unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Inobhutnahme - Kinderschutz als Kooperationsauftrag von Jugendämtern, Familiengerichten und Einrichtungen
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2023
Stefan Rücker
Die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen stellt innerhalb des Kinderschutzes die hochschwelligste Intervention dar. Vernachlässigung sowie körperliche Misshandlung sind die häufigsten Indikationen für den Einsatz dieses Instruments. In den vergangenen Jahren sind die Fallzahlen stark gestiegen, vielfach weisen Kinder bei der Unterbringung in Einrichtungen der Inobhutnahme akute Traumatisierungen auf und verbleiben häufig über Monate, im Einzelfall sogar über Jahre in den Einrichtungen. In Obhut genommene Kinder erweisen sich als eine besonders vulnerable Gruppe. Trotz der hohen Bedeutsamkeit dieses Kinderschutz-Instruments besteht ein auffallendes Missverhältnis zwischen der Inanspruchnahme einerseits und der Anzahl empirischer Studien zur fortlaufenden Praxisentwicklung in diesem Kinderschutzfeld andererseits. Aus diesem Grund wurde von der Forschungsgruppe PETRA ein interdisziplinäres Forschungsprojekt mit Jugendämtern, Familiengerichten und Einrichtungen der Inobhutnahme durchgeführt. Der vorliegende Beitrag gibt einen ersten Überblick.
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157 unsere jugend, 75. Jg., S. 157 - 162 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art21d © Ernst Reinhardt Verlag Inobhutnahme - Kinderschutz als Kooperationsauftrag von Jugendämtern, Familiengerichten und Einrichtungen Eine bundesweite Studie zur Erfassung der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität in den vorläufigen Schutzmaßnahmen Die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen stellt innerhalb des Kinderschutzes die hochschwelligste Intervention dar. Vernachlässigung sowie körperliche Misshandlung sind die häufigsten Indikationen für den Einsatz dieses Instruments. In den vergangenen Jahren sind die Fallzahlen stark gestiegen, vielfach weisen Kinder bei der Unterbringung in Einrichtungen der Inobhutnahme akute Traumatisierungen auf und verbleiben häufig über Monate, im Einzelfall sogar über Jahre in den Einrichtungen. In Obhut genommene Kinder erweisen sich als eine besonders vulnerable Gruppe. Trotz der hohen Bedeutsamkeit dieses Kinderschutz-Instruments besteht ein auffallendes Missverhältnis zwischen der Inanspruchnahme einerseits und der Anzahl empirischer Studien zur fortlaufenden Praxisentwicklung in diesem Kinderschutzfeld andererseits. Aus diesem Grund wurde von der Forschungsgruppe PETRA ein interdisziplinäres Forschungsprojekt mit Jugendämtern, Familiengerichten und Einrichtungen der Inobhutnahme durchgeführt. Der vorliegende Beitrag gibt einen ersten Überblick. von Dr. Stefan Rücker Jg. 1971; Dipl.-Psych., Leiter der Forschungsgruppe PETRA, Leiter der Arbeitsgruppe Kindeswohl an der Universität Bremen, Fachberater und Autor Inobhutnahmen bilden eine zentrale Säule im Kinderschutz (§ 42 SGB VIII). Diese Form des Kinderschutzes wird aktiviert, wenn Kinder aufgrund von Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch nicht in ihren Familien leben können. Jugendämter haben dabei in Kooperation mit Familiengerichten die anspruchsvolle Aufgabe, zu prüfen, welche konkreten Lebensbedingungen für Kinder als gefährdend angenommen werden müssen und unter welchen Umständen ein Verbleib von Kindern in ihren Familien unter Kindeswohl-Aspekten vertretbar erscheint. 