eJournals unsere jugend 75/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Leaving Care - Der Übergang in ein eigenständiges Leben

11
2023
Alexandra Rodis
Die Lebenslage von CareleaverInnen, jungen Erwachsenen, die aus Pflegefamilien oder der stationären Erziehungshilfe in ein eigenständiges Leben entlassen werden, ist geprägt von einer Vielzahl von Problemen. Der Übergang aus der Jugendhilfe bedarf eines geeigneten Standards, welcher in Deutschland aufzubauen ist. In der vorliegenden Studie wurden fünf CareleaverInnen mithilfe leitfadengestützter problemzentrierter Interviews zu ihren Erfahrungen mit dem Übergang aus der stationären Erziehungshilfe in ein eigenständiges Leben befragt. Es geht hervor, dass der Ausbau eines Unterstützungsangebotes für die jungen Menschen von großer Notwendigkeit ist.
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32 unsere jugend, 75. Jg., S. 32 - 39 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art05d © Ernst Reinhardt Verlag Leaving Care − Der Übergang in ein eigenständiges Leben Wobei Eigenständigkeit nicht auf sich allein gestellt zu sein bedeutet Die Lebenslage von CareleaverInnen, jungen Erwachsenen, die aus Pflegefamilien oder der stationären Erziehungshilfe in ein eigenständiges Leben entlassen werden, ist geprägt von einer Vielzahl von Problemen. Der Übergang aus der Jugendhilfe bedarf eines geeigneten Standards, welcher in Deutschland aufzubauen ist. In der vorliegenden Studie wurden fünf CareleaverInnen mithilfe leitfadengestützter problemzentrierter Interviews zu ihren Erfahrungen mit dem Übergang aus der stationären Erziehungshilfe in ein eigenständiges Leben befragt. Es geht hervor, dass der Ausbau eines Unterstützungsangebotes für die jungen Menschen von großer Notwendigkeit ist. Junge Erwachsene, die einen Teil ihres Lebens in einer Einrichtung oder bei Pflegeeltern verbracht haben, werden als CareleaverInnen bezeichnet. Sie befinden sich im Übergang in ein eigenständiges Leben oder haben bereits das Hilfesystem verlassen. Das Erreichen der Volljährigkeit stellt einen Wendepunkt in dem Lebenslauf der jungen Erwachsenen dar. Die aktuelle Praxis des Übergangs erschwert CareleaverInnen den Weg in das Erwachsenenleben, da die meisten Hilfen zur Erziehung mit dem 18. Lebensjahr eingestellt werden, sodass der unbegleitete Übergang in die neue Lebenssituation zu einer Herausforderung wird (Sievers/ Thomas/ Zeller 2016). Demnach sind die Grundvoraussetzungen für den Erwerb der Selbstständigkeit unter den CareleaverInnen und ihren Peers, die in ihren Herkunftsfamilien leben, ungleich verteilt. Junge Menschen mit Jugendhilfeerfahrung haben oft Armutserfahrungen, ihr soziales Netzwerk ist kaum ausgeprägt, sie stehen vor erschwerten Bildungszugängen und haben somit größere Hürden auf dem Weg in die Arbeitswelt zu bewältigen als nicht betroffene Altersgenossen (Faltermeier 2017). Damit stellt sich die Frage, welche Bedinvon Alexandra Rodis Jg. 1986; Sonderpädagogin (M. Ed.) in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Ute Koglin Jg. 1972; Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 33 uj 1 | 2023 Leaving Care - Der Übergang in ein eigenständiges Leben gungen geschaffen werden müssen, um eine gleichberechtigte und eigenständige Teilhabe von CareleaverInnen an der Gesellschaft zu gewährleisten. Um dieser Frage nachzugehen, wurden mithilfe qualitativer Interviews CareleaverInnen aus stationären Jugendhilfen zu ihren Erfahrungen und den Bedürfnissen zum Übergang befragt. Lebenssituation von CareleaverInnen CareleaverInnen sind junge Menschen, denen