eJournals unsere jugend 74/9

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2022.art53d
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Sozialraumorientierung – konzeptionelle Grundlagen, Hindernisse und Chancen

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Wolfgang Hinte
Die im Fachkonzept „Sozialraumorientierung“ formulierten Prinzipien geben im oft undurchsichtigen Dschungel von Fachlichkeitsanforderungen Orientierung und Übersicht sowie Anhaltspunkte für die immer wieder herzustellende Klarheit im beruflichen Alltag. Sie sind gewissermaßen wegweisende Leitplanken für Prozesse, in denen die EntscheidungsträgerInnen dafür stehen, dass Strukturen, Organisationsformen und Finanzierungsvarianten immer den gewünschten Inhalten folgen: „Inhalt vor Struktur“.
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362 unsere jugend, 74. Jg., S. 362 - 372 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art53d © Ernst Reinhardt Verlag Sozialraumorientierung - konzeptionelle Grundlagen, Hindernisse und Chancen Die im Fachkonzept „Sozialraumorientierung“ formulierten Prinzipien geben im oft undurchsichtigen Dschungel von Fachlichkeitsanforderungen Orientierung und Übersicht sowie Anhaltspunkte für die immer wieder herzustellende Klarheit im beruflichen Alltag. Sie sind gewissermaßen wegweisende Leitplanken für Prozesse, in denen die EntscheidungsträgerInnen dafür stehen, dass Strukturen, Organisationsformen und Finanzierungsvarianten immer den gewünschten Inhalten folgen: „Inhalt vor Struktur“. von Prof. Dr. Wolfgang Hinte Jg. 1952; Hochschullehrer i. R., langjähriger Leiter im „Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung“ (ISSAB) der Universität Duisburg- Essen, begleitet seit über 30 Jahren kommunale freie Träger insbesondere der Jugend- und Behindertenhilfe bei Umbauprozessen nach sozialräumlichen Konzepten Das diesem Beitrag zugrunde liegende Fachkonzept Sozialraumorientierung (Hinte/ Treeß 2014; Fürst/ Hinte 2020) ist konzipiert worden als für sämtliche Bereiche professioneller sozialer Arbeit relevante inhaltliche Folie, die jenseits aktuell aufkommender Trends oder modernistischer Kurzzeit-Hypes eine die jeweilige Institution oder Region prägende Konstante darstellt (vergleichbar mit dem „Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit“ - Boulet/ Krauss/ Oelschlägel 1980) - gleichsam ein Rahmen, in dem ein bunter Strauß an verschiedenen methodischen Ansätzen, räumlichen oder auf Einzelfälle bezogenen Aktivitäten sowie dem jeweils wechselnden Bedarf entsprechenden Einrichtungs- oder Hilfeformen blühen kann. Dieses Fachkonzept, ursprünglich entwickelt aus der Gemeinwesenarbeit und übergangsweise bezeichnet als „stadtteilbezogene Soziale Arbeit“, ist mittlerweile Anlass und Grundlage für den Umbau zahlreicher regionaler Landschaften in kommunalen Gebietskörperschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz und dient - in regional unterschiedlichen Ausprägungen - als konzeptionelle inhaltliche Folie für die Erbringung unterschiedlicher Leistungen (nicht nur) in Feldern sozialer Arbeit. Das Fachkonzept: Prinzipien und Steuerungsebenen Sozialraumorientierte Arbeit beginnt entweder bei der einzelnen (leistungsberechtigten) Person und richtet davon ausgehend den Blick auf den räumlichen Kontext (vom Fall zum Feld oder der Fall im Feld), oder sie beginnt (insbesondere im Rahmen von Projekten der Gemeinwesen- oder Stadtteilarbeit) bei einem geografisch definierten Raum (ein Stadtteil, ein Wohngebiet, ein Kiez, ein Sprengel) und führt 363 uj 9 | 2022 Sozialraumorientierung - Grundlagen, Hindernisse und Chancen davon ausgehend zu den von den dort lebenden Menschen artikulierten Interessen und Willensbekundungen (vom Territorium zur Person). Dieses Wechselverhältnis zwischen Raum und Person ist konstitutiv für dieses Fachkonzept, das sich konsequenterweise immer richtet ➤ zum einen auf die Ausleuchtung und die Erweiterung des inneren Raumes eines Menschen durch eine konsequent ressourcenorientierte Sicht der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, seines Willens und seines Lebensentwurfs ➤ zum anderen auf die Erweiterung des den Menschen umgebenden äußeren Raumes, wobei es immer sowohl um die bessere Ausstattung des „Raumes“ geht (erschwinglicher Wohnraum, funktionierendes Internet, ein gutes Verhältnis zwischen Grünflächen und bebauter Umwelt, wohnortnahe Dienstleistungen usw.) als auch um die aufmerksame Wahrnehmung vorhandener räumlicher Ressourcen zur Nutzung für