unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2022
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Rezension: Heekerens, H.-P. (2021): Wie die Erlebnispädagogik laufen lernte. Outward Bound in der Bonner Republik
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2022
Werner Michl
Erst 2019 hat Hans-Peter Heekerens eine spannende historische Analyse der Erlebnispädagogik vorgelegt - siehe die Rezension in der Zeitschrift e&l - erleben und lernen (3&4), 2020, 65f Ende 2021 ist ein weiteres umfangreiches Buch zur Geschichte von „Outward Bound in der Bonner Republik“ erschienen, das auch im Netz zu lesen ist (https://zks-verlag.de/wp-content/uploads/Heekerens_Erlebnispaedagogik_ebook.pdf). In zehn Kapiteln wird der Weg von Outward Bound Deutschland von den Anfängen bis in die 1980er-Jahre nachgezeichnet, immer eingebettet in die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und Ereignisse. Dahinter verbirgt sich nicht nur großes historisches Fachwissen, sondern auch ein Schreibstil, den man als gescheit und gebildet, forsch und frech, belesen und beeindruckend, sachlich und streitbar kennzeichnen kann. Es ist in der Tat eine atemberaubende Lektüre und eine Achterbahnfahrt durch die frühe Geschichte der BRD.
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352 uj 7+8 | 2022 Rezensionen Jahren stark expandierten Arbeitsfeldes verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Hier werden zentrale Erkenntnisse zur motorischen wie zur kognitiven Entwicklung vorgestellt. Und erneut werden geschlechtsspezifische Differenzen thematisiert. „Tatsächlich finden sich Geschlechtsunterschiede im Spielinteresse bereits bei Neugeborenen. So interessieren sich Mädchen mehr für Gesichter und Jungen mehr für mechanische Gegenstände - zum Beispiel für ein Mobile über dem Kinderbett“ (262). Diese Unterschiede werden im Lauf der Entwicklung durch soziale Einflussfaktoren geschlechtsstereotyp ausgeformt. Das mittlere Kindesalter (Kapitel 5) und die Adoleszenz (Kapitel 6) werden mit ihren jeweiligen Entwicklungsbesonderheiten und -tempi umfassend dargestellt, wobei insbesondere die mit der Pubertät einhergehenden Dynamiken und psychosozialen Auswirkungen spannend mit den organischen und hormonellen Veränderungen verknüpft werden. Und nicht zuletzt folgt ein Kapitel zu Störungen, die ihrerseits jedoch entwicklungsdynamisch vorgestellt (Risiko/ Resilienz) und nicht als Fatum präsentiert werden. Hier wird ein sehr schönes Buch vorgelegt: Die Kapitel sind sehr gut strukturiert, mit vielfältigem statistischem Material unterlegt, und eine große Zahl schöner Abbildungen illustriert die inhaltliche Ausführung des Textes. Hie und da hätte man sich den Bezug zu herausragenden älteren Untersuchungen gewünscht (z. B. René Spitz „Vom Säugling zum Kleinkind“, 1967), um Veränderungen des Forschungs- und Wissensstandes zur menschlichen Entwicklung stärker zu veranschaulichen. Aber unabhängig davon wird man sagen können: Wer „Die kindliche Entwicklung verstehen“ will, darf an diesem Buch nicht mehr vorbeigehen, es sollte zum Kernbestand aller Fachkräfte gehören, die mit kindlicher Entwicklung zu tun haben. Das selbstgesteckte Ziel, „… die Erkenntnisse aus der Forschung nicht nur in einem wissenschaftlichen Kontext zu vermitteln, sondern auch für die Praxis nutzbar zu machen“ (VI), ist Oskar Jenni mit diesem Buch bestens gelungen! Prof. Dr. Roland Merten Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Erziehungswissenschaft Am Planetarium 4 07737 Jena DOI 10.2378/ uj2022.art50d Heekerens, H.