das Heranwachsen in ihren Herkunftsfamilien aus bestimmten Gründen verwehrt blieb. Sie wohnen bei Pflegeeltern, in Wohngruppen oder Erziehungsstellen und befinden sich im Übergangsprozess in ein eigenständiges Leben. Jugendliche und junge Erwachsene, die bereits eine stationäre Einrichtung verlassen haben und sich ohne die Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe zurechtfinden müssen, gehören ebenfalls zu der Gruppe der CareleaverInnen (Sievers/ Thomas/ Zeller 2016). Laut dem Statistischen Bundesamt (2020) wurden im Jahr 2019 die stationäre Erziehungshilfe oder die Beratung für 22.018 junge Menschen über 18 Jahre beendet. Davon sind 11.765 im Alter zwischen 18 und 19 Jahren. Diese Zahlen machen deutlich, dass die meisten Hilfen zur Erziehung bereits mit dem 18. Lebensjahr eingestellt werden. Das führt dazu, dass die jungen Menschen aus der stationären Erziehungshilfe in ihrem persönlichen Übergang von dem System benachteiligt werden (Thomas 2015). Faltermeier (2017) hebt deutlich hervor, dass die Verselbstständigung für die CareleaverInnen mit einer Verunsicherung einhergeht. Aufgrund der fehlenden Sicherheit und Strukturen der stationären Hilfen im Übergang sind die jungen Menschen meist nicht in der Lage, Hindernisse eigenständig zu überwinden und geraten häufig in erschwerte Problemlagen (Schulden, Drogen, Kriminalität). Die Erfahrung des Alleinseins intensiviert negative Emotionen, und ohne eine begleitende Unterstützung sind die jungen Menschen kaum in der Lage, lösungsorientiert zu handeln. Dabei ist diese Unterstützung für junge Volljährige im § 41 SGB VIII gesetzlich geregelt. Sie gilt grundsätzlich bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres. Dennoch werden die erzieherischen Hilfen in der Praxis meist mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres eingestellt. Folgeanträge werden überwiegend abgelehnt, was der gängigen Rechtslage widerspricht. Die jungen Menschen haben das Recht auf die Gewährung von Hilfen für die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit. Anspruch auf diese Leistung haben junge Menschen, deren individuelle Lebenssituation sie so beeinträchtigt, dass ihnen eine eigenverantwortliche Lebensführung erschwert wird (Raabe/ Thomas 2019). Junge Menschen, die in der öffentlichen Verantwortung heranwachsen, haben das Recht auf die Bereitstellung einer Unterstützung im Übergangsprozess. Mit dem Ende der stationären Erziehungshilfe darf nicht das Ende der öffentlichen Verantwortung einhergehen (Sievers/ Thomas/ Zeller 2016). Emerging Adulthood In der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Forschung wird über den Wandel des Übergangsprozesses in das Erwachsenenalter diskutiert (Schröer 2013). Rietzke und Galuske (2008) bezeichnen diese Übergangsphase als „junges Erwachsenenalter“ und Arnett (2000) spricht in diesem Zusammenhang von „emerging adulthood“. Emerging Adulthood (aufkommendes Erwachsenenalter) beschreibt Arnett (2000) als eine Lebensphase der Exploration, die primär in die Altersspanne von 18 bis 25 Jahren und sogar in jene bis in die späten Zwanziger eingeordnet werden kann. In dieser Zeit entwickeln die jungen Erwachsenen Kompetenzen zur Bewältigung der Herausforderungen des Lebens in der Gesellschaft. Der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen kann nicht auf 34 uj 1 | 2023 Leaving Care - Der Übergang in ein eigenständiges Leben einen bestimmten Zeitpunkt im Leben festgelegt werden. Diese Übergangsphase verläuft fließend und hängt von der Gesellschaft sowie den vorhandenen Möglichkeiten ab. Hurrelmann und Quenzel (2016) halten fest, dass eine Vorverlagerung des Eintrittsalters in die Jugendphase stattfindet und sich das Austrittsalter zugleich nach hinten verschiebt. Somit zieht sich die Jugendphase in die Länge und die Phase des Jungerwachsenenalters zeichnet sich deutlich ab, die sich somit zwischen Jugendalter und Erwachsenenalter reiht. In dieser eigenständigen Statuspassage des jungen Erwachsenenalters stehen die jungen Menschen weder im Berufsleben, noch planen sie, eine Familie zu gründen, sodass im Laufe der Zeit eine Verschiebung des Übergangs in das Erwachsenenalter stattgefunden hat (Hurrelmann 2012). Diese jungen Menschen haben die Volljährigkeit erreicht und sind emotional unabhängiger von den Eltern als zuvor, dennoch sind sie nicht in der Lage, ihre Lebensführung ganz autonom zu gestalten, da sie oft auf finanzielle Unterstützung seitens der Familie angewiesen sind (Hurrelmann/ Quenzel 2016). In einer Untersuchung von Arnett (1998) berichten junge Erwachsene über ihr subjektives Empfinden und stellen dabei fest, dass sie keine Jugendlichen mehr sind, aber sich auch noch nicht erwachsen fühlen. Seiffge-Krenke (2008, 48) betrachtet diese Phase als eine „entscheidende Schnittstelle zwischen dem Jugendalter und dem Erwachsenenalter“. Dabei sind bedeutsame Entwicklungsaufgaben von den jungen Menschen zu meistern, die sich auf die eigene Verantwortlichkeit, die Zukunftsplanung und die Festigung von stabilen Beziehungen fokussieren. Die Grundvoraussetzungen für den Erwerb der Selbstständigkeit sind jedoch ungleich verteilt. Es scheint, dass die Entgrenzung der Jugendphase und damit zusammenhängende Herausforderungen für die jungen Erwachsenen, die Erfahrungen mit der Jugendhilfe haben, in der Gewährung der Hilfen nach § 41 des SGB VII nicht berücksichtigt werden (Sievers/ Thomas/ Zeller 2016). Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes (2020) zeigen, dass die meisten jungen Erwachsenen mit 18 Jahren in die Selbstständigkeit entlassen werden, und nur wenigen werden die Hilfen für Volljährige nach § 41 gewährt. Junge Menschen, die in den Erziehungshilfen heranwachsen, haben jedoch das Recht auf die Bereitstellung gleicher Bedingungen für den Übergang in das eigenständige Leben wie ihre Peers, die in ihren Familien leben. Methodik Die vorliegende Studie zielt darauf ab, die Bedingungen für einen gelingenden Übergang aus der stationären Erziehungshilfe in ein eigenständiges Leben aus der subjektiven Sicht der jungen Betroffenen zu identifizieren und zu beschreiben. Im Rahmen dieser qualitativen Forschung wurden fünf CareleaverInnen mithilfe leitfadengestützter problemzentrierter Interviews über ihre Erfahrungen in dem Übergangsprozess aus der stationären Erziehungshilfe in ein eigenständiges Leben befragt. Bei dieser Form der Erhebung handelt es sich um eine offene und halbstrukturierte Befragung nach Witzel (1982), die einem offenen Gespräch ähnlich ist. Dieses Interviewverfahren konzentriert sich auf eine bestimmte Problemstellung, konkret die Bedingungen des Übergangs. Die Leitfadenfragen sind in fünf deduktive Kategorien unterteilt, die aus den Forschungsergebnissen des Projekts „Was kommt nach der stationären Erziehungshilfe? “ von Sievers, Thomas und Zeller (2016) hervorgehen. Das Ziel ihrer Studie war die Erfassung der Übergangspraxis in Deutschland. Dabei wurden Einrichtungen und Fachdienste zu ihren Erfahrungen in Übergängen von CareleaverInnen befragt. Die Ergebnisse dieser Studie verweisen sie auf bestimmte Schlüsselfaktoren wie soziale Kontakte, Bildung, Wohnverhältnisse, Gesundheit und alltagspraktische