unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2022.art49d
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Janusz Korczak, Wegbereiter der UN-Behindertenrechtskonvention
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Ferdinand Klein
Mit Janusz Korczaks Grundrechten für das Kind ist die inklusive Pädagogik neu zu vermessen, denn das Maß liegt im Menschen und nicht in den Dingen. Gefragt ist besonders die Früh-Elementarpädagogik, denn sie legt den Grundstein für eine menschengerechte, demokratische Erziehung und Bildung. Korczaks Erziehungskunst steht als Angebot. Jedes Kind gibt der pädagogischen Fachkraft neue Rätsel auf. Darin liegt der immer wieder neue Anreiz, sich mit Kindern auf eine nie endende Entdeckungsreise zu begeben.
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340 unsere jugend, 74. Jg., S. 340 - 350 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art49d © Ernst Reinhardt Verlag Janusz Korczak, Wegbereiter der UN-Behindertenrechtskonvention Zur Erinnerung an seinen 80. Todestag im August 2022 Mit Janusz Korczaks Grundrechten für das Kind ist die inklusive Pädagogik neu zu vermessen, denn das Maß liegt im Menschen und nicht in den Dingen. Gefragt ist besonders die Früh-Elementarpädagogik, denn sie legt den Grundstein für eine menschengerechte, demokratische Erziehung und Bildung. Korczaks Erziehungskunst steht als Angebot. Jedes Kind gibt der pädagogischen Fachkraft neue Rätsel auf. Darin liegt der immer wieder neue Anreiz, sich mit Kindern auf eine nie endende Entdeckungsreise zu begeben. von Ferdinand Klein Jg. 1934, Erzieher und Heilpädagoge, tätig an den Universitäten Würzburg, Mainz, Halle-Wittenberg, der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und seit 1997 als Emeritus an der Comenius-Universität Bratislava und der Eötvös-Loránd-Universität Budapest 1 Grundlegendes 1.1 Grundgesetz für das Kind gründet in Korczaks Pädagogik der Achtung Die im Jahre 2006 verabschiedete UN-Charta der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), ist mit der großen Hoffnung verbunden, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Menschlichkeit wird. Nach dem Untergang der Humanität im 20. Jahrhundert wird nun das Jahrhundert der Humanisierung ausgerufen und entschieden darauf hingewiesen, dass Menschen mit Behinderungen „einen bedeutsamen Beitrag zur Humanisierung der Menschheit leisten“ (Krenz/ Klein 2012, 49ff ). Abb. 1: Flagge der Vereinten Nationen (UN), seit 1947 das offizielle Kennzeichen der UN Jeder Versuch eines einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern. (Friedrich Dürrenmatt, 1921 - 1990) 341 uj 7+8 | 2022 Janusz Korczak und die UN-Behindertenrechtskonvention Die Konvention gibt uns einen Spiegel in die Hand, jeden Menschen zu achten, sich für ihn wirklich zu interessieren und ihm bei seiner Entwicklung beizustehen, ihm so weit zu helfen, bis er das werden kann, was in ihm keimhaft angelegt ist: aus eigener Initiative seine Entwicklung selbst in die Hand nehmen und gestalten. Danach sehnt sich in der Tiefe seines Herzens jeder Mensch. Das erkannte der feinfühlende polnische Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak, der mit seinen 200 Heimkindern am 5. August 1942 in das Vernichtungslager Treblinka ging. Er lehnte alle Versuche zu seiner Rettung ab, denn er wollte die Kinder nicht allein lassen. Bereits 1919 formulierte Korczak Kinderrechte: „Ich fordere die Magna Charta Libertatis (die große Charta der Freiheit; Anm. F. K.) als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch andere - aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden: 1. ,Das Recht des Kindes auf seinen Tod‘ = dem Kind die Ausformung seines Lebens zutrauen 2. ,Das Recht des Kindes auf seinen heutigen Tag‘ = die Gegenwart des Kindes achten, die nicht einer ungewissen Zukunft geopfert werden darf 3. ,Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist‘ = dem Kind sein Kindsein erlauben und ermöglichen“ (Klein 2018, 70f ). Mit diesem Grundgesetz für das Kind wird erstmals in der Geschichte der Erziehung die Respektierung von Kinderrechten gefordert. Das erste Grundrecht kann irritieren: Korczak stellt das Leben mit seinen Gefährdungen und Risiken in die Eigenverantwortung des Kindes. Doch durch Angst und Überfürsorge werden ihm die Möglichkeiten vorenthalten, am eigenen Leib seine Erfahrungen zu sammeln und zu ordnen. Eine pädagogische Fachkraft, die hingegen dieses Grundrecht achtet und dem Kind auf sein eigenes Risiko hin seine Erfahrungen ermöglicht, gibt die fordernde Zukunftsorientierung auf und hat die Gegenwart des Kindes im Blick, seine Individualität hier und heute. Es kennt weder Vergangenheit noch