auch, dass sie in manchen Bereichen, die bis jetzt zumeist auf kommunaler Ebene geregelt wurden (z. B. die Finanzierung der Frauenhäuser), nun Regelungen auf Bundesebene in Aussicht stellen, ist, allein aus Perspektive der Versorgungsgerechtigkeit, ausgesprochen erfreulich. Die signalisierte Bereitschaft, deutlich mehr Gelder in das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu investieren, ist natürlich sehr erfreulich. Gleichzeitig flößen gerade die großen Summen, die für viele der skizzierten Anliegen bewegt werden müssen, Respekt ein. Jeder nicht ganz naiven optimistischen Person ist klar, dass hier viele Mittel für Familien sehr langfristig gebunden sein werden. Allein für die Kindergrundsicherung müssten jedes Jahr mehr als 25 Milliarden aufgewendet werden (s. o.). Auch für die große Lösung bundesweiter Regelungen von Frauenhäusern und die Verlängerung des Elterngeldes, was alles sehr sinnvolle Dinge sind, muss richtig Geld in die Hand genommen werden. Die vielen ambitionierten, kostenintensiven und wichtigen Anliegen im Koalitionsvertrag dürfen nicht dazu führen, dass am Ende Geld und politische Energie da fehlen, wo es darum geht, spezifisch hoch belastete Subgruppen (z. B. Straßenkinder, Jugendliche im Übergang) konsequent zu unterstützen. In der Pandemie ist die Schere zwischen gut versorgten und gut geförderten Kindern und Kindern mit massiven Unterstützungsbedarfen aus isolierten und belasteten Familien noch weiter auseinandergegangen. Gerade viele vorbelastete Kinder und Jugendliche haben in den letzten beiden Jahren einen hohen Preis bezahlt. Das Aufholprogramm des Bundes aus dem Jahr 2021 benötigt nachhaltige Folgeprogramme und die interdisziplinäre Arbeit für diese Jugendlichen sollte durch die Umsetzung beispielschaffender Projekte vorangebracht werden. Gerade mit Blick auf das Nachhaltigkeitsziel 16 (gerechte Gesellschaften) wäre also zu fordern, dass nicht nur Kinderrechte in die Verfassung aufgenommen werden, sondern dass die besonders belasteten und in ihrer Entwicklung gefährdeten Kinder und Jugendlichen die notwendige Unterstützung erhalten, damit sie ihre Persönlichkeit als junge Menschen und Erwachsene voll entfalten können. Solche Investments in Zukunftschancen haben die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien, die in den letzten beiden Jahren sehr viel ausgehalten und zusammengehalten haben, verdient. PD Dr. Dipl.-Psych. Marc Schmid Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Klinik für Kinder und Jugendliche Zentrum für Liaison und aufsuchende Hilfen Wilhelm Klein-Straße 27 CH-4002 Basel Tel. +41 61 3 25 82 55 E-Mail: Marc.Schmid@upk.ch Prof. Dr. Jörg M. Fegert E-Mail: Joerg.Fegert@uniklinik-ulm.de Literatur Aktion Psychisch Kranke e.V. (APK) (2019): Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher in Deutschland - Bestandsaufnahme und Bedarfsanalyse. In: https: / / www.apk-ev.de/ fileadmin/ downloads/ KiJu_ BB-Projektbericht-Final-25.05.19.pdf, 14. 2. 2022 Aktion Psychisch Kranke e. V. 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