-P. (2021): Wie die Erlebnispädagogik laufen lernte. Outward Bound in der Bonner Republik ZKS Verlag für psychosoziale Medien, Höchberg. ISBN 978-3-947502-56-1, 424 S., € 39,90 Rezensent: Prof. Dr. Werner Michl, MA Jg. 1950; bis 2016 Professor für Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Nürnberg und assoziierter Professor an der Universität Luxemburg. 1996 - 2002 Begründer und Leiter des „Zentrum für Hochschuldidaktik der bayerischen Fachhochschulen - DiZ“ in Kempten. Mitherausgeber der Zeitschrift „e&l. erleben und lernen. Internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen“ und der Buchreihe „erleben und lernen“ Erst 2019 hat Hans-Peter Heekerens eine spannende historische Analyse der Erlebnispädagogik vorgelegt - siehe die Rezension in der Zeitschrift e&l - erleben und lernen (3&4), 2020, 65f Ende 2021 ist ein weiteres umfangreiches Buch zur Geschichte von„Outward Bound in der Bonner Republik“ erschienen, das auch im Netz zu lesen ist (https: / / zks-verlag.de/ wp-content/ uploads/ Heekerens_Erlebnispaed agogik_ebook.pdf ). In zehn Kapiteln wird der uj 7+8 | 2022 353 Rezensionen Weg von Outward Bound Deutschland von den Anfängen bis in die 1980er-Jahre nachgezeichnet, immer eingebettet in die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und Ereignisse. Dahinter verbirgt sich nicht nur großes historisches Fachwissen, sondern auch ein Schreibstil, den man als gescheit und gebildet, forsch und frech, belesen und beeindruckend, sachlich und streitbar kennzeichnen kann. Es ist in der Tat eine atemberaubende Lektüre und eine Achterbahnfahrt durch die frühe Geschichte der BRD. Die Warnung vor der Lektüre im ersten Kapitel (15) ist natürlich etwas übertrieben, obwohl es schon Erkenntnisse und Provokationen gibt, die zum Nach- und Überdenken anregen, auch zu brüsker Ablehnung oder dankbarer Zustimmung. Betrachtet wird vor allem der Zeitraum von 1951, der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Europäische Erziehung (DGfEE) und des ersten Kurses an der Kurzschule Nehmten, bis 1986, dem Jahr, dem Heekerens zu Recht den Startpunkt der modernen Erlebnispädagogik zuschreibt. Und doch gibt es immer wieder diverse Rückblicke, in den Heidelberger Kreis um Max Weber, in die Zeit der Salemer Zisterzienser, in die Jugenderinnerungen von Golo Mann (1986). Im zweiten Kapitel wird der Weg von Weimar nach Bonn mit vier biografischen Skizzen nachgezeichnet, sehr spannend zu lesen, jedoch mit wenigen Bezügen zu Outward Bound. Aber man muss und kann sich an die vielen Exkursionen gewöhnen und auch daran, dass hier eine Geschichte der Jugendarbeit der Bonner Republik vorliegt. Das dritte, für die Entwicklung von Outward Bound Deutschland sehr wichtige Kapitel führt von Gordonstoun bis Baad. Die „Burnside-“ oder „Gordonstoun-Konferenz“ war 1951 das Startzeichen für die DGfEE. Das Protokoll dieser Konferenz ist als Download auf der Website der Zeitschrift e & l nachzulesen (https: / / e-und-l.de/ wp-content/ uploads/ 2022/ 01/ gruendungspro tokoll_dgee.pdf ), in Ausschnitten in Heft 5-2019 (Michl/ Fengler 2019), und es liegt auch in der Fachbibliothek Erlebnispädagogik (bei „erlebnistage Harz“), die gerade aufgebaut wird. Heekerens beschreibt detailliert die Voraussetzungen und Folgen dieser Konferenz, die Persönlichkeiten der TeilnehmerInnen, die Rolle von Kurt Hahn und von Minna Specht. Es folgen