unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Offener Brief
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Doris Klein
Birgit Lattschar
Wir brauchen mehr Biografiearbeit! Alle Kinder und Jugendlichen haben ein Recht auf ihre Identität (Art. 8 UN-Kinderrechtskonvention). Für fremdplatzierte Kinder bedeutet dies das Wissen um ihre Biografie, ihre Herkunft und um die Gründe für die Fremdunterbringung. Biografiearbeit muss ein Standard in der Arbeit mit fremdplatzierten Kindern sein, Fachkräfte müssen dafür entsprechend qualifiziert sein. Das fordert die AG Jugendhilfe im Verein LebensMutig e.V., Gesellschaft für Biografiearbeit.
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135 unsere jugend, 75. Jg., S. 135 - 137 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art18d © Ernst Reinhardt Verlag Offener Brief Wir brauchen mehr Biografiearbeit! Alle Kinder und Jugendlichen haben ein Recht auf ihre Identität (Art. 8 UN-Kinderrechtskonvention). Für fremdplatzierte Kinder bedeutet dies das Wissen um ihre Biografie, ihre Herkunft und um die Gründe für die Fremdunterbringung. Biografiearbeit muss ein Standard in der Arbeit mit fremdplatzierten Kindern sein, Fachkräfte müssen dafür entsprechend qualifiziert sein. Das fordert die AG Jugendhilfe im Verein LebensMutig e.V., Gesellschaft für Biografiearbeit. Warum ist Biografiearbeit besonders für fremdplatzierte Kinder und Jugendliche so wichtig? Erkenntnisse psychologischer und pädagogischer Forschung legen nahe, dass ein kognitives und emotionales Verstehen sowie ein sinngenerierendes Bearbeiten der eigenen Geschichte eine Voraussetzung für psychische Stabilität und damit für ein gelingendes Leben sind. Denn unverarbeitete, nicht anschlussfähige Erfahrungen - im Extremfall Traumata - wirken destabilisierend, indem sie immer wieder das Selbst- und Weltbild der Betroffenen bedrohen (vgl. Riedl 2020, 383). Je mehr eine Person von den Geschehnissen in ihrem bisherigen Leben weiß, je mehr Sinn sie in diese Ereignisse hineinlegen und ihre eigenen Gefühle verstehen und zulassen kann, desto besser geht es ihr (vgl. Riedl 2020, 391). Für fremdplatzierte Kinder und Jugendliche ist es nicht selbstverständlich zu wissen, woher sie kommen, wie es dazu gekommen ist, dass sie nicht mehr bei den leiblichen Eltern leben und wer diese überhaupt sind. Diese und viele andere Themen zu ihrer Herkunft sind oftmals mit Fragezeichen oder Tabus versehen. So sind sie kaum in der Lage, ihr „Ich“ authentisch und stabil zu entwickeln. Zu viele Fragen und Unsicherheiten bleiben Bestandteil der sich entwickelnden Persönlichkeit und finden keine Antwort. Hier kann qualifizierte Biografiearbeit einen mehr als wertvollen Beitrag für die Entwicklung dieser Kinder und Jugendlichen leisten (siehe Läntzsch et al. 2023). Rahmenbedingungen und Umsetzung Biografiearbeit braucht gute Rahmenbedingungen. Sie braucht Zeit zur Durchführung, die entsprechenden Ressourcen und vor allem eine Anerkennung der Relevanz dieser Arbeit für die Jugendhilfe. Bislang gibt es in Deutschland keine verbindlichen Standards zur Umsetzung von Biografiearbeit in der Jugendhilfe, während beispielsweise in Großbritannien jedem fremdplatzierten Kind das Erstellen eines „Life Story Books“ gesetzlich zusteht. Verantwortlich dafür ist die fallzuständige Fachkraft. Wir wissen, wie unterschiedlich die „Landschaft“ in der Arbeit mit fremduntergebrachten Kindern diesbezüglich in Deutschland ist. Manche Landesjugendämter geben klare Empfehlungen zur Durchführung von Biografiearbeit, wie zum Beispiel Nordrhein-Westfalen für den Bereich der Pflegekinderhilfe: „Der Fachberater 136 uj 3 | 2023 Impuls: Offener Brief muss das Thema Herkunft immer im Blick haben. […] Er muss hierfür gesprächsträchtige Situationen arrangieren und Angebote für Biografiearbeit machen. […] Biografiearbeit ist daher ein Schwerpunkt in der Betreuung eines Pflegeverhältnisses“ (Pierlings 2011, 33). An anderen Orten dagegen muss von Fachkräften für die Notwendigkeit der Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen geworben oder gestritten werden. Manchmal gibt es Ängste oder Vorbehalte, dass Kinder und Jugendliche durch Biografiearbeit verunsichert oder retraumatisiert werden. Manchmal werden schlichtweg keine Mittel zur Verfügung gestellt, um die Arbeit durchzuführen oder Fachkräfte fortzubilden (vgl. Lattschar et al. 2020, 90ff ). Begrüßenswert ist, dass Biografiearbeit