Zukunft, es freut sich der Gegenwart. Mit Korczak erhält die pädagogische Verantwortung gerade deswegen einen neuen Akzent, weil die pädagogische Fachkraft die Gegenwart für das Kind einfühlsam und gründlich zu gestalten hat (Klein 2021, 12ff ). Den drei Grundrechten stellt Korczak ein oberstes Prinzip voran: „Das Recht des Kindes auf Achtung. Es ist das erste und unbestreitbare Recht des Kindes, seine Gedanken auszusprechen und aktiven Anteil an unseren Überlegungen und Urteilen über seine Person zu nehmen. Wenn wir ihm Achtung und Vertrauen entgegenbringen und wenn es selbst Vertrauen hat und sich ausspricht, wozu es das Recht hat, - wird es weniger Zweifel und Fehler geben“ (Korczak 1978, 40f ). Fazit Korczaks Kinderrechte haben einen wesentlichen Einfluss auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Dieses Behindertengrundrecht erfordert von allen Beteiligten einen einfühlsamen Lernprozess - für behinderte und nichtbehinderte Kinder, für Eltern, ErzieherInnen und alle BürgerInnen: Inklusion ist gelebte Demokratie, ein demokratischer Begriff und eine demokratische Notwendigkeit. 1.2 Rechtskonvention, ein verbindlicher Handlungsrahmen Die Rechtskonvention stellt Inklusion als umfassende kulturelle Herausforderung ins Zentrum der weltweiten öffentlichen und fachlichen Diskussion. Sie will für alle BürgerInnen ein Leitbild moderner Sozialpolitik und ein verbindlicher Handlungsrahmen für die Praxis sein. Sie spricht von der Verpflichtung in allen Bereichen und bei allen Mitgliedern der Gesellschaft, ein Bewusstsein für die Rechte und 342 uj 7+8 | 2022 Janusz Korczak und die UN-Behindertenrechtskonvention Würde behinderter Menschen zu schaffen, diskriminierende Praktiken und Vorurteile abzubauen. In Art. 26 der Konvention heißt es: „Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, […] um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren“ (Näheres in Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung 2017). Die Konvention wird seit März 2009 in deutsches Recht umgesetzt. Sie ➤ geht davon aus, dass Behinderung ein soziales Phänomen ist, das aus einstellungs- und umweltbedingten Barrieren resultiert; dadurch wird die volle gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen verhindert oder beeinträchtigt; ➤ würdigt Behinderung als Teil der Vielfalt menschlichen Lebens; ➤ will Teilhabe stärken und Ausgrenzungen verhindern; ➤ versteht die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern von der frühen Kindheit an als Menschenrecht - und nicht als Wohltätigkeit. Alle Menschen mit Behinderungen haben von Anfang an einen Rechtsanspruch auf gemeinsame Erziehung und (Aus-)Bildung sowie gesellschaftliche Teilhabe ohne Diskriminierung und Marginalisierung. Ihre volle gesellschaftliche Teilhabe ist ein einklagbares Recht. Diese uneingeschränkte Anerkennung und Achtung der Würde jedes Menschen und die daraus folgende Gleichheit der Verschiedenen sind im beginnenden 21. Jahrhundert ein zentrales ethisches Prinzip geworden. Das Prinzip kann als Antwort auf extrem demütigende Erfahrungen vieler Menschen in zurückliegenden Jahrhunderten, besonders im 20. Jahrhundert, und damit als Ergebnis eines Bildungsprozesses der westlichen Demokratien verstanden werden. Das Recht ist die Basis für unser Zusammenleben. Es schützt die unantastbare Würde des Menschen. Das Bewusstsein der gleichen Würde jedes Menschen hat sich durchgesetzt. Es erfordert eine Vertiefung und Erweiterung der pädagogischen Professionalität. Wie kann die Pädagogik in Wissenschaft, Forschung und Praxis dieser Aufgabe entsprechen (dazu auch Klein 2018, 14ff )? 1.3 Inklusive Erziehung von Anfang an Das Menschenrechtsverständnis der UN-BRK achtet das Kind als Subjekt und Akteur seiner Entwicklung, ebenso seine Grundbedürfnisse und Grundbedarfe, seine Individualität und Sozialität; es unterstützt (begleitet, leitet, führt) den Willen des Kindes zur Eigenaktivität, sein Selbstwirksamwerden, sein sich entwickelndes Verantwortungsbewusstsein für das eigene Recht, für das Recht des anderen Menschen und seine wachsende Selbstbestimmung in sozialer Abhängigkeit. Die Rechtstexte machen keine Aussagen über die gesellschaftliche Wirklichkeit, enthalten aber verbindliche Normen, an denen die Wirklichkeit der inklusiven Kindertageseinrichtung gemessen werden kann. Aus dem, was ist, soll durch handelnde Menschen das werden, was sein soll. Diese Spannung zwischen Realität und Idealität ist eine bewegende Kraft des republikanischen Rechtsstaats, die Inklusion ohne moralische Überhöhung als Realvision zu sehen hat. Inwieweit die Entwicklung sich dem Ziel annähert und vor allem, ob es wirklich erreicht werden kann, bleibt eine offene Frage. Ihre Beantwortung hängt von vielen Faktoren ab, die nicht allein in der Hand der pädagogischen und therapeutischen Fachkräfte liegen. Doch durch professionelle Selbstdarstellung der Kita in der Öffentlichkeit kann vieles erreicht werden. 