unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Teilhabe von Care LeaverInnen – Darüber brauchen wir mehr Wissen!
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2023
Katharina Brüchmann
Dorothee Schäfer
Im Fokus der Langzeitstudie stehen junge Menschen, die sich im Übergang aus der stationären Jugendhilfe oder der Pflegefamilie ins Erwachsenenalter befinden – sogenannte Care LeaverInnen. In diesem Beitrag beleuchten wir Teilhabe im Lebensverlauf als Leitbegriff der CLS-Studie und längst überfällig zu erforschenden Gegenstand – für Soziale Arbeit, Politik und die jungen Menschen.
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98 unsere jugend, 75. Jg., S. 98 - 105 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art13d © Ernst Reinhardt Verlag Teilhabe von Care LeaverInnen - Darüber brauchen wir mehr Wissen! Eine Langzeitstudie zur Teilhabe im Lebensverlauf junger Menschen aus der stationären Kinder- und Jugendhilfe sowie Pflegefamilien Im Fokus der Langzeitstudie stehen junge Menschen, die sich im Übergang aus der stationären Jugendhilfe oder der Pflegefamilie ins Erwachsenenalter befinden - sogenannte Care LeaverInnen. In diesem Beitrag beleuchten wir Teilhabe im Lebensverlauf als Leitbegriff der CLS-Studie und längst überfällig zu erforschenden Gegenstand - für Soziale Arbeit, Politik und die jungen Menschen. von Katharina Brüchmann Jg. 1979; Master of Social Work und Diplom-Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS), in der CLS-Studie mitverantwortlich für die Instrumentenentwicklung, -testung und -evaluation „Care Leaver Statistics: Soziale Teilhabe im Lebensverlauf junger Erwachsener - Eine Langzeitstudie“ (CLS-Studie) untersucht die Lebensverläufe von jungen Menschen, die in Wohngruppen und Pflegefamilien gelebt haben. Angelegt als Langzeituntersuchung werden in der CLS-Langzeitstudie wiederholt bis zu 2.000 Jugendliche und junge Erwachsene befragt. Die StudienteilnehmerInnen sind zwischen 16 und 19 Jahre alt und leben im Zeitraum der Erstbefragung in der Heimerziehung, einer anderen betreuten Wohnform oder bei einer Pflegefamilie. Die CLS-Studie läuft über mehrere Jahre und die StudienteilnehmerInnen werden jährlich dazu interviewt, wie es ihnen in verschiedenen Bereichen ihres Lebens geht. Ziel der Studie ist es, schließlich Daten zum ‚Leaving Care‘ − zum Verlassen der stationären Kinder- und Jugendhilfe - mit Schwerpunkt auf der Teilhabe der Care LeaverInnen in der Gesellschaft zu erheben. Die langjährige Befragung der jungen Menschen dient dazu, Erkenntnisse für das Jugendhilfesystem, weite- Dorothee Schäfer Jg. 1989; M. A., Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin, Wissenschaftliche Referentin der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH), in der CLS-Studie mitverantwortlich für die Wissenschaftskommunikation und -information 99 uj 3 | 2023 Teilhabe von Care LeaverInnen re sozialstaatliche Unterstützungssysteme und politische AkteurInnen zu generieren sowie die Lebensbedingungen und Lebenslagen dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen sichtbar zu machen und zu verstehen. Die Teilhabe von Care LeaverInnen wird dabei in verschiedenen Lebensbereichen untersucht, wie z. B. hinsichtlich der Freizeitgestaltung oder der schulischen und beruflichen Orientierung. Im Übergang ins Erwachsenenleben bilden junge Menschen zudem neue Gemeinschaften und soziale Netzwerke, die Teil von Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sind, genauso wie die Gründung eines eigenen Haushalts, einer Wohngemeinschaft oder einer eigenen Familie. Darüber hinaus gehören zur gesellschaftlichen Teilhabe gesundheitliche und medizinische Versorgungsaspekte und Zugänge sowie staatliche Unterstützung, wie bspw. Grundsicherung, Finanzierung von Wohnraum oder für die Ausbildung. Mit der CLS-Studie soll untersucht werden, vor