unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2022.art57d
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Beratungspflichten und Beratungssprache
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Peter-Christian Kunkel
Sozialgesetze fordern, dass Beratung in verständlicher Form, vor allem in verständlicher Sprache erfolgen muss. Was aber ist verständliche Sprache? Wird sie nicht immer unverständlicher?
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400 unsere jugend, 74. Jg., S. 400 - 402 (2022) DOI 10.2378/ uj2022.art57d © Ernst Reinhardt Verlag Beratungspflichten und Beratungssprache Sozialgesetze fordern, dass Beratung in verständlicher Form, vor allem in verständlicher Sprache erfolgen muss. Was aber ist verständliche Sprache? Wird sie nicht immer unverständlicher? von Prof. em. Peter-Christian Kunkel Hochschule für öffentliche Verwaltung, Kehl I. Beratungspflichten Für das Jugendamt enthält das SGB VIII eine Fülle von Beratungspflichten (§§ 11, 16, 17, 18, 21, 23, 24, 25, 28, 34, 36, 37, 37 a, 41, 42, 43, 51, 52 a, 53, 73). Das KJSG hat die Beratungspflichten noch erweitert (§§ 8, 8 b, 9 a, 10 a, 10 b). 1 Hinzu kommt die Beratungspflicht nach § 14 SGB I, die für alle Sozialleistungsträger vorbehaltlos (§ 37 S. 2 SGB I) gilt. Danach muss der Sozialleistungsträger über alle Rechte und Pflichten nach allen Büchern des SGB beraten. Als Rehaträger hat das Jugendamt umfassende Beratungspflichten über die Leistungen nach dem SGB IX (§ 12 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX). Die Beratung durch das Jugendamt ist auf vielfältige Weise mit dem Verfahren des Familiengerichts verknüpft. Das Jugendamt muss im Rahmen der Familiengerichtshilfe das Familiengericht über den Stand des Beratungsprozesses hinweisen (§ 50 Abs. 2 SGB VIII). Umgekehrt muss das Familiengericht auf die Beratung durch das Jugendamt hinweisen (§§ 165 Abs. 3 S. 3; 156 Abs. 1 S. 2 FamFG). II. Die Sprache 2 als Instrument der Beratung Die Fülle - ja geradezu Inflation - von Beratungsvorschriften lässt erkennen, dass der Gesetzgeber das Ziel verfolgt, Eingriffe zu vermeiden in der Hoffnung, durch Beratung lasse sich das Kindeswohl sichern. Mit Zunahme der Beratungsliteratur wachsen auch die Zweifel der Ratlosen und mit diesen wächst wiederum die Beratungsliteratur. Ob die Beratungskarte sticht, ist allerdings in vielen Fällen zweifelhaft. Denn „gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht einverstanden, einverstanden ist nicht durchgeführt, durchgeführt ist nicht beibehalten“ (Konrad Lorenz). Eine Allzweckwaffe ist die Beratung daher sicher nicht. Damit „gehört auch verstanden“ ist, fordert das Gesetz an vielen Stellen (z. B. § 8 Abs. 4; § 10 a Abs. 1; § 36 Abs. 1 S. 2; § 41 a Abs. 1; § 42 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 SGB VIII), dass die Beratung „in verständlicher, nachvollziehbarer und wahrnehmbarer Form“, also vor allem verständlicher Sprache erfolgen muss. Das wird nur gelingen, wenn sie auf die Person im Einzelfall individuell eingeht. Dies verlangt Beratung durch qualifiziertes Personal, also auch finanziellen Aufwand, der nach § 79 Abs. 3 zu leisten ist, und der sicher geringer ist als der für gendergerechte Sprache betriebene. Keine Lösung ist die Etablierung eines Parlamentspoeten, womöglich auch noch auf kommunaler Ebene - ein Vorschlag, der nur scheinbar aus der heute-show kommt. 1 Hierzu Kunkel, P.-C. (2022): Jugendhilferecht. 10. Aufl. Nomos, Baden-Baden 2 Dazu näher das Arbeitshandbuch des Bundesverwaltungsamts „Bürgernahe Verwaltungssprache“. 