343 uj 7+8 | 2022 Janusz Korczak und die UN-Behindertenrechtskonvention 2 Kinder geben ermutigende Beispiele für eine inklusive Lernkultur Auf dem Weg zur inklusiven Erziehung von Beginn an können Kinder in heterogenen Gruppen Mut machen: Im Umgang miteinander nehmen sie die Unterschiede als gegeben an, entwickeln Neugierde füreinander und wollen einander helfen. Kinder mit Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, der Bewegung, des Denkens (der kognitiven Entwicklung) oder des Verhaltens können wie selbstverständlich in der Gruppe lernen. Neurobiologische Forschungen zeigen, dass bereits Säuglinge Urformen der Sympathie empfinden. Bald beginnen sie zwischen „guten“ und „bösen“ Taten zu unterscheiden: Gut ist, anderen zu helfen, und böse, anderen zu schaden. Schon einjährige Kinder helfen ohne vorherige Übung fremden Erwachsenen: Sie heben beispielsweise heruntergefallene Gegenstände auf, wenn die Person, die diese aufheben will, nicht heranreicht. Kleine Kinder spüren also die Gefühle und Absichten bei anderen Menschen und sind fähig, Mitgefühl und Mitleid zu erleben. Sie pflegen mit ihren veranlagten Kräften eine Willkommenskultur, bei der die Unterschiede im Wollen, Wissen und Können von herausragender Bedeutung sind: Die Unterschiede fördern ihre Kommunikation, weil sie ein angeborenes Grundverständnis für soziale Situationen haben und anderen Menschen helfen wollen (Klein 2018, 113f ). Auf diese sozio-emotionale Grundfähigkeit des Kindes baut der Perspektivwechsel auf, der für die inklusive Lernkultur bedeutsam ist: Wenn Kinder mit Behinderungen wie selbstverständlich in der Gruppe sind, dann sind die Herausforderungen und Anregungen zum Perspektivwechsel groß. Kinder wollen miteinander selbstwirksam tätig sein, aus eigener Kraft ihre Lebenswelt erfahren und gestalten. Ihr veranlagtes Bedürfnis ist in der hochtechnisierten Welt gefragter denn je. Ihrem Ur-Bedürfnis ist in Projekten, Erlebnis- und Handlungsfeldern zu entsprechen. Kinder mit und ohne Behinderung können gemeinsam in Spiel- und Lernsituationen ihre Alltagserfahrungen machen und ordnen und auf diese Weise ihre persönliche Identität aus eigener Kraft aufbauen. 3 Janusz Korczaks Pädagogik der Achtung 3.1 Im Geiste Korczaks mit Kindern unterwegs Das Wochenseminar für 25 Grundschulkinder „Aus der Geschichte lernen“ in meiner slowakischen Heimatgemeinde Schwedler (jetzt Švedlár), aus der ich mit zehn Jahren 1944 vertrieben wurde, versteht sich auch als Deutschkurs für Anfänger. Im Rahmen des Seminars fand eine Veranstaltung beim Literaturkränzchen in der Nachbargemeinde Einsiedel (jetzt Mnišek nad Hnilcom) statt, an der neben den Kindern auch Frauen des literarischen Gesprächskreises teilnahmen. Sie bekamen schon einige Wochen vor der Veranstaltung den ausgearbeiteten Vortrag. Im Anschluss an die in einfacher Sprache vorgetragenen Gedanken führte ich ein Gespräch mit den Kindern, an dem auch die Frauen teilnahmen. Im zweiten Teil sprach ich im Beisein der Kinder mit den Frauen über den ausgearbeiteten Vortrag. In freier Rede sagte ich: „Liebe Kinder, liebe Erwachsene! Es ist mir eine besondere Ehre, heute hier in der Begegnungsstätte Einsiedel des Karpatendeutschen Vereins in der Slowakei über einen Menschen sprechen zu können, der im Nachbarland Polen lebte, für Kinder arbeitete und mit ihnen starb. Ich spreche zuallererst zu euch, liebe Kinder. Euch will ich die Lebensgeschichte eines be- 344 uj 7+8 | 2022 Janusz Korczak und die UN-Behindertenrechtskonvention sonderen Menschen erzählen. Er heißt Janusz Korczak. Heute sagen viele, Korczak war der größte Erzieher des vergangenen Jahrhunderts. Das, was ich erzähle, soll das enthalten, was ich den Erwachsenen schon vor einigen Wochen gab, nämlich den großen Vortrag. Ich werde langsam sprechen. Wir haben genug Zeit. Wenn du etwas nicht verstehst, dann frage sofort. Meine Frau Hanka wird alles gleich ins Slowakische übersetzen. Am Schluss kannst du weitere Fragen stellen; ebenso können mich auch die Erwachsenen fragen. Gerade das wollte ja Korczak. Er wollte nämlich, dass die Menschen, die Kinder und die Erwachsenen, immer wieder Fragen stellen. Wer Fragen stellt, ist ein gescheiter Mensch. Er will noch mehr wissen. So kommen wir ins Gespräch. ,Fragen stellen und auf Fragen antworten‘, das ist sehr wichtig, sagte Korczak einmal. Kinder stellen Fragen und Erwachsene stellen Fragen - und miteinander suchen wir dann unsere Antworten. Ist