welchen Herausforderungen Jugendliche in diesen unterschiedlichen Teilhabebereichen stehen, wenn sie aus ihrer stationären Wohnform oder Pflegefamilie ausziehen. So soll sichtbar gemacht werden, was im Lebensverlauf von Care LeaverInnen geschieht, was ihnen wichtig ist und wo Schwierigkeiten aufkommen. Die Rahmung der CLS-Studie Als Wiederholungsbefragung angelegt, werden zu Studienbeginn junge Menschen in stationären Einrichtungen und Pflegefamilien im Alter von 16 bis 19 Jahren persönlich oder telefonisch befragt. Die Befragungen werden in sieben jährlich stattfindenden Befragungswellen fortgeführt, um die Lebensverläufe der dann bis zu 26 Jahre alten jungen Erwachsenen nachzeichnen zu können. Über stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und alle Pflegekinderdienste deutschlandweit wurden junge Menschen kontaktiert, die zu einer der beiden Zielgruppen gehören. Die angeschriebenen Jugendlichen können selbst entscheiden, ob sie an der Studie teilnehmen möchten. Ihre Teilnahme an der Studie können sie jederzeit beenden. Die Langzeitstudie hat mit Vorarbeiten bereits im Sommer 2021 begonnen. Die ersten Befragungen fanden Anfang 2023 statt. Zwischenergebnisse können 2024 präsentiert werden. Zum Ende der Studie im Jahr 2030 werden Daten zu der Entwicklung von Teilhabemöglichkeiten im langzeitlichen Lebensverlauf der befragten Gruppen vorliegen. Damit werden Aussagen zu Unterschieden zwischen den Verläufen möglich und somit auch über die Gestaltung von Strukturen des Übergangs ins Erwachsenenleben. In einer ersten Förderphase wird die Langzeitstudie vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zunächst bis Ende 2024 gefördert. Die CLS-Studie wird durchgeführt von einem Projektverbund, bestehend aus der Universität Hildesheim (Institut für Sozial- und Organisationspädagogik), dem Deutschen Jugendinstitut (DJI), der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) und der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH). Die vier Einrichtungen des Projektverbunds verteilen sich auf die Projektstandorte Hildesheim, München, Bremen und Frankfurt am Main. Jeder Projektstandort verfügt über unterschiedliche Schwerpunkte im Bereich der Forschung, die im Rahmen der CLS-Studie zusammengeführt werden. Querliegend liegt der Fokus aller Forschenden im Projektverbund auf der Verbundenheit zur Kinder- und Jugendhilfe im Rahmen des spezifischen Forschungsinteresses. In regelmäßigen Projekttreffen werden inhaltliche Schwerpunkte auch projektpartnerübergreifend bearbeitet. Die verschiedenen Phasen und Teilaspekte der Studie diskutiert der Projektverbund stetig unter Einbindung der unterschiedlichen Perspektiven. 100 uj 3 | 2023 Teilhabe von Care LeaverInnen Care LeaverInnen als StudienteilnehmerInnen Care LeaverInnen sind Menschen, die zeitweise oder ihre gesamte Kindheit und Jugend auf Grundlage eines Hilfeplanverfahrens außerhalb ihrer Herkunftsfamilie in Wohngruppen, Wohngemeinschaften, im betreuten Wohnen oder bei Pflegepersonen, bspw. in Fremdpflege, Pflegefamilien oder Verwandtschaftspflege, gelebt haben und schließlich von der Einrichtung oder Pflegekonstellation ins Erwachsenenleben starten (Thomas 2013, 12). Für die Gruppe dieser Menschen hat sich vor allem aufseiten der Selbstvertretungsorganisationen die Bezeichnung Care LeaverInnen etabliert, aber auch im Fachdiskurs Sozialer Arbeit und in der Jugendhilfe hat sich der Begriff zur Bezeichnung dieser Menschen mittlerweile durchgesetzt. In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Selbstvertretungen - regional und überregional - sowie örtlich gebundene und bundesweit agierende Initiativen zur Unterstützung der jungen Menschen im Übergang und im weiteren Lebensverlauf gebildet. Hierbei spielen der strukturelle und lebensweltliche Übergang von der Jugendhilfe ins Erwachsenenleben und mögliche Unterstützungsformen