158 uj 4 | 2023 Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität von Inobhutnahme Diese Form der Hilfestellung für gefährdete Kinder unterlag mit Blick auf die Fallzahlen vor allem in den letzten Jahren, unter anderem auch durch die Einreise unbegleiteter Minderjähriger aus dem Ausland (UmA) (siehe hierzu Petermann et al. 2014; Rücker et al. 2017), teils erheblichen Schwankungen. Die Entwicklung (ohne UmA) mit einem Referenzwert beispielsweise aus dem Jahr 2005 mit 25.664 Inobhutnahmen vermittelt jedoch deutlich, dass es bis einschließlich des Jahres 2021 mit 36.245 Fällen über die Zeit zu einem bemerkenswerten Fallzahlenanstieg gekommen ist (+41,2 %; vgl. Statistisches Bundesamt 2022). Problematisch erweist sich zudem, dass in Obhut genommene Kinder häufig unverhältnismäßig lange in Einrichtungen der Inobhutnahme untergebracht sind, bis schließlich eine Perspektive für die Kinder gefunden ist (vgl. Rücker / Petermann 2019). Unter anderem zur Reduktion überdurchschnittlich langer Verweildauern von Kindern in Einrichtungen der Inobhutnahme und zur Erhöhung der Handlungssicherheit in Jugendämtern und Familiengerichten erscheint eine empirische Untersuchung des Feldes dringend angezeigt. Die erste interdisziplinäre Studie zu wichtigen Parametern gemeinsam mit Jugendämtern, Familiengerichten und Einrichtungen der Inobhutnahme wird aktuell von der Forschungsgruppe PETRA realisiert. Gegenwärtig finden die Auswertungen statt. In der vorliegenden Publikation soll es einen ersten Überblick zu den Fragestellungen, zum methodischen Vorgehen sowie zu den Ergebnissen und den vorläufigen praktischen Implikationen geben. Vorgehen Stichprobe Zur Erlangung des Feldzugangs wurde die geplante Studie in einem ersten Schritt der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände vorgestellt. Dankenswerterweise erhält die Studie breite Unterstützung durch folgende Organe/ Institutionen: ➤ Deutscher Städte- und Gemeindebund ➤ Deutscher Städtetag ➤ Deutscher Landkreistag ➤ Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter Zudem wurden die Justizministerien der Länder um Unterstützung gebeten; auch diese haben gegenüber Familiengerichten/ FamilienrichterInnen die Teilnahme an der Studie ebenfalls empfohlen. Im Anschluss wurden in einem mehrstufigen Mailing-Verfahren die AdressatInnen der Studie über die Ziele der Studie informiert und um Teilnahme gebeten. Über dieses Vorgehen konnten 439 Jugendämter, 212 RichterInnen sowie 145 Einrichtungen der Inobhutnahme gewonnen werden. Nicht alle AdressatInnen füllten den vorgelegten Fragebogen vollständig aus, sodass ein Teil der Angaben aufgrund fehlender Werte nicht mit in die Auswertung einfließen konnte. Detailanalysen mit inferenzstatistischen Methoden wurden zudem, wie in der Wissenschaft üblich, mit unterschiedlichen Stichprobengrößen durchgeführt. Aufgrund der unterschiedlichen Anzahl von Jugendämtern, Familiengerichten und Einrichtungen der Inobhutnahme in den Bundesländern sowie aufgrund der unterschiedlichen Größenverhältnisse und Einwohnerzahlen kann Repräsentativität aus strukturellen Gründen kaum erreicht werden. Die drei adressierten Gruppen der Studie konnten jedoch in allen Bundesländern gewonnen werden. Zudem ergibt sich eine vergleichbare und als sehr gut zu bewertende Verteilung hinsichtlich der relativen Häufigkeiten sowie mit Blick auf demografische Variablen wie beispielsweise TeilnehmerInnen aus der Stadt, der Stadtrandlage und aus ländlichen Räumen. 