die Realisierung des persönlichen Lebensentwurfs im Rahmen eines Unterstützungsarrangements oder von Projekten, Aktionen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten, etwa im Kontext von Gemeinwesenarbeit (Hinte 2018). Äußere Räume sind sowohl materielle, geografische wie auch virtuelle Einheiten. Damit unterscheidet es sich von solchen Entwürfen, die häufig beliebig, manchmal aber auch ganz gezielt dazu benutzt werden, Prozesse und/ oder Debattenbeiträge lediglich mit dem Hauch des Territorialen zu umgeben und sie damit nur oberflächlich in eine fachliche Strömung einzuordnen, die seit den 1990er Jahren den engen Blick auf den einzelnen Menschen, den „Fall“, weitete hin zu den ihn prägenden bzw. umgebenden Bedingungen: „Vom Fall zum Feld“ (Hinte/ Litges/ Springer 1999). Weil ich weiß, dass im Publikationsallerlei zur Frage „Was ist Sozialraumorientierung? “ nicht nur Erhellendes geschrieben wird, liegt mir an einer (notwendigerweise knappen) Definition dessen, was ich meine, wenn ich von „Sozialraumorientierung“ spreche und schreibe. In der Sozialraumorientierung geht es nicht darum, mit ausgefeiltem Methodenarsenal und pädagogischer Absicht Menschen zu verändern, sondern darum, Lebenswelten zu gestalten und Arrangements zu kreieren, die (nicht nur leistungsberechtigten) Menschen helfen, auch in prekären Lebenssituationen zurechtzukommen. Gleichsam als Bojen für die Qualität professioneller „sozialraumorientierter“ Tätigkeit dienen die hinlänglich bekannten fünf Prinzipien - Thiesen (2018) nennt sie die „Big Five“ -, die in ihrer aktuellen Formulierung wie folgt lauten: 1. Ausgangspunkt jeglicher Arbeit sind der Wille/ die Interessen der Menschen (in Abgrenzung zu Wünschen oder extern definierten Bedarfen). 2. Die eigene Aktivität der Menschen hat grundsätzlich Vorrang vor betreuender professioneller Tätigkeit. 3. Bei der Gestaltung von Arrangements spielen personale und sozialräumliche Ressourcen eine wesentliche Rolle. 4. Aktivitäten sind immer zielgruppen- und bereichsübergreifend angelegt. 5. Vernetzung und Kooperation der lokalen sozialen Dienste sind Grundlage für gestaltende und nachhaltig wirksame Soziale Arbeit. Sozialraumorientierung als fachliches Konzept besteht im Kern aus diesen fünf Prinzipien; die AkteurInnen lassen sich indes bei deren Realisierung geradezu hemmungslos von allen herkömmlichen und aktuellen methodischen Ansätzen beeinflussen: etwa Signs of Safety (Robbers 2020), Motivational Interview (Miller/ Rollnick 2015), Lösungsorientierte Ansätze (Bamberger 2010; Berg 2015), Familienrat (Früchtel/ Roth 2017). Sozialraumorientierung ist damit nicht eine neue „Theorie“, kein mit anderen „Schulen“ konkurrierender Ansatz, sondern eine unter Nutzung und Weiterentwicklung miteinander verwandter verschiedener theoretischer und methodischer Blickrichtungen entwickelte Per- 364 uj 9 | 2022 Sozialraumorientierung - Grundlagen, Hindernisse und Chancen spektive, die als konzeptioneller Hintergrund (Fachkonzept) für das Handeln in zahlreichen Feldern sozialer Arbeit dient. Um den Kern des Konzeptes herum werden ständig Anpassungsleistungen vorgenommen, Stilwechsel und Darstellungsvarianten bis hin zum Austausch von unzeitgemäßen Vokabeln. Im Grunde existiert dieses Konzept in seinen Kernprinzipien seit den 70er Jahren. Um es in neueren Vokabeln zu sagen: Irgendwie ist es systemisch, lebensweltorientiert, ökosozial, lösungsorientiert und empowernd, doch es gab es schon, bevor seine Inhalte in all diese zeitgenössischen Strömungen einflossen: die Gnade der frühen Geburt. Prononciert ausgedrückt steht Sozialraumorientierung als Chiffre für die im Geiste der alten Gemeinwesenarbeit fortentwickelte Sozialarbeit weg von der auf den/ die KlientIn bezogenen Haltung des „Ich weiß, was für dich gut ist, und das tun wir jetzt.“ über das „Eigentlich weiß ich schon, was für dich gut ist, aber ich höre dir erstmal zu.