eine große Rolle (Strahl/ Thomas 2013, 2ff ). Auch Forschungstätigkeiten ersuchen vermehrt, die teils schwierigen Ausgangsbedingungen der Care LeaverInnen in den Fokus zu nehmen. So zeigen Forschungsaktivitäten der letzten Jahrzehnte, dass Care LeaverInnen „besonders vulnerabel im Hinblick auf ihre psycho-soziale Entwicklung, die materielle Ausstattung und soziale Unterstützung sind“ (Thomas 2017, 3). Auch aus Praxisberichten heißt es: „Keine Kohle in der Tasche. Schwierigkeiten mit Behörden. Stress mit dem Vermieter. Unbeantwortete Fragen. Für Care Leaver ist das Alltag“ (Schulz/ Decker 2017, 20). Es gilt also, diese Personengruppe und ihre lebensweltspezifischen Themen hinsichtlich ihrer Teilhabemöglichkeiten auf Basis valider Forschungsdaten in einen längst überfälligen sozialwissenschaftlichen sowie sozial- und jugendpolitischen Diskurs zu bringen. Derzeit gibt es keine belastbare Wissensgrundlage, die Lebensverläufe während und nach dem ‚Leaving Care‘ ausreichend nachzeichnen kann. Wichtige Hinweise jedoch auf ausgewählte Lebensbereiche der jungen Menschen liefert bspw. bereits die SOS-Längsschnittstudie mit einem Schwerpunkt auf die Handlungsbefähigung junger Menschen als „Metaressource für ein selbstständiges Leben“ (Sierwald et al. 2017, 11). Der Datenreport zur sozialstatistischen Grundlage zur Teilhabe von Care LeaverInnen gibt einen Überblick über die bestehende „Infrastruktur zur Bemessung sozialer Teilhabe“ in Statistiken und Langzeitstudien und zeigt die Datenlücke auf, die zur Betrachtung von Teilhabe von Care LeaverInnen im Lebensverlauf besteht (Erzberger et al. 2019, 25). Mit der CLS-Studie wird erstmals eine differenzierte Dateninfrastruktur aufgebaut, mit der es möglich werden sollte, eine große Forschungslücke zu schließen und somit auch Erkenntnisse für die Verbesserung der Übergänge zu liefern. Teilhabe als Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe Der Begriff Teilhabe hat sich in den vergangenen Jahren als Gerechtigkeitsnorm durchgesetzt und wurde zur Zielgröße diverser sozialpolitischer Aktivitäten (Bartelheimer/ Kädtler 2012, 51). So findet sich der Teilhabebegriff zunehmend in sozialrechtlichen Normen wie dem Bundesteilhabegesetz (SGB IX) oder als Zielgröße arbeitsmarktpolitischer Aktivitäten im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) wieder (Bartelheimer et al. 2020, 5ff ). Mit der Novellierung des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII) wurde gesellschaftliche Teilhabe auch zum Rechtsziel der Kinder- und Jugendhilfe. Was im SGB VIII mit Teilhabe gemeint ist, bleibt jedoch uneindeutig, da zwei unterschiedliche Teilhabeverständnisse formuliert werden. 101 uj 3 | 2023 Teilhabe von Care LeaverInnen Zum einen wird der Teilhabebegriff der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und des SGB IX aufgegriffen und Teilhabe als eine volle und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft definiert. Diese Teilhabeformel stellt die umfassendste in der Gesetzgebung dar, da sie allen Menschen, unabhängig von Merkmalen wie Behinderung, Herkunft, Geschlecht oder sozialem Status, einen gleichberechtigten Zugang zu allen Bereichen der Gesellschaft zusichert. Dieses Teilhabeverständnis begründet sich aus der inklusiven Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe, mit der bei der Ausgestaltung von Leistungen eine „gleichberechtigte Teilhabe von jungen Menschen mit und ohne Behinderungen“ (§ 9 SGB VIII) erreicht werden soll. Zum anderen wird Teilhabe mit dem Auftrag an die Kinder- und Jugendhilfe verknüpft, junge Menschen dazu zu befähigen, selbstbestimmt zu interagieren und damit Teilhabe zu erreichen. So heißt es in § 1 des SGB VIII, dass die Jugendhilfe es jungen Menschen ermöglichen oder erleichtern soll, „entsprechend ihrem Alter und ihrer individuellen Fähigkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können“. Fuchslocher