Kompetenzen, die in der Übergangspraxis eine bedeutsame Rolle spielen. Die Stichprobe 35 uj 1 | 2023 Leaving Care - Der Übergang in ein eigenständiges Leben wurde sowohl durch persönliche Kontakte als auch über das Schneeballprinzip rekrutiert. Insgesamt konnten vier junge Frauen und ein junger Mann im Alter von 16 bis 27 Jahren für die Befragung zu dem Thema „Leaving Care“ gewonnen werden. Vier der jungen Erwachsenen konnten aus der Retrospektive über ihren Auszug aus der stationären Erziehungshilfe berichten, da dieser zwischen einem Jahr und zehn Jahren zurücklag. Eine Teilnehmerin befand sich zum Zeitpunkt der Erhebung in einem Verselbstständigungsprozess und lebte noch in einer Wohngruppe der Kinder- und Jugendhilfe. Das auf Interviewbasis gesammelte Textmaterial wurde entlang der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) unter Verwendung der Software MAXQDA ausgewertet. Dabei wurde das Textmaterial den fünf deduktiven Kategorien und einer induktiven Kategorie, die sich auf die Zukunftsvorstellungen der jungen Menschen bezieht, zugeordnet. Die erhobenen Daten ermöglichen einen Einblick in die gelebte Übergangspraxis und weisen auf Bedingungen hin, die zu einem gelingenden Übergang der CareleaverInnen beitragen. Ergebnisse Die Ergebnisse werden hier anhand von drei ausgewählten Kategorien dargestellt. Soziale Beziehungen, Wohnsituation sowie psychische und physische Gesundheit sind grundlegend für einen gelingenden Übergang. Diese Eingrenzung erfolgt, um den Rahmen des Artikels nicht zu überschreiten. Soziale Beziehungen Aufgrund ihrer belastenden Vergangenheit berichteten die befragten CareleaverInnen, dass sie keinen oder einen eher schwierigen Kontakt zu ihrer Familie hätten. Somit fehlt den jungen Menschen die bedeutungsvollste Ressource in ihrem Leben: „Das Ding ist ja, ich hatte wenig Bock auf sie. Meine Mutter selber hatte ja noch vier Kinder zu Hause. Mit denen hatte sie es auch nicht leicht, viel Stress für eine Person, sie ist total überfordert. Als ich im Heim gewohnt habe, wollte ich sie gar nicht sehen. Ich habe sie mitverantwortlich gemacht dafür, dass ich nun da sein musste.“ Die Befragten äußerten, dass ihr Übergang ins Erwachsenenleben sich von den Übergangserfahrungen ihrer Peers, die in ihren Familien leben, unterscheide und dass diese Tatsache nicht gerecht sei: „Also, bei meiner Freundin, sie ist genauso alt wie ich, wohnt seit zwei Jahren nicht mehr zu Hause, aber ist fast jedes Wochenende bei ihrer Mutter und bekommt Unterstützung von ihrer Mama und ihrer Oma. Ich sehe ja, wie es bei normalen Menschen läuft und wie es bei mir so läuft und das ist leider ein doofer, großer Unterschied.“ Im Bereich der sozialen Beziehungen hoben die CareleaverInnen die Bindung zu ihren BetreuerInnen der ehemaligen Wohngruppe hervor. Diese Betreuung erlebten die jungen Erwachsenen allgemein als hilfreich und fühlten sich in diversen Lebensbereichen unterstützt: „Habe diese Wohngruppe als meine Familie anerkannt, alle waren für mich da. Besonders ist es die Bindung zu den persönlichen Bezugsbetreuern, die den jungen Menschen Halt gibt.“ Der Übergang aus der stationären Hilfe stellt einen neuen Lebensabschnitt für die jungen Erwachsenen dar, der geprägt ist vom Verlust sozialer Beziehungen: „Es ist einfach nicht fair, wenn man die anderen Leute sieht und sie ihre Familien haben und dann ausziehen und dennoch Kontakt haben und wir werden halt einfach, hier bist du nun in deinem Leben, zu uns gibt es kein Zurück mehr, mach mal. Ich fühle mich wie ein Welpe, der im Wald ausgesetzt wurde.