das nicht schön? Ich spreche also über Korczak. Er war ein guter Arzt und Lehrer und hat viele Bücher geschrieben, vor allem Kinderbücher, die auch heute noch Kinder und Erwachsene gerne lesen. Ich spreche über Korczak aus einem besonderen Anlass: Vor 70 Jahren, am 5. August 1942, mussten er und mit ihm seine zweihundert Kinder und seine Mitarbeiterin Stefania, liebevoll Frau Stefa genannt, die Hauptstadt Polens, Warschau, verlassen. Diese Kinder, Korczak, Frau Stefa und noch andere Mitarbeiter lebten in einem Heim, sie arbeiteten, lernten und spielten miteinander. Es waren fröhliche Kinder, einige waren sehr arm, andere waren nicht immer brav, manchmal haben sie auch gestritten. Sie waren so, wie Kinder halt sind. Sie ärgerten auch mal Korczak und er ärgerte auch die Kinder. Korczak war immer wieder einmal zu einem Scherz aufgelegt. Er machte Spaß mit den Kindern. Gerne spielte er mit ihnen. Das ,Haus der Kinder‘, wie er das Heim auch nannte, war eine gute Gemeinschaft, in der es eine Ordnung gab, an die sich die Kinder und Erwachsenen halten mussten. Es gab keine Ausnahme. An die Ordnung und Regeln, die auch die Kinder mit aufgestellt haben, mussten sich also alle halten. Das war für die Kinder nicht leicht und ebenso auch nicht für die Erwachsenen. Korczak hatte für die Kinder und Erwachsenen ein Kindergericht, das auch Kameradschaftsgericht genannt wurde, geschaffen. Kinder haben Kinder in das Gericht gewählt. Diese Kinder waren dann Richter, sie mussten über das, was ein anderes Kind getan hatte, ein gerechtes Urteil sprechen. Das war gar nicht so leicht. Aber sie konnten sich an Paragraphen orientieren. So lautete zum Beispiel ein Paragraph: ,Wenn ein Kind etwas Böses getan hat, dann ist es am besten, ihm zu verzeihen und zu warten, bis es sich bessert.‘ Das Gericht hatte auch die Aufgabe, die Stillen und Braven und Schwachen zu beschützen, damit die Starken und Frechen ihnen nicht das Leben schwer machten. Auch die faulen Abb. 2: Janusz Korczak (1878 - 1942) 345 uj 7+8 | 2022 Janusz Korczak und die UN-Behindertenrechtskonvention Kinder mussten sich an die Ordnung im Heim halten. Sie bekamen Aufgaben zugeteilt, die in der Hausordnung genau vorgeschrieben waren. Welche könnten es gewesen sein? Was denkst du? Korczak wollte, dass es für jedes Kind gut und gerecht zugeht. Er wollte, wie die Erwachsenen sagen, eine demokratische Ordnung mit gleichen Rechten und Pflichten für jeden Menschen. Einmal hat Korczak aus Übermut sogar den Kopf eines Kindes in einen Eimer mit Wasser getaucht. Das war nicht in Ordnung. Das Kind hat ihn gleich angezeigt. Er musste vor das Gericht der Kinder. Das Gericht hat ihn ermahnt. Das darf er nicht noch einmal machen. Es hat ihm verziehen. So hat Korczak von den Kindern gelernt, dass er das nicht tun darf. Er hat von den Kindern noch viel mehr gelernt, zum Beispiel: Kinder wollen gerne spielen, Geschichten und Märchen hören und diese dann auch spielen. So konnte ein Kind mal ein König, ein anderes eine Prinzessin oder ein Wolf oder gar ein Teufel sein. Korczak hat die Kinder genau beobachtet und von ihnen gelernt, dass sie eigentlich alles alleine machen und probieren wollen. Und wenn sie etwas nicht gleich geschafft haben, dann wollen sie es noch einmal alleine versuchen, sie wollen es so lange probieren, bis es endlich geklappt hat. Über den Erfolg hat sich Korczak mit dem Kind und mit den Kindern der Gruppe gefreut. Und er hat sich sogar um ein Kind, das um ein verlorenes Steinchen weinte, gekümmert. Er war mit ihm traurig und hat seine Tränen geachtet. So hat er den Kindern gezeigt, dass er sie gern hat, dass er sie liebt. Aber am 5. August 1942 ging das gute und manchmal auch schwere Zusammenleben im Heim zu Ende. Frau Stefa hat den Kindern die schönsten Kleider zum Anziehen gegeben. Sie stellten sich auf der Straße auf. Neben ihnen standen deutsche Soldaten. Sie gingen durch die Straßen von Warschau zum Bahnhof und wurden in Waggons eines Zuges eingeladen. Der Zug ging nach Treblinka in das Konzentrationslager. Dort mussten Korczak, seine 200 Kinder und Frau Stefa sterben. Warum erzähle ich euch das? Korczak setzt dem Töten unschuldiger Menschen seine Liebe und Fürsorge entgegen. Er kann nicht böse sein. Er schreibt jeden Tag in sein Buch, was ihm am Herzen liegt. Ganz am Schluss seines Tagebuches schreibt er: ,Ich wünsche keinem Menschen etwas Böses. Ich kann das nicht. Ich weiß nicht, wie ich einem anderen Menschen etwas Schlechtes machen kann.‘ Als ihn Freunde retten wollten, nur ihn allein und nicht die Kinder, sagte er: ,Wie könnt ihr nur so etwas denken, jetzt die Kinder allein zu lassen.