Anmerkungen zum „Badge-Konzept“, gemeint ist das Moray Badge, das sich zum „The Duke of Edinburgh’s Award“ entwickelte. Das Moray Badge wurde damals unterschätzt, denn es enthält Grundmuster der Hahn’schen Pädagogik. Inzwischen gehört The Duke of Edinburgh’s Award „zu einem der weltweit größten erlebnispädagogischen Bildungsprogramme“ (Vogel 2021, 146). Weitere frühe Stationen wie die Kurzschule Nehmten, Weissenhaus und Baad werden dargestellt. Ein Anschlusskapitel hätte gut dazu gepasst, in dem die frühen knorrigen Persönlichkeiten der deutschen Kurzschulen porträtiert werden. Dazu gehört Ulf Händel, ein Ururenkel der berühmten Musikerfamilie von Georg Friedrich Händel, Bergführer, Philosoph, Pädagoge und Poet. Er hat nicht nur mehrere Lyrikbücher (u. a. 1970) veröffentlicht, sondern auch mehrfach in der früher „heiligen“ Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung Gescheites über Outward Bound und die Erlebnispädagogik geschrieben. Dazu gehört auch der Bergführer Walter Pretzl, der sein Lebenswerk in zwei Büchern (1999 und 2011) festgehalten und auch sonst viel zu erzählen hat, denn er hat alle Standorte von Outward Bound weltweit besucht. Die Lebensgeschichten von Hannes Ther, Ernst Haller und Schorsch Samhuber, der vor langen Jahren zur Spitze der deutschen Kajakfahrer gehörte, bieten viele historische Schätze. Auch durch Interviews mit Persönlichkeiten aus der neueren Geschichte von Outward Bound, wie z. B. Rainer Güttler, Bernd Heckmair, Jus Henseleit, Michael Jagenlauf, Hubert Kölsch, Irmelin Küthe, Wolfgang Mayer oder Franz-Josef Wagner, hätte man einige wertvolle Erinnerungen festhalten können. 354 uj 7+8 | 2022 Rezensionen Wie im zweiten Kapitel werden im vierten wieder zeitgeschichtliche Themen aufgegriffen, die vom Rock ’n’ Roll bis zum Kalten Krieg, von Landsberg am Lech bis zu Gräfin Marion Dönhoff reichen. Der Spurensuche von Sandra Roscher (2005) hatte sich die Gräfin mit leichter Arroganz ebenso verweigert wie Hildegard Hamm-Brücher, beide mit dem Hinweis, dass der Bezug zu Kurt Hahn zu marginal sei. Heekerens setzt zu einer großen Dekonstruktion der Gräfin an, und was zu dieser bedeutenden Journalistin vor den Jahren 1971 recherchiert wird, lässt begeisterten ZEIT-LeserInnen den Atem stocken. Denn nach der Gründung 1946 war die ZEIT nicht nur national-konservativ, sondern gelegentlich auch „tief braun“ (124). Über den Holocaust wurde geschwiegen, den Nürnberger Prozess betrachtete Dönhoff als falschen Ansatz, die Siegerjustiz wird von ihr stark kritisiert und so weiter. Einem seit mehr als 50 Jahren begeisterten ZEIT-Leser tut eine solche, sicherlich fundierte historische Analyse fast körperlich weh. Es ist ein Trauerspiel, ebenso tragisch wie der berechtigte Sturz Hartmut von Hentigs vom pädagogischen Thron. Sie alle hatten mit Kurt Hahn zu tun, unterstützend (Gräfin Marion Dönhoff ), als Schülerin in Salem (Hildegard Hamm-Brücher) und als Kritiker (Hartmut von Hentig). Mit Outward Bound Deutschland hat das nur bedingt zu tun. Im nächsten Abschnitt, sechstes Kapitel, kommen mit Golo Mann und Georg L. Mosse zwei Salem-Schüler zu Wort. Beide haben viel an Kurt Hahn auszusetzen, vor allem Mann, dessen Kritik bei Röhrs (1966) und in der Salemer Festschrift (2020) nachzulesen ist. Allerdings betont Mann in seinen „Erinnerungen und Gedanken“ (1986), dass ihn, neben Karl Jaspers, niemand so geprägt hat wie Kurt Hahn. Anschließend wird sehr detailliert die Geschichte der Kurzschule Baad nachgezeichnet, ergänzt mit einigen Anmerkungen zur „Entdeckung“ von Mädchen und Frauen. 