“ 36 uj 1 | 2023 Leaving Care - Der Übergang in ein eigenständiges Leben Wohnsituation im Übergang Im Übergang aus der stationären Erziehungshilfe berichten alle befragten CareleaverInnen, dass sie im Alter von etwa 17 Jahren eher nicht selbstbestimmt in die Mobile Betreuung gezogen seien: „Ich musste die Gruppe verlassen, weil ich wohl reif genug war, um ins Leben gesetzt zu werden. Das hab ich ja nicht selber entschieden, das hat das Jugendamt und die Wohngruppe so gesagt. Dort musste man selbstständiger sein.“ Alle befragten CareleaverInnen äußerten den Wunsch, länger in der Wohngruppe wohnen zu dürfen, denn sie sind der Meinung, dass der Zeitpunkt ihres Umzugs zu früh angesetzt worden sei. Die Wohngruppe bedeutet für sie Sicherheit: „Also, am liebsten dann ausziehen, wenn man sich bereit dazu fühlt, aber mit 17 (…) eher nicht.“ Neben dem längeren Verweilen in der Wohngruppe gaben die befragten CareleaverInnen an, dass sie sich die Nähe zur Wohngruppe erhalten möchten, und machten den Vorschlag, im Ort umzuziehen, um auf die Unterstützung der ehemaligen BetreuerInnen zählen zu können. Eine Careleaverin schlägt vor: „Also (…), ich will hier eigentlich länger leben wollen, wenn ich dann irgendwann ausziehen würde, dass ich mich immer an meine Betreuer aus der Gruppe wenden kann, wenn ich Hilfe brauche, dass sie auch Zeit dafür haben. Probleme in der Schule oder Ausbildung, Behörden. Die Gruppe ist wichtig und die Leute hier, es ist ja wie Familie. Also, Jugendliche, die bei ihren Eltern leben können, können sich das ja eigentlich selber aussuchen, wann sie sich bereit fühlen.“ Zwei der Befragten hatten zudem bereits zuvor die Erfahrung der Obdachlosigkeit gemacht. Nach dem Verlassen der stationären Erziehungshilfe lebten sie eine gewisse Zeit auf der Straße. Eine der beiden sagt dazu: „Ja, hart war das, so mit 18. Obdachlos, drei Monate lang.“ Psychische und physische Gesundheit Die Befragten sind in schwierigen familiären Verhältnissen herangewachsen und betonten die fehlende Geborgenheit und Sicherheit ihrer Eltern. Dieser emotionale Verzicht ist so tiefgreifend, dass eine Careleaverin in diesem Zusammenhang sagte: „Ich musste das früh lernen, von Geburt an zu verzichten.“ Die Tatsache, die stationäre Einrichtung verlassen zu müssen, und der Auszug an sich wurden von allen befragten jungen Erwachsenen als eine gewaltige Herausforderung beschrieben: „Also, das setzt mich unter Druck, der Auszug, die Situation.“ Die Situation des Übergangs haben sie als eine große emotionale Belastung empfunden, die viele Ängste in ihnen ausgelöst hat. Sie gaben an, dass sie Sicherheit und Unterstützung benötigten: „Nein, ich fühle mich nicht bereit dazu (weint), also, man hat Angst, irgendwann alleine zu sein, das alles nicht hinbekommen, Versicherung abschließen, das Gefühl zu haben, man hat niemanden, der einen unterstützt, egal bei was.“ „Aber als Kind oder Jugendlicher alleine auf sich gestellt zu sein, ist nicht richtig, man geht kaputt.“ Diskussion In der vorliegenden explorativen Studie wurden Daten mithilfe mündlicher Befragung gesammelt, um die Übergangssituation aus der subjektiven Sicht der CareleaverInnen zu beleuchten und differenziert zu beschreiben. Die grundlegenden Bedingungen für einen gelungenen Übergang erschließen sich aus Kompetenzen, die in unterschiedlichen Lebensbereichen von den CareleaverInnen erworben werden, und zugleich aus Ressourcen, die ihnen bereitgestellt werden. 