159 uj 4 | 2023 Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität von Inobhutnahme Design Die Studie ist als Querschnittserhebung angelegt. D. h., die AdressatInnen wurden einmal befragt. Da coronabedingt ab dem Jahr 2020 die Praxis in Jugendämtern, Familiengerichten und Einrichtungen der Inobhutnahme nicht als Maßstab gelten kann, wurde retrospektiv nach den Fallverläufen (ohne Bereitschaftspflege) im Jahr 2019 gefragt (vgl. hierzu Büttner et al. 2018). Methodisches Vorgehen Das Ziel der Studie besteht darin, das interdisziplinäre Zusammenwirken von Jugendämtern, Familiengerichten und Einrichtungen der Inobhutnahme systematisch zu erfassen, um Verfahrensabläufe zu verstehen und gegebenenfalls Praxisentwicklungspotenzial, wie beispielsweise eine Verkürzung der Aufenthalte von Kindern in der Inobhutnahme, aufzuzeigen. Demgemäß entsteht diese Studie aus der Praxis und für die Praxis. Konkret sollte die Struktur-, Prozess und Ergebnisqualität in Jugendämtern, Familiengerichten und Einrichtungen der Inobhutnahme abgebildet werden. Zur Erreichung dieses Ziels wurde für jedes der drei Settings ein wissenschaftlich abgesicherter Fragebogen konzipiert. Die AdressatInnen dieser Onlinebefragung wurden gebeten, konkrete Angaben zu machen bzw. Zahlen zu nennen, sowie verschiedene Aussagen auf einer fünfstufigen Likert-Skala zu bewerten. Die einzelnen Items in den Fragebögen wurden in ExpertInnenrunden, denen unter anderem Frau Dr. Kathrin Lack (Familienrichterin FfM) und Dr. Thomas Meysen (Jurist für Sozialrecht) angehören, und von einem wissenschaftlichen Beirat gebildet. Dem Beirat gehören neben anderen Dr. Werner Dürbeck (Richter am OLG FfM), Johannes Horn (ehemals Leiter des Jugendamts Düsseldorf ), Bruno Pfeifle (ehemals Leiter des Jugendamts Stuttgart) sowie Prof. Dr. Reinhard Wiesner (Rechtswissenschaftler) an. Jugendämter Der Fragebogen für die Jugendämter bezieht sich im Bereich der Strukturqualität beispielsweise auf die Anzahl der Kinderschutzmeldungen sowie der daraus folgenden Inobhutnahmen im Jahr 2019. Zudem wurden zeitliche und personelle Kapazitäten für die jeweilige Fallbearbeitung erhoben. Außerdem wurde ermittelt, wie häufig Kinder aufgenommen werden, weil eine andere, angemessenere Hilfe nicht verfügbar ist, und in wie vielen Fällen eine Übereinstimmung zwischen Eltern und dem ASD/ Jugendamt vorliegt. Im Bereich der Prozessqualität interessierten insbesondere die Fragen, ob ein Clearing stattfindet, und falls ja, durch wen, und welche Instrumente dabei verwendet werden. Die Zusammenarbeit mit den Eltern und dem Familiengericht wurde ebenfalls abgefragt. Hinsichtlich der Ergebnisqualität wurden die Jugendämter unter anderem gebeten, die Dauer der Maßnahmen mitzuteilen, ob ein Verbleib des Kindes in der Familie möglich war und ob unter fachlichen Gesichtspunkten eine geeignete Anschlussperspektive gefunden wurde. Familiengerichte RichterInnen aus Familiengerichten wurden mit Blick auf die Strukturqualität beispielsweise gefragt, wie viel Zeit jeweils für die Fallbearbeitung bleibt und unter welchen (auch örtlichen) Bedingungen die Anhörung von Kindern stattfinden kann. Fragen zur Prozessqualität bezogen sich unter anderem auf die Kooperation mit dem Jugendamt, wie häufig Eil- und Hauptsacheverfahren eingeleitet wurden, welche Maßnahmen in der Regel getroffen wurden, welche Schritte nach Eingang der Informationen aus dem Jugendamt eingeleitet wurden sowie einiges mehr. Fragen zur Ergebnisqualität bezogen sich im Schwerpunkt darauf, wie viel Zeit in der Regel vom Eingang der Informationen durch das Jugendamt bis zur Entscheidung in Eil- und Hauptsacheverfahren verging, wie häufig die elterliche Sorge entzogen wurde, wie viel Zeit die Suche nach geeigneten und über freie Kapazitäten verfügende Sachverständige in der Regel in Anspruch nimmt und ob Sachverständige ihre Gutachten innerhalb der gesetzten Frist erstatten. 