1965 wurde in Baad der erste Mädchenkurs angeboten, durchgeführt von Rosi Ther und Micaela Händel. Ein alter Film im Super-8-Format über diesen Kurs bietet einmalige Einblicke, inzwischen digitalisiert und demnächst über die „Fachbibliothek Erlebnispädagogik“ zu haben. Einen hervorragenden Einblick in die Geschichte der Kurzschulen bieten die Werke von Schwarz (1968) und Weber/ Ziegenspeck (1983). Dann geht es um die Bildungsdiskussion, die „protestantische Mafia“, z. B. Georg Picht, Hartmut von Hentig, der auch am Augsburger Kongress „erleben und lernen“ teilgenommen hat (1999), Hellmut Becker, Gräfin Marion Dönhoff, und um die 68er-Jahre. Im siebten Kapitel werden Herman Nohl und Hellmut Becker als zwei Wegbegleiter von Kurt Hahn beschrieben. Sehr wichtig ist der Hinweis von Heekerens, dass Hahn, vermutlich unter dem Einfluss von Nohl, erst 1951 den Begriff „Erlebnistherapie“ verwendete. Auch das Lawinenunglück einer Tourengruppe von Outward Bound 1982, bei dem 13 Menschen zu Tode kamen, wird erwähnt. Im Jahr 2022 ist der 40. Jahrestag dieses Unglücks, das fast das Ende von Outward Bound Deutschland bedeutet hätte. Das achte Kapitel bringt Einblicke in die 1970er- Jahre, zu Reisen nach Indien, zu Uschi Obermeier und Amon Düül II, zu Easy Rider und zu Drogenerfahrungen - zu ergänzen wären in Bayern: die Musikband „Sparifankal“ oder der Gedichtband „friss wos i sog“ von Benno Höllteufel (Pseudonym für Carl Ludwig Reichert und Michael Fruth), der die Auflagenhöhe von Kultbüchern von Böll oder Grass erreichte. Alles ist fesselnd geschrieben, aber doch eine sehr umfangreiche Exkursion. Im zweiten Teil dieses Abschnitts wird die Kurzschule Berchtesgaden beschrieben, der Weg von der Kurzschule zu Outward Bound, von der Erlebnistherapie zur Erlebnispädagogik und Outward Bound plus. Unter dieser damals modischen Vereinnahmung verbirgt sich nichts anderes als die Diskussion und Reflexion nach handlungsorientierten Einheiten. Auf der Suche nach Persönlichkeiten im Vorstand der DGfEE fällt auch der Name Albert von Schirnding. Die Zuschreibung „schöngeistig“ (286) wird dem Lehrer, Lyriker, Autoren, Philosophen, Schlossherren und Waldbesitzer nicht ganz gerecht. Seine literarische Laufbahn begann er als Privatsekretär bei Ernst Jünger (1990), als Lyriker hinterlässt er Gedichte, die uj 7+8 | 2022 355 Rezensionen einen festen Platz in der Literaturgeschichte bekommen werden. Als Lyrikfan sage ich, dass einige Volltreffer dabei sind, was ja laut Reich- Ranicki selten vorkommt. Als Autor schreibt er bis heute geistvolle Genussprosa (2020) und hat als leidenschaftlicher Lehrer Generationen von SchülerInnen geprägt - der Rezensent kennt mehrere seiner ehemaligen SchülerInnen. Ohne Zweifel sind die Frauen in der Geschichte der Erlebnispädagogik vernachlässigt worden (neuntes Kapitel). Heekerens nennt Minna Specht und Marina Ewald, die eher für Salem stehen. Genauso könnte man Rosi Ther und Micaela Händel als Gründerfrauen für die Mädchenarbeit in den Kurzschulen bezeichnen. Specht wurde eigentlich nicht von der Erlebnispädagogik übersehen. Seit der dritten Auflage von Heckmair/ Michl (1998) hat sie einen festen Platz in Kapitel 1.4. Vor Ewalds Lebensleistung muss man sich verbeugen und gleichzeitig um Verzeihung bitten. In keinem erlebnispädagogischen Buch wird sie gewürdigt. Ihre Finnlandfahrt wurde das Muster für Kurt Hahns „Expedition“ (314), und ihre Bedeutung für Salem kann nur unterschätzt werden. Georgia van der Rohe, die freigeistige Tochter von Mies van der Rohe, hat ihr ein Denkmal gesetzt als beliebte Lehrerin, als Managerin von Kurt Hahn, als mutige Fürsprecherin in schwierigen politischen Zeiten (2001). Mehrfach plädiert Heekerens für das Reflexionsmodell, das genau genommen keines ist: „Die Berge sprechen für sich selbst.