“ hin zum konsequenten „Dein Wille wird ernst genommen - er ist mir nicht Befehl, aber ich will mich ihm mit meinen fachlichen und den leistungsgesetzlichen Möglichkeiten stellen“. Ausführlich sind die o. g. Prinzipien u. a. bei Hinte/ Treeß 2014; Noack 2015; Fürst/ Hinte 2020 (darauf bezogene empirische Arbeiten s. Noack 2017) dargestellt. Hinter diesen auf den ersten Blick möglicherweise selbstverständlichen Merksätzen verbergen sich weitreichende Folgen sowohl für das sozialarbeiterische Handeln, die Organisation sozialer Arbeit, die Finanzierungsformen für die Leistungserbringung als auch für die Gestaltung regionaler Sozialarbeitslandschaften (siehe das SONI-Schema: Früchtel/ Cyprian/ Budde 2013). Wir verfügen somit über einen theoriebasierten Ansatz mit entsprechenden methodischen, strukturellen und finanzierungstechnischen Vorschlägen, der als Kompass für konkrete, systematisch angelegte und nachhaltig wirkende Prozesse in Städten und Landkreisen genutzt werden kann und vielerorts wird. Auf der territorialen Steuerungsebene dient der Sozialraum als Bezugsgröße für die Konzentration von Personal und anderen Ressourcen. Innerhalb der Planungsgröße „Sozialraum“ setzen Fachkräfte - je nach festgestelltem Bedarf und ausgerichtet an den individuellen Definitionen der Menschen - Schwerpunkte in kleineren räumlichen Einheiten, die je nach Entwicklungen im jeweiligen Sozialraum wechseln können. Die territoriale Dimension sollte sich in der Organisationsstruktur etwa einer Kommunalverwaltung oder in leistungserbringenden Organisationen freier Träger abbilden und als dominantes Prinzip allenfalls durch Fach- oder Abteilungsstrukturen bzw. Immobilien ergänzt werden. Auf der finanzierungstechnischen Steuerungsebene werden alle Möglichkeiten ausgeschöpft, unter Nutzung der auf den Einzelfall bezogenen gesetzlich verbrieften Pflichtleistungen regionale und/ oder einrichtungsbzw. leistungsbezogene Finanzierungsformen zu installieren, die die Fachkräfte bei einer die Ressourcen des Sozialraums nutzenden Einzelfallarbeit unterstützen und gleichzeitig anregen, tragende Strukturen personeller und materieller Art für eine frühzeitige lebensweltliche Unterstützung von Hilfe suchenden Menschen aufzubauen. Wir verfügen mittlerweile über ein beachtliches Quantum an Erfahrungen mit systematisch angelegten und über mehrere Jahre laufenden Prozessen, bei denen sich Städte, Landkreise, Trägerorganisationen oder Kommunalverwaltungen auf den Weg machten, Sozialraumorientierung als leitende fachliche Folie für die Weiterentwicklung in bestimmten Leistungsfeldern zu nutzen 1 . 1 Nur eine kleine Auswahl von dokumentierten Beispielen: Berlin (Brünjes 2006; Volk/ Till 2006); Nordfriesland (Stephan 2006; Hinte/ Pohl 2018); Rosenheim (Wittmann 2020); Zürich (Waldvogel 2007); Graz (Krammer/ Punkenhofer 2019); Hamburg (Stephan 2020); Sozialdienste Kanton Bern (Lienhart/ Kobel 2020); Familiensupport Bern (Quick/ Kormann 2020); Deutscher Caritasverband (Wössner 2020). Darüber hinaus gibt es zahlreiche noch nicht dokumentierte Umbauprozesse wie etwa im Vogelsberg-Kreis, Werra-Meißner-Kreis, Stadt Weimar u. a. 365 uj 9 | 2022 Sozialraumorientierung - Grundlagen, Hindernisse und Chancen Bei der Einführung sozialraumorientierter Arbeitsweisen erwies es sich als nicht besonders förderlich, dass der Begriff „Sozialraumorientierung“ in kürzester Zeit zum Opfer einer vornehmlich akademisch 2 geführten Diskussion wurde. Der inflationäre Gebrauch der Vokabel „Sozialraumorientierung“ verführt zu Unschärfen und Diffusitäten bis hin zu Vereinnahmungen oder Verfälschungen, vor denen man nicht geschützt ist - etwa, wenn der schlichte Versuch, soziale Dienstleistungen dezentral oder gebietsspezifisch zu arrangieren, mit dem Label „Sozialraumorientierung“ geadelt wird. Organisationen wie freie Träger oder Kommunalverwaltungen verweisen häufig darauf, dass sie eine territoriale Herangehensweise (man kann auch sagen: nur die Steuerungsgröße „Sozialraum“) als wichtiges Element bei der Planung und Durchführung von Leistungen, oft im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, vermehrt aber auch in der Eingliederungshilfe, der Pflege und der Arbeitsförderung sehen. Die im Gefolge dieser Programmatik entwickelten Aktivitäten sind, so gut sie auch jede für sich fachlich sein mögen, nicht zu verwechseln mit dem Umbau einer regionalen Landschaft oder einer größeren Organisation vor dem Hintergrund des hier in Rede stehenden Fachkonzeptes Sozialraumorientierung. Die Öffnung eines Jugendhauses für „den Sozialraum“, der Aufbau einer systematischen Partizipation von Jugendlichen bei der Planung von sozialen Räumen, auf ein Quartier bezogene Street-Work-Aktivitäten oder auch die Organisation von BürgerInnenbeteiligung in einem Wohnbezirk sind (wenn sie denn nach den Regeln der Kunst durchgeführt werden) wertvolle und begrüßenswerte Aktivitäten, und dies auch deshalb, weil sie das Lebensfeld der Menschen als prägende Konstante im Blick haben und bei der Planung und Durchführung der jeweiligen Aktivitäten prominent berücksichtigen. Diese Einzelaktionen sind indes zu unterscheiden