‘ Er blieb seinem Grundsatz treu, den er schon als junger Mensch gefasst hatte. Er wollte für die Kinder da sein, er wollte ihnen helfen, er wollte sich um alle Menschen kümmern, besonders arme, schwierige und kranke Kinder lagen ihm am Herzen. Korczak wollte, dass es ihnen gut geht, damit sie später fleißige und gesunde, ehrliche und gute Menschen werden, die dann auch anderen Menschen helfen. Nun spreche ich die Erwachsenen an. Korczak hat durch seine Liebe den Kindern des Waisenhauses Sicherheit geben wollen, dass sie in schweren und schwersten Stunden nicht allein sind. Er wollte ihnen das geben, was Kinder brauchen: Schutz, Geborgenheit und Vertrauen. Den Kindern und uns allen wollte er sagen: ,Seid nicht böse, sondern seid gut und gerecht. So könnt ihr die Welt um euch herum zu einer menschlichen Welt wandeln.‘ Und nun zum Schluss: Janusz Korczak wollte seine Gedanken retten. Daran will ich erinnern. Er hat die Sache des Kindes und damit die Zukunft der Menschen zu seiner Sache gemacht. Wir alle können Korczak helfen. Wie? Was denkst du? Dadurch, dass wir seine Gedanken achten. Inmitten der Leiden und unerfüllten Sehnsüchte schafft er für seine Kinder durch gemeinsames Singen und Beten, Spielen und Feiern einen Lebensraum der Freude. Er bleibt seinem Grundsatz treu: ,Aber all das mit Freude.‘ Eltern und ErzieherInnen können von ihm viel lernen.“ 346 uj 7+8 | 2022 Janusz Korczak und die UN-Behindertenrechtskonvention Der Vortrag und das anschließende Gespräch haben die Kinder tief bewegt. Sie fühlten sich angesprochen und stellten kluge Fragen. Sie hielten am nächsten Tag das Erlebte in Bildern fest. 3.2 Korczaks ganz andere Pädagogik Interesse für das benachteiligte Kind Schon als junger Mensch interessierte sich Korczak für Kinder der Elendsviertel in Warschau. Er betreute sie in den Semesterferien in den sogenannten Sommerkolonien. Seine Erlebnisse (Enttäuschungen und Freuden, Misserfolge und Erfolge) verarbeitete er in Büchern und Aufsätzen. Mit dreißig Jahren fasste der junge Arzt den Entschluss, den Kampf für das Wohl des benachteiligten Kindes zu seiner Lebensaufgabe zu machen. 1912 wurde er Direktor des Warschauer Waisenhauses „Dom Sierot“, das er zu einer demokratischen Gemeinschaft aufbaute. Er schrieb Bücher, hielt Vorlesungen über Erziehung, arbeitete als Gutachter für Jugendgerichte, sprach regelmäßig im polnischen Rundfunk und setzte sich für die Rechte der Kinder ein. Bald wurde er in ganz Polen bekannt. Das Recht auf Achtung bis zuletzt leben Als die Nazis Polen besetzten, wurde in Warschau ein Ghetto errichtet, in das auch Korczak, seine Mitarbeiterinnen und 200 jüdische Waisenkinder einziehen mussten. Korczak war bemüht, das Gegebene, also das, was wahrgenommen wird, unter den Bedingungen der Zeit zum Guten zu wandeln - ohne Illusionen. Mit „Weisheit des Herzens“ findet er im Lachen des Kindes einen Anker: „Was uns […] innigst mit dem Leben verbindet, ist ein Kinderlachen, strahlend und klar.“ (Korczak-Bulletin 2015, 2) Die Kinderrechte, die Korczak an vielen Beispielen - in oft dichterischer Sprache - facettenreich erläutert, nehmen der pädagogischen Fachkraft die Verfügungsmacht über das Kind aus der Hand. Korczak erkannte als feinfühlender Seelenarzt, dass schon das neugeborene Kind eine Person ist, die ein Ich oder Selbst hat, über das keiner nach eigenem Gutdünken verfügen darf. Das Recht des Kindes, „so zu sein, wie es ist“, muss der Erwachsene ganz ernst nehmen. Es schließt ein: ➤ sein Recht auf Unwissenheit, weil darin sein Recht auf Neugier enthalten ist; ➤ sein Recht, Fehler zu machen, weil jedes erfolglose Tun eine wichtige Lernerfahrung einschließt; ➤ sein Recht, seine Gedanken und Urteile auszusprechen, weil es nur so sein Denken und Urteilen üben kann; ➤ sein Recht auf ein Geheimnis, denn wir haben kein Recht, das Kind „in Augenblicken schwerer Gewissenskonflikte zu bedrängen“ oder das Geheimnis gar zu „erzwingen, weder mit Bitten noch mit List oder Drohungen; alle diese Methoden sind gleichermaßen unwürdig, denn sie bringen dich deinem Erziehungsbefohlenen nicht näher, sondern lassen dich von ihm abrücken“ (Korczak 1978, 200); ➤ sein Recht, nicht ganz ehrlich zu sein und „Rosinen aus dem Kuchen zu klauben und sie heimlich zu naschen“ (ebd., 205), nicht weil es allgemein lügen darf, sondern weil wir ihm erlauben müssen, eine übliche Regel zu erproben. 