160 uj 4 | 2023 Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität von Inobhutnahme Einrichtungen der Inobhutnahme Die Einrichtungen wurden unter der Betrachtung von Aspekten zur Strukturqualität um Angaben hinsichtlich der Personalstärke und der Qualifikation, der Sachausstattung (wie zum Beispiel Anzahl der PKW), der Anzahl der vorhandenen Räume, ob Geschwisterreihen aufgenommen werden können und zur Platzzahl gebeten. Daten zur Prozessqualität konzentrierten sich beispielsweise auf Dienstpläne, auf die Dokumentation, auf pädagogische Konzepte und auf die Frage, ob Kinder in den Einrichtungen Hilfestellungen benötigen, die konzeptuell bislang nicht vorgesehen sind. Überdies wurden Fragen zum Kinderschutz in Einrichtungen der Inobhutnahme für Menschen mit Behinderung erfragt. Die Erfassung der Ergebnisqualität in Einrichtungen der Inobhutnahme konzentrierte sich vor allem auf die Fragen, ob der Schutz der Kinder gelingt, worin die jeweiligen Anschlusshilfen bestehen und ob sie aus Sicht der Fachkräfte als fachlich angemessen bewertet werden, wie häufig Kinder wiederholt in Obhut genommen werden, und auch die Dauer der Maßnahmen wurde abgefragt. Alle AdressatInnen der Befragung wurden zusätzlich gebeten, Angaben über den bundesweiten Fallzahlenanstieg zu machen. Von besonderem Interesse war vor allem, ob sich dieser Anstieg jeweils im eigenen Arbeitsfeld zeigt und welche impliziten Hypothesen zu diesem Anstieg an Inobhutnahmen bestehen. Schließlich konnten in freien Antwortformaten Anregungen sowie Kritik geäußert werden. Auswertungsstrategie Das erhobene Datenmaterial wird aktuell auf drei Ebenen ausgewertet: Zunächst erfolgt eine deskriptive, sprich beschreibende Darstellung der Ergebnisse, zusätzlich finden differenzierte statistische Analysen statt. Das in den freien Antwortformaten erhobene qualitative Datenmaterial wird im Forschungsbericht ebenfalls dargestellt. Ergebnisse Es zeigt sich, dass mehr als jedes zweite Jugendamt einen Anstieg in den Fallzahlen verzeichnet. Als Gründe werden eine Sensibilisierung der Fachkräfte beispielsweise in Kinderkrippen, Kindergärten und der Schule vermutet, zudem wird eine öffentliche Sensibilisierung angenommen. Auch ein Anstieg an kindeswohlgefährdenden Lebensbedingungen wird als Ursache für die Fallzahlensteigerung genannt. Rund 72 % der befragten Jugendämter geben an, regelmäßig Geschwisterreihen mit mindestens drei Kindern unterbringen zu müssen. Zwar berichten fast 100 % aller Jugendämter, die gemeinsame Unterbringung von Geschwisterreihen zu präferieren; herausfordernd sei jedoch das Finden von Einrichtungen, die gleichzeitig eine größere Zahl an Kindern aufnehmen können. Bei der Bearbeitung von Gefährdungsmeldungen stufen Fachkräfte vor allem die kollegiale Beratung im Vorfeld, Hausbesuche nach dem Vieraugenprinzip, standardisierte Dokumentation sowie die Einbindung der nächsten Führungsebene als sehr relevant ein. Wenn erstinstanzlich