von langfristig angelegten, über mehrere Jahre geplanten Prozessen, die eine nachhaltig wirksame Veränderung von Organisationsstrukturen, Verfahren, organisationalen Abläufen und Finanzierungsmodalitäten im Blick haben, um dadurch den Boden dafür zu bereiten, dass die fachlichen Implikationen des Fachkonzepts Sozialraumorientierung von den professionellen AkteurInnen als Leitlinie ihres Handelns begriffen werden und sich dadurch die Leistungserbringung sozialer oder anderer Dienste in Richtung der durch das Fachkonzept vorgegebenen Qualitätsaspekte fortentwickelt. Erschwernisse Nun sind die fachlichen Implikationen eines sozialräumlichen Ansatzes zwar kongress- und publikationstauglich, und gleichzeitig beinhalten sie enorme Herausforderungen für das konkrete Handeln der Fachkräfte. Wer systematisch mit dem Willen der Menschen arbeitet, darf sich nicht verlieren bei der Behandlung von Wünschen oder in der Formulierung wohlklingender, schwammig beschriebener und durch bürgerliche Normalität geprägter Ziele, die mit dem Lebensentwurf der betroffenen Menschen nichts zu tun haben. Wer sich einer allseits geschätzten Ressourcenorientierung verpflichtet fühlt, muss in der Lage sein, sich nicht durch diagnostische Gutachten chloroformieren zu lassen, in denen KlientInnen aus einer (durchaus in sich stimmigen) psychiatrischen Sicht mit Doppel-, Dreifach- und Mehrfachdiagnosen so beschrieben werden, dass die betroffenen Menschen bei der Lektüre dieser Schriftsätze kurz davor sind, sich die Kugel zu geben, weil sie ihre Ressourcen allenfalls in homöopathischen Hochpotenzen irgendwo in Fußnoten entdecken können. Wer das sozialräumliche Aktivierungsprinzip ernst nimmt, fragt in jedem Leistungsfeld zunächst danach, was Menschen aus eigener Kraft für sich tun können, welche familiären, verwandtschaft- 2 Mit „Sozialraumarbeit“, einem im akademischen Diskurs gelegentlich aufscheinenden Konzept (Kessl/ Reutlinger 2022), das sich mir bis heute nicht so richtig erschließt, hat „Sozialraumorientierung“ jedenfalls wenig zu tun. 366 uj 9 | 2022 Sozialraumorientierung - Grundlagen, Hindernisse und Chancen lichen oder nachbarschaftlichen Ressourcen es gibt, welche Unterstützung durch die/ den beste/ n FreundIn erfolgen kann, welche weiteren sozialräumlichen Netzwerke aktiviert werden können - und erst in einem späteren Schritt (und manchmal auch gar nicht) kommt die unmittelbare professionelle Hilfe zum Tragen (Professionelle, egal in welchem Leistungsbereich sie tätig sind, wandeln sich damit zu Hilfe-ArrangeurInnen und sind weniger BetreuerInnen oder HelferInnen). Und wer trägerübergreifend und kooperativ denkt, nutzt jede Möglichkeit, mit anderen, auf dem „Markt“ agierenden LeistungserbringerInnen im Sinne der Kreation eines passgenauen Unterstützungssettings zusammenzuarbeiten und sich dabei nicht durch unterschiedliche Finanzierungsstränge oder gar Konkurrenzdynamiken irritieren zu lassen. Nicht sonderlich hilfreich zur Unterstützung dieser fachlichen Herausforderungen sind folgende Tatsachen: ➤ Die vorhandenen versäulten Angebote, die jedes Jahr aufs Neue durch die Leistungs- und Entgeltverhandlungen bis ins Detail standardisiert vorab in ihrem Finanzumfang festgelegt werden, dominieren die Jugendämter sowohl mental als auch ökonomisch. Die in den Leistungs- und Entgeltvereinbarungen niedergelegten Sätze für Fachleistungsstunden, Tagessätze, Leistungspakete usw. fördern jedoch weder Flexibilität noch fallunspezifische Arbeit (s. dazu Hinte 1999; Bestmann 2013), sondern standardisieren eher und tragen insbesondere dem Gebot der Wirtschaftlichkeit in keiner Weise Rechnung. Hochgradig flexible Hilfen, kleinteilig zusammengesetzt, mit Sozialraumressourcen kombiniert und intelligent und passgenau gestrickt, können somit enorm teuer werden, obwohl sie in der gleichen Qualität mit einer flexibleren Finanzierung erheblich günstiger zu erbringen wären. Auch wenn ein cleverer Jugendamtsleiter alles irgendwie finanziert kriegt, er muss dafür - sagen wir - an die Grenzen des Systems gehen, und in der Regel trifft er nicht auf eine Trägerlandschaft, die flexibel genau das bereit hält, was eine passgenaue Maßnahme ausmacht. ➤ Eine wachsende Zahl von Anbietern fördert in unerquicklicher Weise eine angebotsinduzierte Hilfegestaltung sowie eine zunehmend versäulte Landschaft. Jeder Anbieter starrt wie das Kaninchen auf die Schlange (also auf den Kostenträger) und versucht, sich an die dort signalisierten Bedarfe „anzuschmiegen“. Diese entsprechen jedoch