eJournals unsere jugend 75/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Der Pokal – Eine ganz besondere und nicht mehr häufig gesprochene Sprache der Erlebnispädagogik

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2023
Daniel Hahn
Daniel Mastalerz
Daniel Bugert
Die Methode der Erlebnispädagogik ist aus dem pädagogischen Kontext, insbesondere der Erziehungshilfe, nicht mehr wegzudenken. In den frühen 90er-Jahren entwickelte sich auch in Deutschland eine große Begeisterung für natursportliche, handlungsorientierte und erlebnispädagogische Projekte. Beginnend im maritimen und alpinen Raum, im Norden durch die Segelpädagogik, in Süddeutschland durch die von Kurt Hahn begründeten Kurzschulen Outward Bound, überzeugten sich immer mehr PädagogInnen von der Wirksamkeit einer Erziehung mit Kopf, Herz und Hand in der Natur. Der von Pestalozzi Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte Leitsatz wurde durch die Idee von Kurt Hahn weiterentwickelt und es verbreitete sich eine neue pädagogische Idee, die der Erlebnispädagogik.
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207 unsere jugend, 75. Jg., S. 207 - 219 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art28d © Ernst Reinhardt Verlag von Daniel Hahn Stellvertretender Direktor im Erzbischöflichen Kinderheim Haus Nazareth in Sigmaringen. Seine Aufgabe ist es, die Einrichtung mit all ihren differenzierten Angebotsformen weiterzuentwickeln und den Bedarfen der Zeit anzupassen. Der Pokal - Eine ganz besondere und nicht mehr häufig gesprochene Sprache der Erlebnispädagogik Nach dem Vorbild der Erlebnistherapie nach Kurt Hahn wirkt der Pokal auf allen Ebenen der Emotionen Die Methode der Erlebnispädagogik ist aus dem pädagogischen Kontext, insbesondere der Erziehungshilfe, nicht mehr wegzudenken. In den frühen 90er-Jahren entwickelte sich auch in Deutschland eine große Begeisterung für natursportliche, handlungsorientierte und erlebnispädagogische Projekte. Beginnend im maritimen und alpinen Raum, im Norden durch die Segelpädagogik, in Süddeutschland durch die von Kurt Hahn begründeten Kurzschulen Outward Bound, überzeugten sich immer mehr PädagogInnen von der Wirksamkeit einer Erziehung mit Kopf, Herz und Hand in der Natur. Der von Pestalozzi Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte Leitsatz wurde durch die Idee von Kurt Hahn weiterentwickelt und es verbreitete sich eine neue pädagogische Idee, die der Erlebnispädagogik. Aus vielerlei Gründen entwickelte sich ein nahezu babylonisch-erlebnispädagogisches Gewirr, bedingt durch verschiedenste Landschaften, pädagogische Notwendigkeiten, finanzielle Möglichkeiten und natürlich die unterschiedliche Klientel. Es erscheint sehr einsichtig, dass sich in einer Jugendhilfeeinrichtung, die im Allgäu beheimatet ist, eine völlig andere erlebnispädagogische Konzeption entwickelt als in einem Eliteinternat auf Rügen oder einer Grundschule mitten in Berlin. Somit entstanden und entstehen weiterhin viele unterschiedliche Sprachen der Erlebnispädagogik, von denen einige näher, andere weiter vom ursprünglichen Sprachstamm zu verordnen sind. Daniel Bugert Konrektor an der Wichernschule in Fellbach, einem SBBZ mit dem Förderschwerpunkt Lernen und dort vor allem in den Bereichen der Sport- und Erlebnispädagogik sowie der klassenübergreifenden Ganztagesangebote tätig. Daniel Mastalerz Stellvertretender Einrichtungsleiter im Jugendhilfezentrum Raphaelshaus in Dormagen. Für den Bundesverband BVKE entwickelte er eine berufsbegleitende Weiterbildung zum Erlebnispädagogen bzw. zur -pädagogin und gemeinsam mit weiteren Einrichtungen u. a. den Kurt-Hahn-Pokal sowie dieTour de Jugendhilfe, auch um ein deutschlandweites Netzwerk für Jugendhilfe und Erlebnispädagogik zu fördern. 