und Ziegler (2017) sehen in dieser Bestimmung eine Verkürzung des Teilhabebegriffs, die sich auf ein Dabei-Sein und „auf die positive Norm ‚gesellschaftlicher Zugehörigkeit‘ reduziert“ (ebd., 79). Auf eine Definition von Teilhabe als eine Sicherstellung an den üblichen Lebensweisen und damit Anspruch auf eine Gewährleistung des Zugangs zum Minimalniveau der Lebensführung wird verzichtet. So konstatiert auch Schröer (2021), dass die Kinder- und Jugendhilfe kompensatorisch bleibe, „so lange eine diskriminierungsfreie und gleichberechtigte soziale Teilhabe am regulären institutionellen Gefüge strukturell nicht ermöglicht“ (ebd., 356) wird. Jedoch hebt Schröer die Betonung der Selbstbestimmung hervor, die mit der Novelle als „unhintergehbares Element der Ermöglichung von sozialer Teilhabe“ (ebd., 355) zum Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe wird. Teilhabe - Selbstbestimmung und Teilhabeentscheidungen im Kontext von Fremdplatzierung Eine konkrete Verbindung zwischen Teilhabe und Selbstbestimmung konstatieren auch Bartelheimer et al. (2020): Selbstbestimmung qualifiziere Teilhabe, indem das Vorhandensein von Wahlmöglichkeiten mit der Verwirklichung von Teilhabe eng verknüpft wird (ebd., 45). Zentral ist der „Spielraum selbstbestimmter Lebensführung“ (ebd., 44), der Individuen zur Verfügung steht und aus dem sie wählen können, wie sie ihr Leben gestalten möchten. Der selbstbestimmten Wahl der Teilhabe in bestimmten Lebensbereichen trägt das Studiendesign Rechnung und fragt nach den Aspirationen, die Care LeaverInnen in Hinblick auf ihre Zukunft haben, und ob sie dabei unterstützt werden, ihre Ziele zu erreichen. Die Fremdunterbringung von jungen Menschen bedeutet, in einem staatlich strukturierten Feld der institutionalisierten Sorge aufzuwachsen und in diesem Teilhabemöglichkeiten zu entwickeln. Der Spielraum an Möglichkeiten der selbstbestimmten Lebensführung steht bedeutend in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen. Dieser Wechselwirkung zwischen den staatlich regulierten Bedingungen des Aufwachsens und der Entwicklung von individuellen Möglichkeitsräumen kommt besondere Bedeutung zu. Zentrale Fragen der CLS-Studie sind daher, welche Wahlmöglichkeiten der Teilhabe Care LeaverInnen offenstehen, wie der Übergang ins eigenständige Leben begleitet wird, welche Hilfen Care LeaverInnen nach Auszug erhalten und wie junge Menschen zu einer selbstbestimmten Teilhabe ermächtigt werden. Um selbstbestimmte Entscheidungen für ein gelingendes Leben treffen zu können, bedarf es der Ausbildung von Handlungskompetenzen. Das Jugendalter gilt als Lebensphase, in der Möglichkeiten der Mitbestimmung und Beteiligung gegeben werden müssen, damit diese 102 uj 3 | 2023 Teilhabe von Care LeaverInnen erlernt werden. Das Erleben, dass Partizipation zu Veränderungen führt, ist Grundvoraussetzung dafür, dass junge Menschen sich als wirk- und handlungsmächtig erfahren. Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe ist - pädagogischer Argumentation folgend - ein grundlegendes Prinzip, um die Herausbildung von Mündigkeit, Urteilskraft und Handlungsfähigkeit zu fördern (Schnurr 2022, 19). Die Studie erfasst, ob Care LeaverInnen an Entscheidungs- und Planungsprozessen partizipieren und über ihren Alltag mitbestimmen können. Neben der Ausbildung der Selbstbestimmung werden weitere Konzepte der Handlungsbefähigung einbezogen, die die individuellen Voraussetzungen bestimmen, ob Teilhabemöglichkeiten in realisierte Teilhabe umgewandelt werden. Teilhabe - Ein subjektorientiertes Konzept im Lebensverlauf von Care LeaverInnen Individualisierungstendenzen und Entgrenzungen der Übergangsphase ins Erwachsenenalter wurden in der Vergangenheit vielfach und in jüngster Zeit unter dem Begriff der „emerging adulthood“ diskutiert (Arnett 2000). Lüders (2007) konstatiert, dass neben Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft und einer damit einhergehenden Entgrenzung des Jugendalters gleichzeitig eine gegenläufige Tendenz der Verdichtung der Jugendphase stattfindet, da schulische und hochschulische Ausbildungswege verkürzt wurden. Zudem werden die Anforderungen an eine Identitätsbildung komplexer, da mehr Wissen und Kompetenzen erlernt werden müssen (ebd., 5). Für Care LeaverInnen ist die fragile Statuspassage des Übergangs ins eigenständige Leben zudem durch einen beschleunigten, institutionell vorgegebenen Übergang ins eigenständige Leben geprägt (Köngeter et al. 2012, 264). Während junge Menschen im Durchschnitt mit 23,8 Jahren das Elternhaus verlassen und einen eigenen Haushalt gründen 1 , endet bei Care LeaverInnen in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe die Hilfe in den meisten Fällen mit Erreichen der Volljährigkeit. Zudem können sie auf weniger Ressourcen zur Unterstützung zurückgreifen (ebd., 261). Umso bedeutender sind bestimmte Handlungsfähigkeiten, die junge Menschen zur Bewältigung von Lebensereignissen herausbilden. Ein Konzept der Handlungsbefähigung stellt das Salutogenese-Modell von Antonovsky dar. Kern dieses Modells ist das Kohärenzgefühl, welches beschreibt, ob Menschen Situationen als sinnvoll und verstehbar erleben und dadurch über Widerstandsressourcen verfügen (Schumacher et al. 2000, 472). Nach Antonovsky stellt das Kohärenzgefühl eine Bewältigungsressource dar, die durch die Grundhaltung gegenüber dem Leben bestimmt wird. Das Kohärenzgefühl setzt sich aus den drei Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit zusammen, die maßgeblich darüber entscheiden, ob Ereignisse in den Lebenslauf integriert und Lebenssituationen bewältigt werden können. Weitere Hinweise zur Ausbildung von Handlungsfähigkeit bietet die Resilienzforschung. Eigenschaften wie emotionale Stabilität, Optimismus, Selbstvertrauen und Lebensfreude geben Auskunft darüber, wie widerstandsfähig Individuen sind, um belastende Lebenssituationen bewältigen zu können. In der CLS-Studie findet die Kurzform der Resilienzskala RS-13 Anwendung (Leidenfrost 2012, 11f ). Eine weitere Perspektive der Subjektorientierung eröffnet die Betrachtung sozialer Netzwerkstrukturen. Ein stabiles soziales Netzwerk stellt eine wichtige Ressource dar, um sich zugehörig zu fühlen und emotionale wie lebenspraktische Unterstützung zu erhalten. Die Beschaffenheit von Netzwerken steht in Wechselwirkung zu anderen Teilhabedimensionen. So wurde bspw. 1 Statistisches Bundesamt (Destatis) (2021): Pressemitteilung Nr. N 069 vom 2. Dezember 2021. In: https: / / www.desta tis.de/ DE/ Presse/ Pressemitteilungen/ 2021/ 12/ PD21_N069_12.html, 1. 12. 2022 103 uj 3 | 2023 Teilhabe von Care LeaverInnen der Zusammenhang zwischen der Größe, Zusammensetzung und Qualität von Netzwerken und Armut in vielfachen Untersuchungen aufgezeigt (Knabe 2022, 57ff ). In der CLS-Studie gibt ein ego-zentriertes Netzwerkinstrument Auskunft über die Beschaffenheit der sozialen Beziehungen von Care LeaverInnen wie bspw. die Größe und Stabilität der Netzwerke. Unterstützungsformen auf emotionaler, instrumenteller und informationeller Ebene bilden die Qualität der sozialen Beziehungen ab. Ein weiteres Merkmal der subjektorientierten Perspektive in der CLS-Studie ist durch die Wahl der Datenerhebung gegeben: Die Daten werden bewusst bei den Care LeaverInnen selbst und nicht über Dritte erhoben. Care LeaverInnen werden in ihren Aussagen zu ihren Lebenslagen, den Bewertungen der Unterstützung, die sie erhalten, und ihren Wünschen für die Zukunft ernst genommen. Teilhabe - Ein dynamisches Konzept im Lebensverlauf von Care LeaverInnen Teilhabe setzt sich aus unterschiedlichen Dimensionen zusammen, die sich nicht aus dem Begriff selbst erschließen, sondern durch den Forschungszusammenhang