401 uj 9 | 2022 Beratungspflichten und Beratungssprache 1. Gendersprache Gendersprache erstreckt sich auch auf die Sprechweise. Mit dem Genderhicks wird aus „Lehrern“ „Lehrer - Genderhicks - innen“. Schriftlich beeinträchtigen die verschiedenen Formen das Lesevergnügen erheblich mit Unterstrich, Stern, Doppelpunkt, Binnen-I oder gar dem angefügten yx (Mitarbeityx). Zudem wird die Grammatik missachtet mit substantivierten Verben wie z. B. Studierende oder Lehrende. Unterschiede wie die zwischen einem Kochenden und einem Koch werden verwischt. Das generische Maskulinum ist ein Generikum und stellt nicht auf das Geschlecht ab („der Mensch“), ebensowenig wie ein feminines Generikum („die Person“). Beispiele aus der Praxis sind „Mitglieder*innen“, „Steuer*innenzahler“, „die Krankenschwester*in“, „Passivraucher*innenschutzverordnung“; aus der Mutter wird „gebärendes Elternteil“. Motiv für derartige Anstrengungen ist gerade im sozialen Bereich oft ein moralisches Streben nach sozialer Gerechtigkeit, verbunden mit dem angenehmen Gefühl, ein besserer Mensch (oder gar Menschin) zu sein. Wie gröblich das von der Behördenverwaltung aufgezwungene Gendern auch das Stilgefühl verletzt, zeigt ein weiteres Beispiel: „Will man/ frau mit seiner/ ihrer Partner/ in in eheähnlicher Gemeinschaft leben, wird er/ sie zu ihr/ ihm in seine/ ihre Wohnung ziehen.“ Für das mit Gendern verfolgte und allgemein anerkannte Ziel der Gleichberechtigung sind diese bemühten Anstrengungen kontraproduktiv. 2. Framing Bei Framing ist das Prinzip, dass eine Sache nicht so wahrgenommen wird, wie sie ist, sondern wie sie benannt wird. Bemerkenswert ist die ungute Entwicklung auch der Gesetzessprache durch euphemistischen Wohlklang mit beschönigenden Begriffen wie „Gute-Kita- Gesetz“ oder „Regenbogenkinder“ oder „Bonusmutter“. Die Methode erinnert an „Heile, heile Gänschen“, nennt sich aber wissenschaftlich Framing. Fehlt nur noch ein Smiley. Der Sachbearbeiter (natürlich auch die Sachbearbeiterin mit Sternchen oder die Sachbearbeitenden) steigt auf zum „Qualitätsmanager“ oder „Entscheider“ oder er/ sie/ es wird als „Zukunftsgestalter“ verunstaltet. Zu befürchten ist, dass das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen von den Zukunftsgestaltern flugs als „voll geiles Jugendpowergesetz“ verkauft wird. Aberwitzig ist es, wenn es statt eines SGB XIII nun das SGB XIV gibt, um die Adressaten - aus purem Aberglauben - von der 13 zu verschonen. Wenn etwas „angepasst“ wird, ist eine Verschlechterung zu befürchten. 3. Duzfuß Auch eine Art von Framing ist die zunehmende Verbreitung des Duzfußes in der Gesellschaft - über Ikea oder die SPD-Genossen hinaus -, indem eine Vertrautheit suggeriert wird, um Vertrauen zu erreichen, oft auch zu erschleichen. Das Du wird als Mittel zu einem Zweck eingesetzt, sei es, dass es jedem das Gefühl vermitteln soll, in der Gesellschaft inkludiert zu sein, sei es, dass ein Produkt besser verkäuflich ist, wenn es unter Freunden angeboten wird, sei es, dass es Kritik im Keim ersticken soll. Wir sind alle locker drauf, wir sind alle per Du, auch der CEO mit dem Hausmeister (jetzt Quality Manager), dem es ganz warm ums Herz wird, wenn man ihm sagt: „Du, wir brauchen dich nicht mehr. Du kannst gehen.“ 4. Floskeln Floskeln sollten vermieden werden. Wenn ihr Gebrauch mit drei Euro für das Phrasenschwein bestraft würde, wäre die Gemeindekasse prall gefüllt. „Im Fokus“ steht etwas, seit ein Magazin aus dem Hause Burda mit diesem Namen 1993 auf den Markt kam. Seit Corona gibt es kaum mehr einen Alltagssatz, der ohne „Herausforderung“ auskommt. Der Wiedervereinigung geschuldet ist „geschuldet“. „Nachhaltig“ wurde in der Umweltpolitik gebraucht, um beim Verbrauch von Rohstoffen Rücksicht auf die nachfolgenden Generationen zu nehmen. Heute wird es dauerhaft falsch gebraucht für dauer- 402 uj 9 | 2022 Beratungspflichten und Beratungssprache haft oder für nachdrücklich. Eine Angleichung an die Unart des Denglisch ist: „seinen Job machen“, „einen Deal machen“, „es macht Sinn“, „Highlight“, „Event“, „committen“. Eine „Philosophie“ hat jeder Wurstverkäufer, aber auch jede Behörde. Ebenso „Kultur“ - von „Arbeitskultur“ bis „Pausenkultur“. „Arbeit“ ist sowieso alles, was wir tun, von „kultureller Arbeit“ bis zur „Trauerarbeit“. Je weniger ehrlich jemand kommuniziert, umso mehr betont er „ehrlich gesagt“ und „ehrlich machen“. Auch der Sport ist ein Füllhorn für Floskeln in der allgemeinen Sprache wie Beckenbauers „Schau mer mal“ oder Rummenigges „am Ende des Tages“, „aufschlagen“, „gut aufgestellt“, „das Momentum“. Die Auflösung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern und die Verbindung zur Gender-Gleichberechtigung wird dadurch manifestiert, dass eine ordinäre Ausdrucksweise nicht mehr Männern vorbehalten ist, sondern „Am Arsch vorbei“, „Scheiße“, „verkackt“, „verfickt“ auch für Frauen Ausdruck fortgeschrittener Emanzipation ist. Da das Wort Gottes in den Kirchen kaum noch Gehör findet, verkündet jede Behörde ihre „Botschaft“. Je verkrampfter Personen sind, desto mehr sehen sie alles „ganz entspannt“. Weitere Beispiele verbreiteter Floskeln sind: „Qualität“, „Paradigmenwechsel“, „Perspektivenwechsel“, „gleiche Augenhöhe“, „Achtsamkeit“, „Demut“, „Desaster“, „klare Kante“, „Zeichen setzen“, „Geld in die Hand nehmen“, „Narrativ“, „Erzählung“, „im Format“, „zeitnah“, „was macht das mit Dir“, „das geht gar nicht“, „definitiv“, „emotional“, „gefühlt“, „betroffen“, „hart arbeiten“, „alles gut“, „unfassbar“, „spannend“, „wertgeschätzt“, „fremdschämen“, „krachend gescheitert“, „zielführend“, „suboptimal“, „aus der Zeit gefallen“, „liefern“. Es gibt keinen Bereich, in dem nicht performt wird, sei es im Büro oder im Bett. Da gibt es dann meist auch noch „Luft nach oben“. Am einfachsten vermeiden kann man jede Argumentation mit „Datenschutz“, denn das bedeutet: Klappe zu - Affe tot. 5. Verfahren Fachausdrücke müssen erklärt werden (z. B. „Widerspruch“). Die Sätze sollten kurz 3 sein und ihr Inhalt in Varianten wiederholt werden. Zu empfehlen ist, das wesentliche Ergebnis der Beratung als Kurzprotokoll schriftlich zu geben. Das hat den Vorteil, dass damit zugleich die Anhörungspflicht nach § 24 SGB X erfüllt ist. Behördenmitarbeiter können sich meist nicht vorstellen, dass viele der sogenannten Kunden eine schlaflose Nacht vor einem Behördengang verbringen und daher oft abgeschreckt werden, eine Leistung in Anspruch zu nehmen. 6. Wokeness/ Political Correctness Wokeness ist eine neue Form der Political Correctness, eine Wachheit, z. B. gegen Rassismus. Das ist ein ehrbares Ziel, das aber nicht erreicht wird durch krampfhafte Umschreibungen von Begriffen wie „Ausländer“ (in Berlin jetzt „Einwohnende ohne deutsche Staatsangehörigkeit“), „Flüchtlinge“, „Zigeuner“, „Indianer“ oder gar „Neger“ und „Mohr“, vor allem, wenn das auch noch historisch für die Vergangenheit gelten soll. Vernünftig wäre es, solche Begriffe dann zu vermeiden, wenn sie jemanden kränken. Es geht nicht darum, heutzutage gar nichts mehr sagen zu dürfen, sondern es geht darum, das, was man sagen will, zuerst durch ein Sieb der Wertschätzung und der Achtung zu gießen. Das Ziel muss sein, den Menschen individuell zu erreichen, ihn nicht zu verprellen. Mit Hingabe und Aufwand werden mit der Monstranz der Political Correctness nun auch nach historischen Personen benannte Straßen umbenannt, wenn diese Personen nach heutigen Wertvorstellungen bemakelt sind. Da wird kaum noch eine Straße unangetastet bleiben können, weder die Goethenoch die Einstein- oder Kantstraße (nur noch die Quadrate in Mannheim). Prof. em. Peter-Christian Kunkel E-Mail: kunkel@h-kehl.de 3 Freiherr von Knigge in „Über den Umgang mit Menschen“ (1788) in Kap. 21 treffend: „Rede nicht zu viel und nicht langweilig! Habe acht auf Dich, daß Du in Deinen Unterredungen, durch einen wäßrigen, weitschweifigen Vortrag nicht ermüdest! Ein gewisser Lakonismus sage ich, das heißt: die Gabe, mit wenig kernigen Worten viel zu sagen.“