208 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt Zu einer sicherlich sehr prägnanten Sprache der Erlebnispädagogik, um bei dem Bild zu bleiben, hat sich der Pokal, vielen auch als Kurt- Hahn-Pokal bekannt, entwickelt. Alljährlich reisen über Christi Himmelfahrt bundesweit bis zu 30 Teams zu dem inzwischen legendären erlebnispädagogischen Projekt an, das wiederum in den verschiedensten Formen kopiert und weiterentwickelt wird. Mit dem Pokal hat sich in den vergangenen 28 Jahren eine besondere Sprache der Erlebnispädagogik entwickelt. Eine Sprache, die teilnehmende Kinder, Jugendliche und PädagogInnen fast immer fasziniert und begeistert, Außenstehende häufig erstaunt und zuweilen zu kritischen Nachfragen führt. In einem fingierten Gespräch zwischen den Verantwortlichen des Pokals und dem interessierten Kollegen „Critica Quaestio“ wird vieles von den Hintergründen sowie der Faszination des Pokals deutlich. Critica Quaestio: Der Pokal als eine erlebnis- und naturpädagogisch orientierte Wettkampfveranstaltung wird in der Überschrift als eine besondere Sprache der Erlebnispädagogik bezeichnet, was es zu beweisen gilt. Was ist die grundsätzliche Idee? Daniel Mastalerz: Eigentlich ist es eine kopierte Idee - von der Zigarettenindustrie. Vor dem Werbeverbot für Tabakwaren wurde zunächst die Marke „Camel“ mit der Camel Trophy und anschließend „Marlboro“ mit dem Marlboro Cup beworben. In beiden Fällen wurden Teams zu je vier Personen, soweit ich mich erinnern kann, ausschließlich Männer, irgendwo in der Wildnis ausgesetzt, um gemeinsam eine abenteuerliche Strecke zu bewältigen und als Sieger einen Pokal überreicht zu bekommen. Die Bilder waren notwendigerweise großartig und garantierten den TeilnehmerInnen (und den RaucherInnen) ein besonderes Abenteuer. Letztlich ist die Grundidee des Pokals identisch. Teams, bestehend aus vier Kindern und Jugendlichen, die von einem oder maximal zwei PädagogInnen begleitet werden, müssen gemeinsam innerhalb von fünf Pokaltagen viele anstrengende und anspruchsvolle Aufgaben bewältigen. Dabei handelt es sich im Gros um natursportliche Wettkämpfe garniert mit Aufgaben, die eine hervorragende Kooperation im Team notwendig machen. Die Wettkämpfe finden in den unterschiedlichsten Disziplinen statt, als Wassersport im Segeln, Kanufahren, Surfen, Wakeboarding, Stand-up-Paddling oder Schnorcheln, in alpinen Wettkämpfen, beim Sportklettern, Bouldern, Klettersteigbegehungen oder Höhlenbefahrungen. Es gibt abenteuerliche Langstreckenwanderungen, Mountainbike- Touren oder sehr komplexe Konstruktionsaufgaben. Den Abschluss bildet alljährlich eine sportlich herausfordernde Triathlon- oder Biathlonveranstaltung. Die Wettkämpfe sind dabei absolut leistungsorientiert und die Tage entsprechend lang und anstrengend. Die sehr ambitionierten Wettkämpfe werden in ein märchenhaftes Ambiente gekleidet, in das die Kinder und Jugendlichen abtauchen können. Den Abschluss bildet eine Siegerehrung, bei der Sieg und Niederlage als solche gewürdigt und gefeiert werden. Critica Quaestio: Erlebnispädagogik stellt sich für Betrachtende sehr breit dar. Nahezu jedes handlungsorientierte Projekt