“ Ja, auch wenn es eine große Vielfalt an Reflexionsmethoden gibt (Friebe 210), kann man Eindrücke und Erlebnisse zerreden - so wie ein gutes lyrisches Gedicht sich dadurch auszeichnet, dass es nicht erklär- und interpretierbar ist. Allein das Buch „Botschaft der Berge“ (Stecher 1996) ist ein Beweis, dass die Berge für sich selbst sprechen. Man muss sie aber auch hören. Zum zehnten und letzten Kapitel sollen ein paar Anmerkungen zu unterschiedlichen Themen genügen. Beim Streit über das Warenzeichen „Outward Bound“ zwischen der DGfEE, vertreten durch Rainer Güttler, und Jörg Ziegenspeck hatten sich zwei verbissene Kämpfer gefunden. Dieser Streit lähmte die Erlebnispädagogik in Deutschland über mehrere Jahre hinweg. Den Abgesang auf die Verfallserscheinungen Kurt Hahns kann man nachvollziehen. Allerdings spielen die Verfallserscheinungen in der erlebnispädagogischen Praxis längst keine Rolle mehr. Die positiven Wendungen, Hahn würde sagen: „Therapien“, sind nach wie vor eine wertvolle Orientierung. Eine Hochschulausbildung „Erlebnispädagogik“ (279) in Form eines Bachelors ist nicht sinnvoll, da zu speziell. Auch den Masterstudiengang „Abenteuer- und Erlebnispädagogik“ an der Universität Marburg darf man kritisch hinterfragen. Den „Dienst am Nächsten“ (381) kann man heute freier interpretieren. Er reicht vom gemeinsamen Kochen, Geschirrspülen und Müllentsorgen bis zu kleinen Diensten wie z. B. bei einer Wanderung die Orientierung durch Landkarte und Kompass zu übernehmen, den Zeltaufbau zu organisieren, sich Erste-Hilfe-Kompetenzen anzueignen und anderen TeilnehmerInnen Wissen über Fauna und Flora zu vermitteln. Seenotrettung, Katastrophenschutz, Feuerwehr, Hilfe bei Bergunfällen gehören zur Geschichte von Salem und Outward Bound Deutschland. Die „Praktische Erlebnispädagogik“ von Annette Reiners ist ohne Zweifel eine der erfolgreichsten Diplomarbeiten im deutschsprachigen Raum, die es zu neun Auflagen und drei Bänden gebracht hat. Sie stünde heute unter akutem Plagiatsverdacht. Was die Bedeutung des Sports in der Erlebnispädagogik betrifft, muss man Wahl (2021, 155) und Heekerens (384f ) zustimmen, wenn sie anmerken, dass mittlerweile das Ausmaß sportlicher Tätigkeiten stark reduziert wurde. Anstrengende 4bis 8-stündige Bergtouren, wie früher an der Kurzschule Baad, sind heute nicht mehr möglich. Immerhin hat der Rezensent an der TH Nürnberg über fast zehn Semester ein Seminar mit dem Titel „Von Null auf 21“ angeboten, in dem in zwei Semestern zusammen mit Jugendlichen aus der Heimerziehung (Thomas- Wiser-Haus, Regenstauf ) auf den Regensburger Halbmarathon vorbereitet wurde. Der gemeinsame Halbmarathon oder auch nur die 10-km- Strecke waren der krönende Abschluss. 