im Hauptsacheverfahren das Sorgerecht entzogen wurde und in einem zweitinstanzlichen Verfahren wegen Einspruchs der ehemals Personensorgeberechtigten weiter verhandelt werden muss, verbleiben die Kinder teilweise bis häufig nicht in der Inobhutnahme-Einrichtung, sondern werden in eine Hilfe zur Erziehung überführt. Drei von vier FamilienrichterInnen geben an, von Jugendämtern im Anschluss an die bereits erfolgte Inobhutnahme informiert zu werden. Dies überwiegend am selben Tag oder am Tag nach der Herausnahme des Kindes. Die Kontaktaufnahme des Jugendamts erfolgt dabei meist über die Service-Einheit des Gerichts und über den zuständigen Richter/ die zuständige Richterin. 161 uj 4 | 2023 Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität von Inobhutnahme Im Zusammenhang mit Inobhutnahmen sind die am häufigsten getroffenen familiengerichtlichen Maßnahmen der Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts sowie der Entzug der Gesundheitsfürsorge. In weniger als 10 % der Fälle ist es notwendig, die elterliche Sorge vollständig zu entziehen. Jede/ r vierte FamilienrichterIn gibt an, dass die Mehrheit der Kinder nach dem Erlass familiengerichtlicher Interventionen im Eilverfahren nichtin der Inobhutnahme-Einrichtung verbleibt. Hinsichtlich der Dauer der Inobhutnahmen geben 40 % der RichterInnen an, dass die Laufzeit mehr als drei Monate beträgt. Als Ursache für lange Aufenthalte von Kindern in Einrichtungen der Inobhutnahme wurde vor allem die Anfertigung von Sachverständigengutachten genannt. Auch Einrichtungen der Inobhutnahme verzeichnen einen Anstieg in den Fallzahlen. Als Ursache werden vor allem ein Anstieg an Kindeswohlgefährdung, Veränderungen in den familiären Strukturen als auch eine Sensibilisierung von Fachkräften genannt. Jede fünfte Einrichtung gibt an, Kinder unter bestimmten Bedingungen nicht aufnehmen zu können. Hierzu zählen beispielsweise schwere körperliche oder geistige Behinderungen, gefolgt von problematischem Konsumverhalten (Alkohol/ Drogen) sowie akute Selbst- oder Fremdgefährdung. Einrichtungen berichten, dass wiederholte Aufnahmen von Kindern vor allem nach gescheiterten Hilfen zur Erziehung erfolgten und auch durch Selbstmeldungen der jungen Menschen (ohne Kontext einer Hilfe zur Erziehung). Sechs von zehn Einrichtungen der Inobhutnahme sind mit dem Clearing-Prozess zur Entwicklung von Anschlussperspektiven beauftragt. Als Gründe für Laufzeiten von über sechs Monaten werden vor allem erschwerte Perspektiv-Klärungen (Clearing), gerichtliche Entscheidungen (auch im Zusammenhang mit der Erstellung von Sachverständigengutachten) sowie die mangelnde Verfügbarkeit fachlich indizierter Anschlusshilfen benannt. Die statistischen Analysen sind noch nicht abgeschlossen und die bisherigen Ergebnisse müssen als vorläufig betrachtet werden. Es zeichnet sich jedoch bei den Ursachen-Zuschreibungen zwischen Jugendämtern und Einrichtungen der Inobhutnahme ein statistisch signifikanter Zusammenhang hinsichtlich des Fallzahlenanstiegs ab. Beide adressierten Gruppen benennen hierfür übereinstimmend einen Anstieg an Kindeswohlgefährdung, Veränderungen in den familiären Strukturen sowie den Ausbau des U3-Bereichs. Zudem besteht ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen den Angaben von Jugendämtern, FamilienrichterInnen und Einrichtungen der Inobhutnahme hinsichtlich der Gründe für unverhältnismäßig lang andauernde Inobhutnahmen (> sechs Monate). Hier