oder jegliche natursportliche Aktivität wird mit der Begrifflichkeit „Erlebnispädagogik“ beworben. Auch der Pokal nimmt für sich in Anspruch, mit erlebnispädagogischen Inhalten zu arbeiten. Tut er das und wo liegen die Wurzeln der Veranstaltung? Daniel Hahn: Zuweilen wird die Definition, wann ein Projekt erlebnispädagogisch wirkt, inflationär genutzt. Die Beurteilung, wann ein Projekt zum erlebnispädagogischen Projekt wird, ist je nach Setting und Gruppe unterschiedlich und liegt oft im Auge der Betrach- 209 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt tenden. Wir sind der Überzeugung, dass Erlebnispädagogik mehr ist, als eine Gruppe durch ein Spinnennetz auf dem Parkplatz hinter dem Seminarraum zu schieben. Erlebnispädagogische Projekte wie der Pokal tangieren Emotionen auf allen Ebenen des Erlebens und ermöglichen wirkliches und nachhaltiges Lernen durch wahrhaftiges Erleben und Durchleben. Das Konzept, auf dem der Pokal fußt und durchdrungen ist, basiert auf der von Kurt Hahn entwickelten Erlebnistherapie. Kurt Hahn begründete 1920 die Internatsschule Schloss Salem. Sein fester Wunsch und Wille war es, die von ihm formulierten Verfallserscheinungen der Gesellschaft durch ein ganzheitliches, pädagogisch-handlungsorientiertes Konzept aufzuhalten bzw. ihnen entgegenzuwirken. Auch wenn die Formulierungen der sog. Verfallserscheinungen in der heutigen Zeit als schwerfällig oder aus der Zeit gefallen anmuten, haben sie an Relevanz und Aktualität nicht verloren: Der Verfall der menschlichen Anteilnahme Er bemängelte, dass infolge von Stress und des modernen Lebens eine Oberflächlichkeit entstehe, die den Menschen gleichgültig werden lasse. Diese Schnelllebigkeit der modernen Gesellschaft führt zu einer Anonymität, die es erlaubt, nicht hinzusehen, was gleichbedeutend mit dem Verlust der persönlichen Verantwortung ist. Der Verfall der Sorgsamkeit Der zunehmende Verlust an Konzentration, Ausdauer und Kreativität geht einher mit dem Verlust des praktischen handwerklichen Könnens („Seuche und Schlamperei“). Im Gegensatz zum Handwerk steht die Massenproduktion, welche eine Wegwerfmentalität erzeugt (Zwang, möglichst schnell alte durch neue Produkte zu ersetzen). Der Verfall der Initiative Diese steht in engem Zusammenhang mit dem Verfall der körperlichen Tauglichkeit. Durch die mangelnde Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, wird das Handlungs- und Erlebnisfeld gravierend beschnitten. Der Mensch wird zum Zuschauenden, der passiv am Geschehen teilnimmt. Der Verfall der körperlichen Tauglichkeit Die Vernachlässigung der körperlichen Tüchtigkeit führt dazu, dass die Kräfte der Selbstüberwindung verkümmern. Gründe hierfür sind die moderne Fortbewegung und die ungebührliche HeldInnenverehrung für SportlerInnen, wodurch die weniger Begabten nur daran gehindert würden, sich nach eigenen Kräften anzustrengen und zu entfalten. Um diesen hier beschriebenen Verfallserscheinungen entgegenzutreten, beschrieb Kurt Hahn vier Elemente, die die Grundlage des Inhaltes für den Pokal bilden: 1. Das körperliche Training Es soll den Kindern und Jugendlichen helfen, ein Gefühl für den eigenen Körper zu entwickeln. Darüber hinaus soll es Kondition, Mut, Vitalität und Überwindungskraft steigern. Vor allem soll es der Willensstärkung dienen. 