3.3 Das Bedürfnis nach Orientierung Immer mehr Einrichtungen in der ganzen Welt tragen den Namen „Janusz Korczak“. Menschen verschiedener Länder finden unter seinem Namen zusammen und studieren seine Pädagogik. Korczaks vitaler Frageimpuls, geschrieben ohne Bibliothek, sondern orientiert an der eigenen Erfahrung und dem Studium der deut- 347 uj 7+8 | 2022 Janusz Korczak und die UN-Behindertenrechtskonvention schen und französischen medizinischen und pädagogischen Literatur (vor allem der Werke des Schweizer Menschenfreundes Pestalozzi), lädt zum Nachdenken ein. Offenbar wächst das Bedürfnis nach Orientierung an Vorbildern in dem Maße, wie das Vertrauen in Institutionen und normative Denkstrukturen, die über Jahrzehnte Stabilität garantierten, brüchig geworden ist. Vor allem junge Menschen und jene, die in medizinisch-therapeutischen und pädagogischen Arbeitsfeldern tätig sind, erfahren durch die Begegnung mit Korczak eine motivierende und inspirierende Perspektive. 3.4 Den eigenen Weg suchen Im Gegensatz zu den exakten Naturwissenschaften hat die Wissenschaft Pädagogik ihr eigenes Selbstverständnis, das sich von anderen Wissenschaften grundlegend unterscheidet. Pädagogik ist seit eh und je eine Beziehungswissenschaft mit und für Menschen. Diese Praxiswissenschaft erkennt: Alte pädagogische Einsichten sind nicht an zeitliche Zusammenhänge gebunden, sondern auf das Erziehen und Bilden des Kindes konzentriert. Darauf müssen uns heute neurobiologische und psychosoziale Forschungen aufmerksam machen: Das Wissen darf dem Kind nicht wie mit dem „Nürnberger Trichter“ eingefüllt werden. Diesem technischen Beherrschen widersetzt sich seine Natur. Das Kind will nicht zum Reagierenden und Konsumierenden herabgewürdigt und fremdbestimmt werden. Diese Herrschaftspädagogik wandelt Korczak in eine Pädagogik, die ohne Vorbedingungen allein dem Kind - und damit der Zukunft der Menschheit - dienen will. Korczaks Dienstpädagogik sprengt die lebensferne Theorie, an die sich viele um den Preis klammern, ihr eigenes Denken aufzugeben - und „ganz bequem und in aller Ruhe“ der vorgegebenen Theorie zu folgen. Zurecht betont deshalb Hartmut von Hentig, dass der pädagogischen Ausbildung das Wahrnehmen des Lebens fehle, denn sie finde vorwiegend sitzend, hörend und darüber redend statt. Geboten sei das Erfahren und Reflektieren der Würde der Praxis. 3.5 Mit dem Kind in der Begegnung sein Korczak knüpft an alltägliche Erfahrungen an, die er mit dem Kind macht. Die Erfahrungen werden in die pädagogische Urteilsfindung mit hineingenommen. Damit kehrt er der vorherrschenden Theoriegläubigkeit den Rücken und bringt den lebendigen Menschen, mit dem es nun einmal die Erziehung zu tun hat, ins Spiel. Hart, aber fair zieht er gegen die „verknöcherte Theorie“, d. h. das begrifflich (vor-)gefasste Denken, zu Felde, wenn er sagt, dass „Anschauungen fremder Menschen sich im eigenen lebendigen Ich brechen müssen“ (Korczak 1978, 14). Korczak sieht die Perspektive des Kindes und die Perspektive des Erziehers. In seiner Schrift „Wenn ich wieder klein bin“ (1973) versetzt er sich in die Situation eines kleinen Jungen und sieht die Gedanken der Erwachsenen aus Sicht der Kinder, und die Gedanken der Kinder sieht er aus Sicht der Erwachsenen. In dieser dialogischen Begegnung erkennt er die Aufgabe der Erziehung: „Ein Erzieher, der nicht einpaukt, sondern etwas freilegt, der […] nicht diktiert, sondern anfragt, der erlebt mit dem Kind manchen bewegenden Augenblick; und er wird manchmal mit Tränen in den Augen den Kampf zwischen Engel und Satan miterleben, bis der lichte Engel den Sieg davonträgt“ (Korczak 1973, 35f ). 3.6 Die pädagogische Kompetenz Korczaks ganz andere Pädagogik kann in keinem historiografischen Schema einer theoriegeleiteten Erziehungswissenschaft mit ihrer anspruchsvollen Rhetorik untergebracht werden. Von Korczak können wir in Wissenschaft und 348 uj 7+8 | 2022 Janusz Korczak und die UN-Behindertenrechtskonvention Praxis lernen, dass für das Erziehen eine einfache, aber gehaltvolle Sprache geboten ist. Bei seiner Erziehungspraxis im Kairos, nämlich im entscheidenden Moment geistesgegenwärtig situationsorientiert zu handeln, versuchte er, aus der Perspektive des Kindes seine Sprache zu entwickeln. Die Sprache lädt zum Mitdenken ein, weil sie jedeR in einem nicht abschließbaren Prozess weiterentwickeln kann. Korczak hat das erzieherische Verhältnis radikal verändert. Wir können von einer „kopernikanischen Wende“ in der Pädagogik sprechen, denn er hat die Perspektive der Pädagogik revolutioniert. Er steht mit seiner Theorie mitten im Prozess der Erziehung und entwickelt aus dem Zusammensein mit den Kindern die Methoden, die ihnen Selbstwirksamkeit ermöglichen. Korczak legt nicht fest und schreibt nichts vor, bleibt vielmehr in einer offenen und fragenden Haltung, denn Kinder wollen sich mit Sehnsucht im Herzen das Wissen und Können selbst aneignen. 