bestimmt werden müssen (Bartelheimer et al. 2020, 46). Verschiedene Dimensionen zu relevanten Teilhabedimensionen wie Bildung, Gesundheit und der Zugang zum Gesundheitssystem, zur materiellen Absicherung und sozialen Beziehungen bilden die Lebenslage von Care LeaverInnen ab. Ergänzt werden diese elementaren Dimensionen gesellschaftlicher Teilhabe durch teilhabefördernde Aspekte der Mitbestimmung, Selbstbestimmung und Handlungsbefähigung, wie zuvor dargelegt. Die Mehrdimensionalität des Teilhabebegriffs berücksichtigt, dass durch individuelle Präferenzen und verschiedene Zeitpunkte unterschiedliche Dimensionen von Teilhabe Bedeutung haben. Die Dimensionen stehen in einer Wechselwirkung zueinander und bedingen sich gegenseitig (ebd.). Ein dynamisches Konzept von Teilhabe beinhaltet, dass sich Teilhabezustände im Lebensverlauf verändern. Die Lebensspanne des Erwachsenwerdens nimmt eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Teilhabemöglichkeiten junger Menschen ein. Die Studienteilnehmenden befinden sich an der Schwelle zum eigenständigen Leben. Aber nicht nur der Übergang aus der institutionellen Sorge in selbstständiges Wohnen, sondern auch Übergänge in den Bildungssystemen oder der Beginn des Erwerbslebens fallen in die Periode der Befragungswellen. Die unterschiedlichen Übergänge und Lebenslaufereignisse schließt das Studiendesign ein, indem je nach Alter, Lebenssituation und fortschreitender Befragungswelle unterschiedliche Dimensionen gesellschaftlicher Teilhabe berücksichtigt werden. Die Lebenslaufperspektive erlaubt es aufzuzeigen, wie Teilhabeverläufe von Care LeaverInnen strukturiert sind, wie stabil oder dynamisch Teilhabemodi sind und wie sich Teilhabeergebnisse im Lebensverlauf verändern. Denn erst „eine biografische Perspektive kann zeigen, wie Teilhabeeinschränkungen und gelingende Teilhabe über die Lebensspanne hinauswirken, in der sie erlebt werden, wie Benachteiligungen oder Vorteile im Lebensverlauf kumulieren und wie sich Spielräume der Lebensführung erweitern oder verengen“ (Bartelheimer 2019, 36). Teilhabeverwirklichung im Lebensverlauf junger Menschen Die vorangegangenen Ausführungen haben die Vielschichtigkeit von Teilhabe junger Menschen mit Fremdplatzierungserfahrungen aufgezeigt und die Interdependenzen zwischen den unterschiedlichen Forschungsaspekten von Teilhabe erörtert. Die Studie wird Einblicke in die Lebensbedingungen und Lebenslagen von Care LeaverInnen geben und Möglichkeiten und Barrieren in der Verwirklichung von Teilhabe aufzeigen. Die bestehende Datenlücke wird die CLS-Studie schließen und den Fragen nachgehen, in welchen Bereichen und 104 uj 3 | 2023 Teilhabe von Care LeaverInnen in welchem Maße Care LeaverInnen der Zugang zu Teilhabe erschwert wird, von welchen existenziellen Bereichen der Teilhabe sie ausgeschlossen werden, in welchen Teilhabedimensionen sich der Zugang schwieriger gestaltet und welche Strukturen Teilhabemöglichkeiten beschränken oder begünstigen. Die Studie wird aufzeigen, wie Care LeaverInnen ihr Leben gestalten, was ihnen wichtig ist und ob sie das Leben führen können, das sie aus guten Gründen erstreben. Dabei steht die Wechselwirkung zwischen dem individuellen Handeln und den strukturellen Gegebenheiten, die Teilhabe ermöglichen oder verhindern, im Mittelpunkt. Die Untersuchung fällt in eine Zeit der Veränderung der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Hilfen für junge Volljährige, die Come-Back- Option und die verbesserte Planung des Übergangs sind mit dem KJSG rechtlich normiert und müssen nun von den Kommunen und Trägern der Jugendhilfe umgesetzt werden. Wie und ob sich die Änderungen auf den Prozess des ‚Leaving Care‘ auswirken und ob die Kinder- und Jugendhilfe ihren Auftrag der Ermächtigung zur selbstbestimmten Teilhabe an der Gesellschaft einlösen können, wird sich im Verlauf der CLS-Studie herausstellen. Informationen zur CLS-Studie: info@cls-studie.de und www.cls-studie.de Katharina Brüchmann GISS Kohlhökerstr. 