2. Das Projekt Zum Projekt gehören technische, handwerkliche und geistige Aufgaben, die besondere Geduld erfordern, die notwendig ist, wenn man sorgsam arbeiten möchte. Es verlangt von den Kindern und Jugendlichen zudem Durchhaltevermögen, handwerkliches Geschick, Voraussicht, geistige Auseinandersetzung und Selbstständigkeit. 3. Die Expedition Sie ist als Ergänzung zum körperlichen Training gedacht. Es geht auch hierbei um die Selbstüberwindung und um die persönliche Initiative, ohne die eine Expedition gar nicht erst organisiert werden kann. Ziele dieser Aktivitäten sind Sorgsamkeit, Umsicht bei der Planung, Entschlusskraft, Durchhaltevermögen und Nervenkraft. 210 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt 4. Der Dienst am Nächsten Das wichtigste Erziehungsziel war für Kurt Hahn der Dienst am Nächsten. Die Kinder sollen sich für andere einsetzen. Ziel ist es, Hilfsbereitschaft, Erbarmen und menschliche Anteilnahme zu wecken und zu stärken. Das Gefühl, gebraucht zu werden und zum Gemeinwohl beizutragen, setzt ungeahnte Kräfte frei. Die Inhalte der vier Elemente werden dann durch die sog. Salemer Gesetze überprüft und dienen als Handlungskompass: ➤ Gebt den Kindern Gelegenheit, sich selbst zu entdecken. ➤ Lasst die Kinder Triumph und Niederlage erleben. ➤ Gebt den Kindern Gelegenheit zur Selbsthingabe an die gemeinsame Sache. ➤ Sorgt für Zeiten der Stille. ➤ Übt die Fantasie. ➤ Lasst Wettkämpfe eine wichtige, aber keine vorherrschende Rolle spielen. Dieses Konzept bildet die Grundlage unseres Handelns im und um den Pokal. Wir sind der Überzeugung, dass die Inhalte in der Lage sind, die Ideen und pädagogische Ansätze der Vordenker und Begründer der Erlebnispädagogik zu verbinden, und sich hierdurch eine allgemeingültige Definition ergeben kann, wann ein Projekt als erlebnispädagogisch wirksam bezeichnet werden kann. Critica Quaestio: Kurt Hahn ist somit Spiritus Rector eines pädagogischen Projektes aus dem Jahr 2023. Das darf, wenn man Aussagen des Reformpädagogen Hahn liest, doch erstaunen. Ist es noch zeitgemäß, von „Verfallserscheinungen“ zu sprechen oder Kinder und Jugendliche mit natürlichen Ernstsituationen zu konfrontieren? Daniel Hahn: Wenn wir ehrlich sind, könnten die von Hahn formulierten Verfallserscheinungen und auch die daraus abgeleiteten Salemer Gesetze und Handlungsleitlinien aktueller nicht sein. Der industrielle Fortschritt, die künstliche Intelligenz oder die mannigfaltigen Mobilitäts- und Vernetzungsmöglichkeiten sowohl im wirklichen realen Leben als auch im virtuellen Raum, sorgen nicht unbedingt dafür, dass wir unsere Persönlichkeit und unsere Identität leichter entwickeln können. Klarheit, Sicherheit und Rahmung werden durch scheinbar grenzenlose Möglichkeiten verwässert und Orientierungslosigkeit ist die Folge. Wir brauchen umso mehr Situationen, die Möglichkeiten schaffen, sich selbst unmittelbar und direkt zu erleben. Somit ist die oben gestellte Frage, ob die Aussagen Hahns noch zeitgemäß sind, mit einem uneingeschränkten Ja zu beantworten. Oftmals kann ich mich dem Gedanken nicht entziehen, dass es nicht immer zielführend ist, die Sprache vergangener Zeiten nur deshalb zu verändern, weil die Formulierungen aus der Zeit gefallen scheinen. Vielmehr sollten wir uns intensiv mit den Inhalten beschäftigen, um die wertvollen Worte (falls nötig) ins „Neudeutsch“ zu übersetzen und dabei den Inhalt nicht zu gefährden. Critica Quaestio: Wo konkret findet sich bei dem Pokal die pädagogische Idee von Kurt Hahn? Daniel Hahn: Ich würde die pädagogische Idee von Kurt Hahn als eine fast vergessene Sprache der Erlebnispädagogik