37 uj 1 | 2023 Leaving Care - Der Übergang in ein eigenständiges Leben Soziale Beziehungen Als für den Übergang bedeutsam können soziale Beziehungen herausgearbeitet werden (Sievers/ Thomas/ Zeller 2016). Die dargelegten Forschungsergebnisse zeigen auf, dass CareleaverInnen auf eine gezielte Unterstützung und Begleitung beim Übergang ins Erwachsenenleben angewiesen sind. Aus den Interviews geht hervor, dass diese jungen Menschen auf keine oder kaum Hilfestellungen seitens ihrer Herkunftsfamilie zählen können. Der Auszug aus der Wohngruppe stellt einen neuen Lebensabschnitt für die jungen Erwachsenen dar, der geprägt ist vom Verlust sozialer Beziehungen. So beschreiben auch weitere Studien, dass die CareleaverInnen besonders unter dem Verlust der Betreuungspersonen leiden (Sievers/ Thomas/ Zeller 2016). Die Befragten äußern daher ausdrücklich den Wunsch, von ihren ehemaligen BetreuerInnen im Übergangsprozess begleitet zu werden, da bereits eine feste Bindung zu ihnen besteht. Zu diesen Ergebnissen kommt auch eine andere Forschungsarbeit, die zeigt, dass eine Unterstützung durch vertraute BegleiterInnen nach dem Hilfeende von großer Bedeutung für die CareleaverInnen ist und sich positiv auf den Übergang auswirkt (Mendes/ Johnson/ Moslehuddin 2011). Wohnsituation im Übergang Das Vorhandensein von stabilen Wohnverhältnissen ist ein weiterer Schlüsselfaktor, der zu einem gelingenden Übergang beizutragen vermag. Hoch und Beierle (2019) stellen fest, dass das Wegfallen der Hilfen für Erziehung eine Obdachlosigkeit der jungen CareleaverInnen begünstigt. Zwei der Befragten berichten von einer ebensolchen Situation im Anschluss an das Ende der Hilfe. Die Ergebnisse dieser Forschung halten zudem fest, dass der Zeitpunkt des Auszugs nicht selbstbestimmt gewählt werden kann. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit werden die meisten Hilfen zur Erziehung eingestellt (Nüsken 2015). Allerdings wünschen sich die jungen Menschen, länger in der Wohngruppe leben zu können, da sie sich mit 17 oder 18 Jahren noch nicht bereit für eine eigenständige Lebensführung fühlen. Hurrelmann und Quenzel (2016) verweisen auf die Entgrenzung der jungen Erwachsenenphase und beschreiben sie als fließend und individuell verlaufend. Dementsprechend führt Stein (2006) auf, dass das Auszugsalter der CareleaverInnen nicht dem aktuellen Stand der Entwicklungsforschung entspreche und sie zu Unrecht benachteiligt würden, indem sie zu früh in ein eigenständiges Leben entlassen würden. Neben dem längeren Verweilen in der Wohngruppe geben die befragten CareleaverInnen an, dass sie sich die Nähe zur Wohngruppe erhalten möchten, und schlagen vor, im Ort umzuziehen, um auf die Unterstützung der ehemaligen BetreuerInnen zählen zu können. Psychische und physische Gesundheit Der gesundheitliche Zustand ist ein weiterer wesentlicher Faktor, der zum Gelingen eines Übergangs beiträgt. Die Ergebnisse dieser Studie beschreiben, dass die Befragten in schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen sind. In der Kindheit mussten sie teils traumatisierende Erfahrungen machen, sie betonen die Vernachlässigung durch ihre Eltern und das Fehlen von Geborgenheit und Sicherheit, was sich stark auf die psychische Gesundheit auswirkt. Heekerens (2009) hält fest, dass die meisten Kinder und Jugendlichen, die in Heimen heranwachsen, psychische Erkrankungen aufweisen. Die nötige Fürsorge erfuhren die befragten CareleaverInnen meist in den stationären Erziehungshilfen. Diese bieten den jungen Menschen einen sicheren Ort (Rätz/ Schröer/ Wolff 2014). Die Einrichtungen sind bemüht, eine familiäre Atmosphäre zu gestalten, die eine positive Auswirkung auf die Entwicklung der jungen Menschen hat (Nonninger 2018). Die Situation des Übergangs haben die befragten CareleaverInnen als eine große emotionale Belastung empfunden, die viele Ängste in ihnen ausgelöst hat. Sie gaben an, dass sie weiterhin Sicherheit und Unterstützung benötigten und die Situation, auf sich allein gestellt zu sein, sie psychisch überfordere. 