nur selten dem tatsächlichen Bedarf (sondern vielmehr den zufällig vorhandenen Vorstellungen der im Jugendamt tätigen Professionellen über gelungenes Leben), und zudem fördern sie die Herausbildung neuer Säulen, die einen kapitalistischen Markt unterstützen, der genauso enden wird wie alle Märkte: Überdreht und sinnentleert durch beinharte Konkurrenz und ausgenutzt von SpekulantInnen werden die dringend notwendigen Strukturen nur noch durch öffentliches Geld aufrechterhalten werden können. Aus diesem unsinnigen Marktgebaren könnte man aussteigen und stattdessen systematisch eine Trägerlandschaft unterstützen, die auf Kooperation verpflichtet ist, wenn gleichzeitig über ein gutes Fachcontrolling sichergestellt ist, dass diese Landschaft flexibel und innovativ bleibt, und dies immer im Sinne der leistungsberechtigten Menschen. ➤ Mehr oder weniger, gesetzlich nahegelegt und kommunal befördert sind in Deutschland die Leistungsarten in der Jugendhilfe standardisiert beschrieben. Aus Sicht der Sozialen Arbeit jedoch darf es nicht darum gehen, dass möglichst viele Leistungen vorgehalten werden und erst recht nicht darum, ob sie nun ambulant oder stationär sind. „Passgenau vor ambulant und stationär“ (Langer 2013) muss das entscheidende Prinzip lauten. Derzeit dominiert das Angebot die Maßnahme, und wenn behauptet wird, das müsse ja nicht unbedingt so sein 367 uj 9 | 2022 Sozialraumorientierung - Grundlagen, Hindernisse und Chancen und man könne schon da und dort durch einige kluge Interventionen den Spielraum erweitern, so stimmt das natürlich, aber das verweist schlichtweg darauf, dass in jedem (selbst im reglementiertesten) System die ein oder andere Ausnahme möglich ist. Zudem haben die vorab beschriebenen (vorgehaltenen) Maßnahmen starken individualisierenden Charakter und sind nur selten feldorientiert. ➤ Die jenseits der fallunspezifischen Arbeit zu leistende gestaltende Arbeit in den Wohnquartieren sowie die Unterstützung der Regelsysteme zur Förderung von gelingendem Aufwachsen sind noch zu selten im Fokus der budgetfinanzierten AkteurInnen. Die wachsende Anzahl von Fällen, die zunehmende Komplexität in zahlreichen Einzelfällen („SystemsprengerInnen“) sowie der auf den öffentlichen Haushalten lastende Konsolidierungsdruck orientieren nachhaltig auf die Erledigung des engen, vermeintlichen „Kerngeschäfts“ und relativieren die möglichen Effekte und Spielräume eines sozialräumlichen Ansatzes, der bereits vor dem formalen Leistungsbezug seine Qualität entfaltet. ➤ Die maßgeschneiderte Hilfe, jenseits von ambulant und stationär, wird immer noch zu selten konsequent von LeistungsempfängerInnen her gedacht, sondern richtet sich angesichts der weiterhin versäulten Systeme nach dem vorhandenen Angebot. Es scheint so, als verharre das Trägersystem immer noch in dieser merkwürdigen Starre, die entsteht, wenn man sich nicht sicher ist, in welche Richtung es „wirklich“ gehen soll. Trotz ausgezeichneter Konzepte und vereinzelter Pioniereinrichtungen richten sich die LeistungserbringerInnen verständlicherweise weiterhin nach der vom Kostenträger favorisierten Logik, die sich insbesondere angesichts von Traditionen, statistischen Anforderungen und produktmäßig festgehaltenen Kostenstellen weiterhin vornehmlich an Paragrafen und vordefinierten Hilfearten ausrichtet. Der Wille des Menschen: Irritationen und Chancen Beim sozialräumlichen Fachkonzept geht es vor jeder Diskussion um Struktur und Finanzierung um einen Paradigmenwechsel in der Vorgehensweise Sozialer Arbeit bei der Unterstützung benachteiligter Menschen durch den Einsatz öffentlicher Gelder. Im Zentrum jeder Hilfe steht - ausgenommen im Fall der konstatierten akuten Kindeswohlgefährdung - immer der von den Betroffenen formulierte Wille, der sich möglichst präzise und in der Sprache der betroffenen Menschen, ausgedrückt in kleinschrittigen „Meilensteinen“, abbildet, die gleichsam den „roten Faden“ durch eine Hilfe darstellen. Diese Form der kleinteiligen, oft mühsamen Erarbeitung der Schritte, die sich die Betroffenen vornehmen, ist genau die Kunst, die die Professionellen in allen Feldern der Sozialen Arbeit beherrschen müssen. Auf der Grundlage vorgegebener Zielformulierungen (vermeintlich „fallverstehend“) gleichsam gegen die Energie etwa einer hilfesuchenden Familie zu arbeiten bzw. vorschnell eine (oft schwammige), in bürokratischem Slang formulierte Zielformulierung zu wählen, die keinerlei energetische Ausstrahlung auf den Hilfeverlauf hat, ist grundsätzlich zum Scheitern