3.7 Die demokratische Erziehung Die Geschichten für Kinder - ein wegweisendes Erziehungsmittel Für Kinder schrieb Korczak Geschichten zur Selbsterprobung. Die Geschichten - „Wenn ich wieder klein bin“, „Jack handelt für alle“, „König Hänschen der Erste“, „König Hänschen auf der einsamen Insel“, „Der Bankrott des kleinen Jack“ oder „Kaitus, der Zauberer“ - ermöglichen dem einzelnen Kind, seine Vorstellungen zu erweitern und Fantasie zu entwickeln, Alternativen zur Wirklichkeit durchzuspielen, zu gehorchen (nicht weil es Angst hat, sondern weil es selbst Ordnung haben will), Identifikationen vorzunehmen, sich zu wandeln und seine Hoffnungen zu stärken. Beispiele Korczak erfindet einen Kinderkönig, also ein Kind, das Macht und Verantwortung hat, aber dennoch Kind bleibt. Das Kind kann seine Unerfahrenheit und Ohnmacht erkennen und die Macht der Großen durchschauen, ihre Grenzen und Schwierigkeiten wahrnehmen. Es kann erkennen, dass Macht und Verantwortung zwei Seiten einer Medaille sind. Das Kind erfährt, wie sich König Hänschen mit den Unzulänglichkeiten, die in der Welt herrschen, auseinandersetzen muss: mit Ministern, die ihn belügen, oder mit seinem Freund Fritz, der sich bestechen lässt. Aber es erfährt auch, wie es die Welt zum Guten wenden und Schritte auf dem Weg zu einer gerechteren Welt tun kann. Und es erfährt, wie sich König Hänschens Einstellung zum Krieg ändert, welchen Lernprozess er von der Kriegszur Friedensbereitschaft durchmacht. Die Geschichten zeigen auch Visionen von einer Welt, in der es keinen Krieg mehr geben muss. In Korczaks Geschichten für Kinder gibt es keine machtvollen SiegerInnen wie in vielen Kinderbüchern. Mächtig zu sein befriedigt ein augenblickliches Lustbedürfnis. Geschieht dies nicht, dann greift Frustration um sich, die wohl die größte Quelle der Aggression ist. Wir finden in Korczaks Geschichten nicht Forderungen um jeden Preis, sondern Aufgaben, die ein Kind erfüllen kann. König Hänschen zeigt Aufgaben und risikoreiche Wege zu ihrer Bewältigung, denen sich jedes Kind gewachsen fühlen kann. Freilich ist der gute König am Ende ein trauriger König auf der einsamen Insel. Offenbar ist es in unserer Welt so eingerichtet, dass ein Mensch, der Gutes tut, zunächst einsamer sein wird als andere. Er wird aber von denen geachtet, die für eine gerechtere Welt eintreten. Korczaks Geschichten sind ein bedeutsames Erziehungsmittel gerade in Kindertageseinrichtungen, die Kinder von Flüchtlingen und Kinder mit Behinderung besuchen. Die Geschichten halten den Zielsetzungen der neuen Kinder- und Jugendliteratur stand: Sie überwinden Fixierungen auf Autoritäten, ermöglichen Kritikfähigkeit, sensibilisieren für eigene 349 uj 7+8 | 2022 Janusz Korczak und die UN-Behindertenrechtskonvention und fremde Interessen. Sie tragen zur Entwicklung eines Realitätsbewusstseins bei, das eine illusionistische und pessimistische Weltsicht überwindet. Korczak hat in seinen Geschichten die Gegensätze nicht in einer Synthese aufgehoben, sie oszillieren vielmehr und halten das Denken in Bewegung. Die Geschichten laden zum Mitdenken ein, weil in ihnen keineR die anderen zu vereinnahmen braucht und jedeR sich als Teil des Ganzen fühlen kann: Kinder und Erwachsene, Studierende und Lehrende. Organisation der Lebensgemeinschaft Korczak strukturiert im Waisenhaus die Organisation der demokratischen Erziehungsgemeinschaft, bei der das Kind ein gleichwertiger, gleichwürdiger und gleichberechtigter Partner ist. Da aber ErzieherInnen durch ihre Erfahrungen gegenüber dem Kind einen Vorsprung haben, sind sie verpflichtet, die Perspektive des Kindes und gleichzeitig die eigene zu achten. Bei diesem achtsamen Dialog geht es darum, dem Kind seinen eigenen Gestaltungswillen in der nach republikanischen Regeln geordneten Gemeinschaft zu ermöglichen. Korczaks breit gefächertes Konzept der demokratischen Erziehung enthält ein pädagogisches System: Für Kinder entwickelt Korczak differenzierte Spielregeln für die Selbstverwaltung mit wenig bestrafenden Paragraphen. Mit ihnen erprobt er Spielregeln in der Kinderrepublik. Das Kindergericht der Erziehungsgemeinschaft ist um ein Höchstmaß an Gerechtigkeit bemüht und orientiert sich am Grundsatz des Verzeihens. Die selbst zu verantwortende Verwaltung ermöglicht den Kindern, ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu erkennen und zu definieren, Regeln und Formen des gegenseitigen Einvernehmens zu erfinden. Durch diese Selbstverwaltungsstruktur in der „kleinen Kinderrepublik“ können sich Kinder selbst disziplinieren und „mehr Demokratie wagen“. 