dominieren Zeitverluste durch ausstehende gerichtliche Entscheidungen im Zusammenhang mit Sachverständigengutachten sowie ein Mangel an Verfügbarkeit an fachlich für richtig erachteten Anschlusshilfen für Kinder. Ausblick Eine differenzierte Diskussion der Ergebnisse kann erst auf Grundlage einer Gesamtschau der Daten erfolgen. Die vollständige Studie wird im Jahresverlauf 2023 veröffentlicht. Zudem müssen die hier vorgetragenen Ergebnisse durch weitere Analysen abgesichert werden. Dieser erste kurze Überblick vermittelt jedoch bereits jetzt vertiefte Einblicke in Handlungspraktiken, Strukturen und Grundlagen. Eine detaillierte Auswertung und Einordnung der Ergebnisse trägt dazu bei, Verfahrensabläufe zwischen den Professionen zu verstehen und im Sinne kindeswohlsensiblen Handelns weiterhin zu qualifizieren. In Obhut genommene Kinder bilden eine besonders vulnerable Gruppe (vgl. Rücker et al. 162 uj 4 | 2023 Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität von Inobhutnahme 2018), sodass die angesprochene Studie einen wertvollen Beitrag zum Kinderschutz darstellt (für einen Überblick zu den umfassenden Forschungsarbeiten der Forschungsgruppe PETRA mit in Obhut genommenen Kindern und Jugendlichen siehe auch Rücker et al. 2015). In einer Folgestudie ist geplant, das Erleben und die Perspektive von Eltern mit Kindern in der Inobhutnahme zu untersuchen, Verfahrensbeistände einzubinden sowie PolizeibeamtInnen, die häufig bei Herausnahmen von Kindern beteiligt sind. Das hier beschriebene Forschungs- Literatur Büttner, P., Fegert, J. M., Meysen, T., Petermann, F., Rücker, S. (2018): Bereitschaftspflege im Blick (BiB) - erste Eindrücke über die Sicht von Bereitschaftspflegeeltern. PFAD 1, 10 - 13 Petermann, F., Besier, T., Büttner, P., Rücker, S., Schmid, M., Fegert, J. M. (2014): Vorläufige Schutzmaßnahmen für gefährdete Kinder und Jugendliche - Inobhutnahmen in Deutschland. Kindheit und Entwicklung 23, 124 - 133 Rücker, S., Büttner, P., Fegert, J. M., Petermann, F. (2015): Partizipation traumatisierter Kinder und Jugendlicher bei vorläufigen Schutzmaßnahmen (Inobhutnahme, § 42, SGB VIII). Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 43, 357 - 364 Rücker, S., Büttner, P., Karpinski, N., Petermann, F., Fegert, J. M. (2018): Geschlechtsspezifische Unterschiede im Belastungsausmaß bei in Obhut genommenen Kindern und Jugendlichen (§ 42, SGB VIII). Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 67, 49 - 63 Rücker, S., Büttner, P., Lambertz, B., Karpinski, N., Petermann, F. (2017): Resilient oder Risikogruppe? Psychische Belastungen bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern (umA) in Deutschland. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 66, 242 - 258 Rücker, S., Petermann, F. (2019): Auswirkungen von Inobhutnahme. In: Volbert, R., Huber, A., Jacob, A., Kannegießer, A. (Hrsg.): Empirische Grundlagen der familienrechtlichen Begutachtung. Hogrefe, Göttingen, 320 - 332 Statistisches Bundesamt (2022): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Vorläufige Schutzmaßnahmen. Selbstverlag, Wiesbaden projekt trägt damit bedeutsam zur empirischen Trilogie der Forschungsgruppe PETRA bei, in die Kinder, Eltern und Professionen im Rahmen empirischer Untersuchungen mit dem Ziel der Qualitätssicherung eingebunden sind. Dr. Stefan Rücker Forschungsgruppe PETRA Bürgermeister-Spitta-Allee 3 a 28329 Bremen E-Mail: s.ruecker@projekt-petra.de Internet: www.drstefanruecker.de