verurteilt (von Ausnahmen mal abgesehen, bei denen man schlichtweg Glück hatte). Die konsequente Formulierung vonseiten der Betroffenen durch eigene Aktivität („Selbstwirksamkeit“), selbst erreichbaren Zielen (bei denen man dann durch Professionelle unterstützt wird) sowie der darauf bezogene punktgenaue Einsatz von personalen und sozialräumlichen Ressourcen (insbesondere auch der Regelsysteme) machen den Kern eines sozialräumlichen Ansatzes aus. Damit ist klar: Jeder Wille (es sei denn, seine Realisierung ist ungesetzlich oder schadet anderen Menschen) ist statthaft, und geradezu verboten ist eine seitens wohlmeinender Fachkräfte vorgenommene Intervention unter der Überschrift: „Es wäre aber doch gut, wenn…“ oder - schlimmer noch: „Geld gibt es nur, wenn …“. Mit Blick 368 uj 9 | 2022 Sozialraumorientierung - Grundlagen, Hindernisse und Chancen auf die von den Menschen formulierten Ziele muss immer auch gelten: Das Hilfesystem muss die passende Unterstützung möglichst frühzeitig zur Verfügung stellen - und das kann auch mal die umgehende stationäre Unterbringung sein. Aber eben: Die richtige Hilfe zum richtigen Zeitpunkt schafft die hilfreichste Unterstützung, und nebenbei gehorcht sie außerdem dem Gebot der sparsamen Bewirtschaftung öffentlicher Mittel. Wenn das System (also sowohl der Kostenträger als auch die gesamte Palette der Leistungsanbieter in allen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe) nicht systematisch darauf orientiert wird, mit diesem Blick an Kinder, Jugendliche und Familien heranzugehen, droht die gesamte Veranstaltung zu einer inhaltsleeren Sparorgie auf Kosten derjenigen Milieus zu werden, in denen eben nicht so häufig bürgerliche Normalbiografien gelebt werden wie unter SozialarbeiterInnen oder JuristInnen. (Im Übrigen: Unterm Strich kostet diese Kampfansage an die Entrechteten und Benachteiligten erheblich mehr als ein vernünftig gemanagter sozialräumlicher Ansatz vor dem Hintergrund solider Fachlichkeit.) Damit klar ist, worüber wir hier auch reden: Kinder und Jugendliche in extremen Verweigerungsphasen, mit autonomen und eigenwilligen Lebensentwürfen bereits in frühem Jugendalter, Kids mit hohem Aggressionspotenzial, Suchtstrukturen und vielfach diagnostiziertem psychiatrischem Hilfebedarf, also diejenigen, die in der Regel in hochstandardisierten, teuren und häufig erfolglosen Hilfeangeboten landen, scheren sich in der Regel einen Teufel um den regelmäßigen Schulbesuch, die angebotene Lehrstelle oder den geheizten Raum im Jugendzentrum. Der Aufbau eines sozialräumlichen, ambulanten und da und dort auch durch eine Immobilie gestützten Netzes, mit für jeden „Fall“ eigenen Lösungen für die Bereiche Freizeit, Wohnen, Gesundheit und meinetwegen auch Schule und Ausbildung und zwar möglichst unter Einbezug der Eltern, ist eine sozialarbeiterisch spannende und jenseits vonseiten der Leistungsträger vorgegebenen „erwünschten“ Ziele und vorgehaltenen Strukturen äußerst erfolgversprechende Aufgabe, die zu finanzieren weniger kostet als der klassische Heimplatz. Der Aufbau eines Netzes von LeistungserbringerInnen, die sozialräumlich gerade auch in diesen Segmenten hochwertige Arbeit leisten, funktioniert nur im Rahmen eines Fach- und Strukturkonzeptes, das sowohl für „leichte“, „niederschwellige“ als auch für „schwere“, „hochpreisige“ Fälle nach der gleichen Logik funktioniert. Zur Finanzierung Die Diskussion über Finanzierungsformen sollte nie ohne Bezug auf sozialarbeiterische Standards geführt werden, die durch ein Finanzierungskonzept unterstützt oder zumindest nicht behindert werden sollten. Mit Blick auf den Bereich der Hilfen zur Erziehung habe ich bereits vor einigen Jahren (Hinte 2001) auf folgende Zusammenhänge hingewiesen: 1. Es gibt durch die Jugendhilfe begrenzt beeinflussbare Zusammenhänge zwischen Sozialisationsbedingungen im weitesten Sinne und der Entstehung von Leistungsansprüchen. 2. Die Varianten an Definitionen, ob ein HzE- Fall ein solcher wird, sind vielfältig und von zahlreichen, oft zufälligen Aspekten abhängig. Der Zeitpunkt der Entstehung bzw. der Artikulation des Leistungsanspruchs ist von vielen Faktoren beeinflusst und lediglich aus juristischer und finanzierungstechnischer Sicht von Bedeutung. Sozialarbeiterisch und volkswirtschaftlich betrachtet ist es naiv, methodische Interventionen und Finanzierungen hauptsächlich an diesem Zeitpunkt auszurichten. 3. Die Kenntnis der Faktoren, die in einem Fall zu einem Leistungsanspruch führt, hilft in einer anderen Situation, frühzeitig Unterstützung zu leisten, die das Entstehen eines formalen Leistungsanspruchs verhindert. 