4 Mit Korczak ist die Pädagogik neu zu vermessen Der Mensch, Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak war bemüht, sein Programm aus dem Jahre 1929 zu realisieren: „Von der Selbstverwaltung der Kinder zu den Parlamenten der Welt“. Er wollte seine Idee retten, weil er die Sache des Kindes und damit die Zukunft des Menschen zu seiner Sache gemacht hatte. In Korczaks Leben und Werk entdecken wir die Sprache des Herzens, ein Herz-Denken. Ungeahnte menschliche Kräfte des liebenden Erkennens werden hier sichtbar. Korczak reflektierte seine Praxis im Spiegel der Theorie. Dadurch verbesserte er in einem fortwährenden Selbstentwicklungsprozess seine Erziehungskunst, sein situationsorientiertes Handeln. Für Korczak sind die Kinder SachkennerInnen in Angelegenheiten der Kinder. Sie zeigen ihm, wie sie ihre Welt ordnen und wie Erwachsene ihnen dabei helfen können. Seine Pädagogik der Achtung bietet den Nihilisten die Stirn und wandelt die Herrschaftspädagogik in eine Pädagogik, die ohne Vorbedingungen allein dem Kind - und damit der Zukunft der Menschheit - dienen will. Seine Erziehungskunst steht als Angebot, die jedem Kind die freie Entfaltung seiner veranlagten Kräfte ermöglichen will. Er bemühte sich, über das Einfühlen in die Kinder hinaus zu gelangen und wie die Kinder zu fühlen. Er war fähig, sich mit hoher Sicherheit in die Gefühlswelt und Sinnzusammenhänge der Kinder zu versenken. Seine feinfühlende Praxis geht über das sonst übliche Verstehen hinaus und wendet sich den inneren Entwürfen des Kindes (seinen Bedürfnissen, Motiven, Phantasien, Interessen, Neigungen und Wünschen) und den sachlich begründeten Kausalitäten (den Notwendigkeiten, Ordnungen, Regeln, Pflichten und Aufgaben) achtsam zu. Korczaks Pädagogik der Achtung erkennt: Kein Kind darf auf feste Ziele hin entworfen und festgelegt werden. Kein Mensch darf es für seine Zwecke „kneten oder ummodeln“ (Korczak 1978, 350 uj 7+8 | 2022 Janusz Korczak und die UN-Behindertenrechtskonvention 214). Die pädagogische Fachkraft hat vielmehr das verborgene oder verdrängte Gute im Kind feinfühlend freizulegen, ihm so die Chance der Selbstannahme in der Gegenwart zu geben und ihm das Aktivieren der Selbstheilungskräfte durch Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Für den Psychoanalytiker und -therapeuten Arno Gruen, der die Strukturen der Macht analysiert hat, ist die Frage nach dem Mitgefühl die Frage nach dem Menschsein schlechthin. Gruen nimmt Korczak als Menschen wahr, der eine feinfühlige Hellsichtigkeit für den Schmerz entwickelte: „Seine Verzweiflung über das, was Menschen einander zufügen, führte bei ihm zu einem äußerst mitfühlenden Herz ohne Selbstmitleid.“ Korczak erkannte,„dass die einzig wahre Kraft aus erlebtem Schmerz emporsteigt. […] Nur indem ein Kind bei seinem eigenen Schmerz bleiben kann und der Erwachsene es darin begleitet, […] kann es die Kraft aufbauen Mensch zu sein. Es sind die Kinder selber, die uns den Weg hin zum Menschlichen zeigen können“ (Gruen 2003, 6). Die pädagogische Fachkraft kann Korczaks Pädagogik auf sich wirken und zum Orientierungsmaßstab für ihre Haltung, ihr Fühlen und Wollen, Denken und Handeln werden lassen. Sie kann erkennen, dass sich in ihrer Person das Handlungswissen (Theorie) und die Praxismethoden (Praxis) vereinigen. Und sie kann den Atem und den Herzschlag des Kindes spüren, hören und sehen - und sich durch diese ästhetische (sinnliche) Erfahrung im Dialog mit dem Kind weiterbilden. Ihre resonanzbezogene Professionalität ist nie abgeschlossen. Jedes Kind gibt ihrer nie endenden Erziehungskunst neue Rätsel auf. Darin liegt der immer wieder neue Anreiz, sich mit Kindern auf eine nie endende Entdeckungsreise zu begeben. Prof. em. Dr. Dr. et Prof. h. c. Ferdinand Klein Adalbert-Stifter-Str. 4 a 83043 Bad Aibling E-Mail: ferdi.klein2@gmail.com Literatur Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen (2017): Demokratie braucht Inklusion. In: https: / / www.behinderten beauftragte.de/ SharedDocs/ Publikationen/ UN_Kon vention_deutsch.pdf? __blob=publicationFile&v=2 Gruen, A. (2003): Wie man ein Kind lieben soll. publikforum 6, 1 - 8 Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks. BurckhardtHaus, München Klein, F. (2021): Bewegung, Spiel und Rhythmik. modernes Lernen, Dortmund Korczak-Bulletin (2015): 24. Jg., Ausgabe September, S. 2 Korczak, J. (1973): Wenn ich wieder klein bin. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Korczak, J. (1978): Wie man ein Kind lieben soll. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Krenz, A. (2018): Der Situationsorientierte Ansatz - auf einen Blick. BurckhardtHaus, München Krenz, A./ Klein, F. (2012): Bildung durch Bindung. Frühpädagogik: inklusiv und beziehungsorientiert. 2. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Neuhäuser, G./ Klein, F. (2019): Therapeutische Erziehung. Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule. BurckhardtHaus, München