bezeichnen wollen. Wenn ich nun gefragt würde, was diese Sprache ist und wie sie gesprochen wird, würde ich sie folgendermaßen beschreiben: Zuallererst muss das Bild, das Kurt Hahn meines Erachtens auf den Menschen hat, beschrieben werden, um daran alle weiteren Aspekte aufzeigen zu können. Hahns Bild auf den Menschen war von der Gewissheit und dem Glauben geprägt, dass mehr in jedem Einzelnen steckt, als man selbst glaubt. Er macht nicht den Menschen an sich für die Schwachheit und Fehlbarkeit verantwortlich, sondern vielmehr die 211 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt äußeren Einflussfaktoren, die dazu verleiten, sich durch fehlende Selbsterfahrung seiner Kräfte nicht mehr gewahr zu sein. Ganz besonders warf er seinen Blick auf diejenigen jungen Menschen mit Privilegien, die nicht sie selbst sich erarbeitet hatten, sondern die durch den Umstand ihrer Geburt in eine gut situierte Familie automatisch gegeben waren. Er sah bei diesem Personenkreis eine große Gefahr, dass die Verfallserscheinungen, die durch den Reichtum begünstigt wurden, dazu führen, sich in der Gesellschaft nicht mehr für das Gemeinwohl engagieren zu können, weil die Verantwortung und Anstrengungsbereitschaft nicht zu den erlernten Verhaltensweisen gehören. Unsere Kinder aus der Jugendhilfe standen nie auf der Sonnenseite des Lebens. Sie sind aber leider nicht resilienter für alle Verfallserscheinungen, die von außen auf sie einprasseln, als der oben beschriebene Personenkreis. Sie sind sich ihrer Kräfte deshalb nicht gewahr, weil sie in ihrem bisherigen Leben nur selten Menschen erleben durften, die an sie glaubten oder Vorbilder waren. Deshalb haben viele unserer Kinder und Jugendlichen noch nie an sich selbst geglaubt oder durch Schicksalsschläge und Erniedrigungen aufgehört, sich ihrer Kräfte und Fähigkeiten gewahr zu sein. Warum diese Sprache unserer Ansicht nach eine fast vergessene ist, liegt in der Tatsache verborgen, dass sie keine bequeme Sprache ist und nur wenig damit zu tun hat, nur Spaß, Freude und Glück zu empfinden. Vielmehr müssen sich diese Emotionen durch Disziplin, Anstrengung und die Hingebung zur gemeinsamen Sache erworben bzw. verdient werden. Der Pokal wird nicht zuletzt deshalb immer wieder kontrovers diskutiert, weil er ganz bewusst sowohl von den TeilnehmerInnen als auch von den PädagogInnen Anstrengungsbereitschaft, Disziplin und Hingabe fordert. Dies vor allem deshalb, weil wir über mehrere Jahrzehnte erleben durften, dass viel mehr in jedem Einzelnen steckt, was zuweilen aber nur noch selten abgerufen wird, weil es nicht mehr viele Erfahrungsräume gibt, in denen diese Fähigkeiten von Relevanz sind. Auf dem Pokal werden diese fast vergessenen Fähigkeiten unter „Schmerz“ und großer „Freude“ erfahrbar. Hahn prägte den Satz: „Wer viel von der Jugend fordert, gewinnt sie“. Hiervon sind wir überzeugt. Critica Quaestio: Zuweilen hat man den Eindruck, dass Erziehungshilfe alles leisten muss, jetzt auch politische Bildung? Ist das nicht bisschen viel des Anspruchs? Daniel Bugert: Erziehungshilfe hat ja nicht nur den Auftrag, über die aktuellen Hürden des Alltags zu helfen, sondern auch aus den ihr anvertrauten Kindern und Jugendlichen mündige BürgerInnen zu machen, die in unserer demokratischen Gesellschaft Orientierung finden. Dieser Auftrag findet kleineren Bezug in den ausgewählten Titeln und Themen der Veranstaltungen, die immer wieder Anlass zu Gesprächen über das aktuelle