369 uj 9 | 2022 Sozialraumorientierung - Grundlagen, Hindernisse und Chancen 4. Die Aneignung von Wissen über sozialstrukturelle Ressourcen bei jedem Einzelfall gesondert und ohne Nutzung der Kenntnisse aus anderen Leistungsbereichen vorzunehmen, bedeutet eine enorme Verschwendung von Zeit und Geld. 5. Frühzeitige Kooperation von Leistungsträgern, LeistungserbringerInnen in verschiedenen gesetzlichen Leistungsbereichen und Leistungsberechtigten führt zu erheblichen Hilfeverbesserungen im weiteren Unterstützungsprozess; sie funktioniert aber nur, wenn es entsprechende finanzielle Anreize gibt. 6. Die planerischen und sozialarbeiterischen Grundkenntnisse über die Bedingungen im Sozialraum („Kenntnisse über die Lebenswelt“) sind für gestaltende Arbeit (etwa in der Jugendförderung) im Kern keine anderen als für Fallarbeit im HzE-Bereich. Die durch unterschiedliche Finanzierungsstränge herbeigeführte künstliche Trennung führt zu absonderlicher Doppelarbeit bzw. dazu, dass man sich diese Grundkenntnisse erst gar nicht aneignet. Im herkömmlichen Fallfinanzierungssystem wird das Geld - vorsichtig gesagt - nicht immer sehr effektiv und effizient eingesetzt (man könnte auch sagen: gelegentlich verschwendet). Es gibt zahlreiche durch das derzeitige Finanzierungssystem verursachte (fachlich fragwürdige) Arbeitsvorgänge, überflüssigerweise bezahlte Tätigkeiten und Kontrollen, die im Rahmen von pauschalierten Finanzierungsvarianten entfallen: etwa der hohe Aufwand, der bei einem öffentlichen Träger betrieben wird, um einen Überblick über zahlreiche stationäre Einrichtungen außerhalb der jeweiligen Kommune zu behalten; die immensen Anstrengungen seitens der freien Träger, sich immer wieder neu zu positionieren, um in der Phase der Fallverteilung auch erfolgreich den Finger heben zu können; der äußerst lästige Aufwand, den Fachkräfte im Jugendamt immer wieder betreiben müssen, um Kinder, die in ihnen nicht bekannten oder zum Teil fern liegenden Einrichtungen untergebracht worden sind, entsprechend zu betreuen; der Einsatz von hoch bezahlten Fachkräften für relativ schlichte Tätigkeiten (Kind zur Vorschuleinrichtung oder zur Schule bringen, Wohnung aufräumen, Behördengänge erledigen), die auch andere Leute übernehmen könnten; das engagierte, aber künstliche Ausdehnen von Leistungsansprüchen seitens der HzE-Erbringer zur Sicherung von Geldströmen; der Aufwand beim Wechsel einer Hilfeform für die Kontaktaufnahme seitens der neuen Bezugsperson. Dies alles entfällt weitgehend im Rahmen einer konsequent geleisteten und budgetär finanzierten Arbeit nach dem Fachkonzept Sozialraumorientierung. Fallfinanzierung führt dazu, dass genau das finanziert wird, was sowohl nach sozialarbeiterischen Maximen als auch unter sozialstaatlichen Aspekten verhindert werden müsste, nämlich der „Fall“ - also der nach juristischen Maßstäben „bedürftige“ oder „leistungsberechtigte“ Mensch. Um es unmissverständlich - mit Blick auf immer wieder geäußerte Kritik an solchen Aussagen - zu sagen: Ich kritisiere mit diesem Hinweis nicht, dass konstatierten Leistungsansprüchen nachgekommen wird, sondern ich kritisiere, dass ein Finanzierungsmechanismus installiert wurde, der den Scheinwerfer sozialarbeiterischer/ institutioneller Tätigkeit darauf richtet, erst im Stadium des identifizierten Leistungsanspruches tätig zu werden und den gesamten Bereich der „Karriere“ davor (unzutreffend oft „Prävention“ genannt) zu vernachlässigen. Wir finanzieren - überspitzt gesagt - die Bearbeitung der eingetretenen Katastrophe und schwächen dadurch die Systemenergie, die diese Katastrophe verhindern könnte (s. Hinte 2002). Kein betriebswirtschaftlich weitsichtig agierender Träger hat einen Anreiz dafür, prekäre Lebenssituationen zu einem Zeitpunkt zu bearbeiten, da der evtl. attestierbare Leistungsanspruch noch nicht eingetreten ist, denn Geld fließt ja erst, wenn der Fall als solcher identifi- 370 uj 9 | 2022 Sozialraumorientierung - Grundlagen, Hindernisse und Chancen ziert wurde, das Verfahren durchlaufen hat und die Leistungsberechtigung vorliegt. Dass Ökonomie so funktioniert, lernt man in den entsprechenden Studiengängen bereits im ersten Semester. (Wenn etwa ein Staat Prämien auf getötete Giftschlangen aussetzt, fördert er damit genau die Züchtung dieser Spezies.) Die Sozialarbeit hilft bei diesem Verfahren insoweit, als sie in durchaus sozialstaatlich durchtränkter Absicht