38 uj 1 | 2023 Leaving Care - Der Übergang in ein eigenständiges Leben Diesbezüglich hält Dixon (2008) in seiner Studie fest, dass der Auszug und der Übergang aus der stationären Erziehungshilfe in ein eigenständiges Leben den psychischen Zustand der CareleaverInnen beeinflussen können. Abschließend ist auf die Grenzen der Studie zu verweisen. Die Befragten haben freiwillig an den Interviews teilgenommen. Zufällige Stichproben könnten zu anderen Akzentsetzungen der Ergebnisauswertung führen. Die meisten männlichen Probanden lehnten eine Teilnahme an der Studie ab, sodass die weibliche Sicht auf den Übergang überwiegt. Folgerungen In den vergangenen Jahren wurden Fachdiskussionen zu der Frage geführt, wie der Übergang von jungen Menschen aus der stationären Erziehungshilfe begleitet werden kann. Jedoch fehlt bislang eine systematische Gestaltung des Übergangs in der Praxis, die den Bedürfnissen dieser jungen Erwachsenen entspricht. Die Möglichkeit zur Entwicklung in der verlängerten Phase des jungen Erwachsenenalters wird den CareleaverInnen verwehrt. Daher ist die Weiterentwicklung der Strukturqualität der Kinder- und Jugendhilfe von großer Wichtigkeit. Nur so ist eine zuverlässige Übergangsbegleitung zu gewährleisten. Die Ergebnisse der Arbeit zeigen aus der Perspektive der betroffenen CareleaverInnen auf, welche Voraussetzungen eine erfolgreiche Integration der jungen Erwachsenen erfüllen muss. Es geht hervor, dass die Unterstützung dieses Personenkreises von großer Notwendigkeit ist. Sowohl die Politik als auch die Fachpraxis und Bildungsinstitutionen stehen in der Pflicht, daran zu arbeiten und die Situation dieser jungen Menschen maßgeblich zu verbessern. Es ist empfehlenswert, dass sich weiterführende Forschung mit zielgruppengerechten Angeboten auseinandersetzt, betroffene junge Erwachsene in die Entwicklung von Projekten eingebunden werden und Diskussionen über den Unterstützungsbedarf von CareleaverInnen mehr Einzug in den politischen Diskurs halten. Der Übergang aus der stationären Jugendhilfe ist eine wichtige Phase im Leben von betroffenen jungen Menschen. Eine systematische und bedarfsorientierte Begleitung ist von großer Bedeutsamkeit. Die jungen Erwachsenen sollten ihre Rechte kennen und Unterstützung erfahren, um ihre Stimme in Vertretung ihrer selbst erheben zu können, denn ihre Stimme ist es wert, gehört zu werden. Alexandra Rodis Prof. Dr. Ute Koglin Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Ammerländer Heerstraße 114 - 118 26129 Oldenburg Literatur Arnett, J. J. (1998): Learning to stand alone. The contemporary American transition to adulthood in cultural and historical context. Human Development 41, 295 − 315, https: / / doi.org/ 10.1159/ 000022591 Arnett, J. J. (2000): Emerging Adulthood. A theory of development from the late teens through the twenties. American Psychologist 55, 469 − 480, https: / / doi. org/ 10.1037/ 0003-066x.55.5.469 Dixon, J. (2008): Young people leaving care: health, well-being and outcome. Child & family social work 13 (2), 207 − 217, https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1365-2206. 2007.00538.x Faltermeier, J. (2017): Care Leaver − erfolgreiche nachstationäre Begleitung junger Erwachsener. 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