22 28203 Bremen E-Mail: kb@giss-ev.de Dorothee Schäfer IGfH Galvanistr. 30 60486 Frankfurt am Main E-Mail: dorothee.schaefer@igfh.de Literatur Arnett, J. J. (2000): Emerging adulthood: A theory of development from the late teens through the twenties. American Psychologist 55, 469 - 480, https: / / doi. org/ 10.1037/ 0003-066x.55.5.469 Bartelheimer, P. (2019): Exklusive Teilhabe, ungenutzte Chancen. Einführung in den Bericht. In: Forschungsverbund Sozioökonomische Berichterstattung (Hrsg.): Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Exklusive Teilhabe - ungenutzte Chancen. Dritter Bericht. wbv, Bielefeld, 5 - 13 Bartelheimer, P., Behrisch, B., Daßler, H., Dobslaw, G., Henke, J., Schäfers, M. (2020): Teilhabe - eine Begriffsbestimmung. Springer VS, Wiesbaden Bartelheimer, P., Kädtler, J. (2012): Produktion und Teilhabe - Konzepte und Profil sozioökonomischer Berichterstattung. In: Forschungsverbund Sozioökonomische Berichterstattung (Hrsg.): Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Teilhabe im Umbruch. Zweiter Bericht. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 41 - 85 Erzberger, C., Herz, A., Koch, J., Lips, A., Santen, E. van, Schröer, W., Seckinger, M. (2019): Sozialstatistische Grundlage sozialer Teilhabe von Care LeaverInnen in Deutschland. Datenreport auf der Basis der Erziehungshilfeforschung und repräsentativer Paneluntersuchungen. Universitätsverlag Hildesheim, Hildesheim Fuchslocher, K., Ziegler, H. (2017): Die regressive Reform der Kinder- und Jugendhilfe. Widersprüche: Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich 37 (146), 71 - 81. In: https: / / nbn-resol ving.org/ urn: nbn: de: 0168-ssoar-77472-6, 5. 12. 2022 Knabe, A. (2022): Soziale Armut. 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Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 14 - 25 Schröer, W. (2021): „Stärkere Selbstbestimmung durch das KJSG“ - Werden die jungen Menschen den Unterschied merken? Das Jugendamt 94 (7 - 8), 354 - 358 Schulz, A., Decker, J. (2017): Care leaver unterstützen. Wer was für wen tun muss. Unsere Jugend 69, 20 - 27 Schumacher, J., Wilz, G., Gunzelmann, T., Brähler, E. (2000): Die Sense of Coherence Scale von Antonovsky. Teststatistische Überprüfung in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe und Konstruktion einer Kurzskala. PPmP Psychother Psychosom med Psychol 50, 472 - 482 Sierwald, W., Weinhandl, K., Salzburger, V., Straus, F. (2017): Wie Care Leaver den Weg in die Selbstständigkeit erleben. Erste Ergebnisse aus der SOS-Längsschnittstudie zur Handlungsbefähigung. Unsere Jugend 69, 10 - 19 Strahl, B., Thomas, S. (2013): Care Leavers. Aus stationären Erziehungshilfen in die „Selbstständigkeit“. Unsere Jugend 65, 2 - 11 Thomas, S. (2013): Erwachsenwerden in stationären Erziehungshilfen. PFAD 4, 12 - 13 Thomas, S. (2017): „Ich fand das schlimm, wo es darum ging, ob ich noch weiter Hilfe kriege oder nicht! “ Unsichere Übergänge von Care Leavern aus stationären Erziehungshilfen in ein eigenverantwortliches Leben. Unsere Jugend 69, 2 - 9 a www.reinhardt-verlag.de Dieses Buch stellt verschiedene Beschwerdeverfahren vor und bietet Unterstützung für die erfolgreiche Einführung in unterschiedlichen Einrichtungen. Fallbeispiele zeigen, wie durch ein gelungenes Beschwerdeverfahren die Rechte der Kinder und Jugendlichen gestärkt werden. Hinweise zu wichtigen Implementierungsschritten und Lösungsansätze für die typischen Stolpersteine helfen auf dem Weg zum individuellen und gelungenen Entwicklungsprozess. Beschweren erlaubt Ulrike Urban-Stahl / Nina Jann / Susan Bochert Beschwerdeverfahren in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe 2., überarb. u. erw. Aufl. 2023. ca. 137 S. (978-3-497-03200-6) kt