das Vokabular und sozialarbeiterische Know-how für die Konstruktion von „Fällen“ liefert. Das A und O einer „funktionierenden“ sozialräumlichen Landschaft ist deshalb eine integrierte Finanzierungsform, bei der Kostenträger und LeistungserbringerIn gemeinsam für den Umgang mit öffentlichen Geldern und die Erbringung der gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen verantwortlich sind. Konfrontiert mit fachlich unstrittigen Forderungen nach Prävention stellt sich heute jede/ r betriebswirtschaftlich denkende LeistungserbringerIn die Frage: „Wer zahlt mir das eigentlich? “ Die Entstehung von formalen Leistungsansprüchen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe lässt sich häufig durch die gezielte Unterstützung innerhalb des Regelsystems und im „normalen“ Alltag der Menschen verhindern oder zumindest in ihrem Umfang abschwächen. Doch angesichts harter Sparzwänge, jährlich sich verschärfender Konsolidierungsphasen und knapper Wahlperioden neigen kommunale Gebietskörperschaften dazu, auf den formalen Eintritt der Leistungsberechtigung zu warten beziehungsweise diesen sogar hinauszuschieben - mit der fatalen Folge, dass die Zahl der Leistungsberechtigten steigt und die „Schwere“ der Fälle zunimmt. Somit wird das im System vorhandene Geld konzentriert in den Bereich der konstatierten Leistungsberechtigung gelenkt, und gleichzeitig werden entgegen allen fachlich-methodischen und übrigens auch entgegen allen Vorgaben für eine sparsame und wirtschaftliche Haushaltsführung die meisten sozialräumlichen Aktivitäten im Bereich des Entstehens eventueller Leistungsansprüche der Beliebigkeit der jeweiligen kommunalen Stimmungslage überlassen und somit den Zufälligkeiten, die sich ergeben aus der jeweiligen Haushaltslage, dem Engagement aufgeklärter sozialpolitischer AkteurInnen oder den wechselnden Mehrheitsverhältnissen in den politischen Gremien. Wenn weiterhin die LeistungserbringerInnen im Bereich der auf den Einzelfall bezogenen „Pflichtleistungen“ strukturbedingt darauf warten, dass „Fälle“ entstehen, verstärken sich die regionalen Schieflagen. Natürlich wird niemand sagen, dass er/ sie gegen Prävention sei, aber gleichzeitig „leben“ die HzE-Träger nicht von Prävention, sondern davon, dass attestierte Notlagen entstehen. Könnte man sich indes auf regionale Zuständigkeiten von Trägerverbünden verständigen, die sowohl zuständig sind für frühzeitig angesetzte Hilfen „vor dem § 27 SGB VIII“ wie auch für die Bedienung von Leistungsansprüchen im Rahmen des § 27 SGB VIII und würde man sich für diese territoriale Zuständigkeit auf flexible Finanzierungsformen (Hinte/ Litges/ Groppe 2003) sowie ein von allen getragenes fachliches Konzept („Sozialraumorientierung“) verständigen, hätte man die Chance, sozialarbeiterische Fachlichkeit und ökonomische Kompetenz wechselseitig aufeinander zu beziehen und allseits unstrittigen Ansprüchen in diesen Bereichen nachkommen. Dass eine solche kommunale Strategie ganz praktisch funktioniert, gesetzeskonform und zudem wirksam ist, zeigen zahlreiche Beispiele aus den letzten zwanzig Jahren, bei denen auf der Grundlage des Fachkonzeptes Sozialraumorientierung umfassende regionale Innovationsprozesse umgesetzt wurden (Fürst/ Hinte 2020). Dass die aktuellen Reformen im SGB VIII diesbezüglich keinerlei neue Ansätze bieten, muss nicht großartig bedauert werden: Hauptsache ist, dass ein kreativer Leistungsträger die gesetzlichen Spielräume erkennt und mutig nutzt. Nur wenn klar ist, dass ➤ LeistungserbringerInnen auf mehrere Jahre hinaus Planungssicherheit haben 371 uj 9 | 2022 Sozialraumorientierung - Grundlagen, Hindernisse und Chancen ➤ sozialräumliche Aktivitäten gezielt an solche Bevölkerungsgruppen gerichtet sind, die „übermorgen“ zu attestierten LeistungsempfängerInnen werden könnten ➤ die Trägerlandschaft dadurch zur Kooperation angeregt wird, dass die beteiligten AkteurInnen das vorhandene Geld flexibel einsetzen können und gleichzeitig wissen, dass es in begründeten Ausnahmefällen anhand von gut erhobenen Belastungsindikatoren in einem Quartier „mehr“ Geld geben kann ➤ ein fachliches Controlling existiert, das anhand von relativ harten Indikatoren regelmäßig darüber informiert, ob der erwünschte Standard realisiert ist, wird die im Fachkonzept Sozialraumorientierung beschriebene Fachlichkeit ihre Wirkung entfalten. Prof. Dr. Wolfgang Hinte Brüderstr. 22 46145 Oberhausen E-Mail: wolfgang.hinte@uni-due.de Literatur Bamberger, G. 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