in den 2022 erschienenen Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter als eine Aufgabe für Pflegeeltern benannt wird: „Verglichen mit den Erziehungsaufgaben aller Eltern, haben Pflegeeltern drei große Zusatzaufgaben: ➤ Ein Trauma heilendes und deeskalierendes Familienklima zu schaffen; ➤ Den jungen Menschen beim Bewältigen seines speziellen Schicksals zu unterstützen, z. B. durch Biografiearbeit; ➤ Eine konstruktive innere Haltung zur Familie des jungen Menschen zu entwickeln, damit dieser aus Identitäts- und Loyalitätskonflikten entbunden wird. […] „Unterstützung und Beratung erfährt die Pflegefamilie durch die professionelle Begleitung insbesondere des Pflegkinderdienstes“ (BAGLJAE 2022, 44ff ). Wünschenswert wäre aus unserer Sicht eine klare Verortung der Verantwortung für die Biografiearbeit bei den Fachkräften, sowohl in der Pflegekinderhilfe als auch in den stationären Hilfen zur Erziehung. Das Projekt „Ankommen“ der Uni Ulm (vgl. Läntzsch et al. 2023) zeigt, wie dies beispielsweise im stationären Bereich als Gruppenprogramm umsetzbar ist. Unsere Empfehlungen und Forderungen konkret ➤ Die Verankerung von Biografiearbeit als Standard in der Jugendhilfe für fremdplatzierte Kinder und Jugendliche u zur Verwirklichung des Rechtes der Kinder auf Kenntnis der eigenen Herkunft, u als Wertschätzung der Lebensgeschichte und u zur Unterstützung beim Bewältigen von kritischen Lebensereignissen ➤ Biografiearbeit mit selbstreflexiven Anteilen als fester Bestandteil in der Ausbildung von PädagogInnen ➤ Zeit- und Personalressourcen, die Fachkräften Biografiearbeit mit den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen ermöglicht ➤ Ein Ausbau von Fortbildung und Supervision für Fachkräfte, um diese für Biografiearbeit direkt mit dem Kind und die Begleitung anderer Durchführender (Pflege-/ Adoptiveltern) zu qualifizieren Wer wir sind Die AG Jugendhilfe in Lebensmutig e.V. setzt sich zusammen aus Fachkräften unterschiedlichster Professionen der Kinder- und Jugendhilfe. Als TrainerInnen für Biografiearbeit ist es unser Anliegen, fremdplatzierte Kinder und Jugendliche zu unterstützen, ihr Recht auf Kenntnis ihrer Geschichte zu verwirklichen. Und dazu brauchen wir mehr Biografiearbeit! Für die AG: Doris Klein und Birgit Lattschar E-Mail: doris.klein@lebensmutig.de birgit.lattschar@lebensmutig.de 137 uj 3 | 2023 Impuls: Offener Brief Literatur Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAGLJAE) (2022): Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Strukturen, Verfahren und pädagogischen Prozessen in der Pflegekinderhilfe. Nr. 158. In: http: / / www.bagljae.de/ content/ empfehlungen/ , 19. 12. 2022 Länztsch, S., Fegert, J. M., Rassenhofer, M., Witt, A., Pfeiffer, E. (2023): Wirksamkeiten und Herausforderungen bei der Implementierung von Biografiearbeit als Standardangebot in der Betreuung fremduntergebrachter Kinder und Jugendlicher. Unsere Jugend 2, 67 - 76 Lattschar, B., Mohr, K., Hölzl, S. (2020): Biografiearbeit wirkt - Instrumente, Konzepte, Erfahrungen. Theorie und Praxis der Jugendhilfe 30. EREV - Evangelischer Erziehungsverband, Hannover Pierlings, J. (2011): Leuchtturmprojekt PflegeKinder Dienst. In: https: / / www.lvr.de/ media/ wwwlvrde/ ju gend/ service/ arbeitshilfen/ dokumente_94/ jugend_ mter_1/ allgemeiner_sozialer_dienst/ pflegekinder dienst/ LeuchtturmProjekte.pdf, 19. 12. 2022 Riedl, K. (2020): „Ich bin halt eine Kämpferin! Fremdunterbringung als biografische Herausforderung.“ Unsere Jugend 9, 383 - 392 a www.reinhardt-verlag.de Lange wurde das Thema „Traumatisierung“ in sozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern ausgeklammert und zum psychologisch-therapeutischen Hoheitsgebiet erklärt. Erkenntnisse aus der Trauma-, Hirn- und Bindungsforschung verdeutlichen die Notwendigkeit eines neuen traumaspezifischen Fallverstehens. SozialpädagogInnen und andere pädagogische Fachkräfte können stabilisierend und ressourcenorientiert mit traumatisierten Menschen arbeiten, die extrem belastende oder bedrohliche Situationen durchlebt haben. Neben Grundlagen zu Symptomen, Risiko- und Schutzfaktoren, Handlungsleitlinien, Methoden und Tipps zum Verhalten in konkreten Situationen gibt es auch Anregungen zum Thema Selbstschutz für HelferInnen. Die biografische Wunde Corinna Scherwath / Sibylle Friedrich Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung 4., aktual. Aufl. 2020. 237 S. (978-3-497-02998-3) kt