356 uj 7+8 | 2022 Rezensionen Nach der fesselnden Lektüre muss man erst einmal durchatmen und an die Gegenwart der Erlebnispädagogik denken, vor allem an die vielfältige Praxis. Ungeachtet vieler kritischer Anmerkungen wird dort beste Arbeit geleistet von hervorragend ausgebildeten Trainerinnen und Trainern. Die aus der Geschichte abgeleitete Kritik an der Erlebnispädagogik hat Tradition. Bei der Tagung „Abenteuer - ein Weg zur Jugend“ 1992 in Marburg haben sich mehrere ExpertInnen im Rahmen einer Podiumsdiskussion über die Kulturkritik des 19. Jahrhunderts gestritten, über die zwielichtigen, antisemitischen und tief nationalen Ansichten von Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Friedrich Nietzsche. Zumindest bei Nietzsche lag man falsch. Die Frage bleibt im Raum, ob man Paul de Lagarde und Julius Langbehn als Vorläufer und Wegbereiter der Erlebnispädagogik einordnen kann und ob die aktuelle Praxis der Erlebnispädagogik wirklich davon beeinflusst ist. Auch die „Kritik der Erlebnispädagogik“ (Schott 2009) fördert belastendes historisches Material zu Tage. Die kritischen Anmerkungen von Heekerens sind sehr fundiert, zudem weiß man, dass er mit Leidenschaft (auch) Erlebnispädagoge ist. Nachdem in der vorliegenden Publikation die Zeitgeschichte mehr Platz einnimmt als die Geschichte von Outward Bound, hier ein Titelvorschlag für eine zweite Auflage, die man dem Buch nur wünschen kann: „Die Bonner Republik und Outward Bound“. Literatur Friebe, J. (2010): Reflexion im Training. Aspekte und Methoden der modernen Reflexionsarbeit. manager- Seminare, Bonn Händel, U. (1970): Endzeit. Ansätze und Abgesänge. Holzer, Weiler i. A. Heckmair, B., Michl, W. (1998): Erleben und Lernen. Einstieg in die Erlebnispädagogik. 3. Aufl. Luchterhand, Neuwied/ Kriftel/ Berlin Hentig, H. von (1999): „Erlebnis ist in meiner Pädagogik unentbehrlich…“ - ein Gespräch. In Schödlbauer, C., Paffrath, F. H., Michl, W. (Hrsg.): Metaphern - Schnellstraßen, Saumpfade und Sackgassen des Lernens. ZIEL, Augsburg, 77 - 92 Höllteufel, B. (1971): friss wos i sog. Piper, München Mann, G. (1986): Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Fischer, Frankfurt a. M. Michl, W., Fengler, J. (Hrsg.) (2019): Gründerjahre. e&l - erleben und lernen 5, Themenheft Pretzl, W. (1999): Die Farbe des Himmels. Möglichkeiten, Grenzen und Probleme der Erlebnispädagogik. Verlag Mainz, Aachen Pretzl, W. (2011): Erlebnisse eines Erlebnispädagogen. novum eco, Nettenmarkt (A) Rohe, G. van der (2001): La donna è mobile. Mein bedingungsloses Leben. Aufbau-Verlag, Berlin Röhrs, H. (Hrsg.) (1966): Bildung als Wagnis und Bewährung. Quelle & Meyer, Heidelberg Roscher, S. (2005): Erziehung durch Erlebnisse. Der Reformpädagoge Kurt Hahn im Licht der Zeitzeugen. ZIEL, Augsburg Schirnding, A. v. (1990): Begegnungen mit Ernst Jünger. Langewiesche-Brandt, Ebenhausen b. München Schirnding, A. v. (2020): Galerie der guten Geister. Von Sappho bis Beckett. Beck, München Schott, T. (2009): Kritik der Erlebnispädagogik. 2. Aufl. Ergon, Würzburg Schule Schloss Salem (Hrsg.) (2020): Schule Schloss Salem 1920 - 2020. Kohlhammer, Stuttgart Schwarz, K. (1968): Die Kurzschulen Kurt Hahns. A. Henn, Ratingen b. Düsseldorf Stecher, R. (1996): Botschaft der Berge. 11. Aufl. Tyrolia, Innsbruck Vogel, K. (2021): Der Duke of Edinburgh’s International Award. In: Michl, W., Seidel, H. (Hrsg.): Handbuch Erlebnispädagogik. 2. Aufl. Reinhardt, München, 146 - 148 Wahl, W. (2021): Erlebnispädagogik. Praxis und Theorie einer Sozialpädagogik des Außeralltäglichen. Beltz, Weinheim/ Basel Weber, H., Ziegenspeck, J. (1983): Die deutschen Kurzschulen. Beltz, Weinheim/ Basel Prof. i. R. Dr. Werner Michl, MA Kellerbachstr. 7 82335 Berg Internet: www.wernermichl.de E-Mail: michl@hostmail.de DOI 10.2378/ uj2022.art51d