politische Geschehen bieten können, größeren Bezug im wertschätzenden Miteinander der verschiedenen Menschen und Kulturen im Lager und Wettkampf und gipfelt im emotionalen Abspielen der Europahymne zum Abschluss der Siegerehrung. Diese Hymne, die die europäischen Werte Freiheit, Frieden und Solidarität ohne Worte transportiert, soll ganz bewusst Emotionen für den europäischen Gedanken wecken. Emotionen prägen sich ein - viel stärker als Wissen; Emotionen für eine Idee wie Europa schützen - schützen vor den trommelnden nationalistischen RattenfängerInnen, die angetreten sind, die Jugend (und nicht nur diese) mit einfachen Lösungen und Antworten zu verführen. Wir sind überzeugt, dass es der Gedanke einer grenzüberschreitenden Solidarität und Menschlichkeit, der Respekt vor dem Anderssein - nicht nur bezogen auf Europa - ist, der Faschismus und Kriege in der Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen verhindern kann. 212 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt Wir sind weiterhin davon überzeugt, die erlebte Solidarität in der Pokalgemeinschaft, die trotz unterschiedlicher Platzierungen und damit verbundenen Enttäuschungen und Freuden ganz besonders in der Siegerehrung erlebbar wird, mit der Emotionalität der Europahymne abrunden zu können und damit den Mädchen, Jungen und auch uns Erwachsenen ein Erlebnis mitgeben zu können, das gerade in der heutigen Zeit Stabilität und Halt im Alltag geben kann. Daniel Mastalerz: Meines Erachtens gilt die oben beschriebene Verpflichtung, aus Kindern und Jugendlichen mündige BürgerInnen zu machen, im besonderen Maße für die Erlebnispädagogik. Kurt Hahn war immer Pädagoge und Politiker. Als enger Vertrauter von Max von Baden, dem letzten Reichskanzler, verfolgte er mit der Schulgründung von Schloss Salem primär politische Absichten. Für Hahn mussten alle BürgerInnen über die öffentlichen Tugenden der Zivilcourage, Gerechtigkeit und Solidarität verfügen, Erziehung hatte für Hahn immer viel mit politischem Engagement zu tun. Somit haben wir auch als Erlebnispädagogen den unbedingten Auftrag der politischen Bildung. Critica Quaestio: Bleiben wir bei den eher außerhalb des physischen Sports angesiedelten Elementen des Pokals - dieser hat sich in den vergangenen zwölf Jahren verändert. Der erste Kurt-Hahn-Pokal, der im Jahr 2009 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des BVkE in Limburg stattfand, war ausschließlich ein natursportlicher, recht leistungsorientierter Wettkampf. In den vergangenen Jahren wurde wesentlich mehr Wert auf eine thematische Einbettung und intensive Bilder gelegt. Ist das ein Zufall? Daniel Bugert: Nein, eindeutig nicht. Der Pokal hat, wie schon beschrieben, eine Vergangenheit und blickt mit seinen Vorgängerveranstaltungen auf eine fast 30-jährige Geschichte. Neben den rein (natur-)sportlich wirksamen Methoden haben sich auch solche etabliert, die diesen Wettkampf einrahmen. Zu Beginn war es nur das Thema und vielleicht die ein oder andere Augenklappe als Kostüm, dann fanden sich Elemente des Themas als Geschichte in einzelnen Aufgaben wieder; Silbergeschirr, das in Burgruinen gesammelt werden musste. Das gipfelte darin, dass die komplette Veranstaltung vom Ende gedacht wurde, von der Errichtung einer Kathedrale, der Rückkehr vom Mars auf die Erde. Das war ein Versuch, der sich aus den Erfahrungen speiste, dass wir Kinder und Jugendliche in fantastische oder Fantasiewelten entführen konnten, sie erlebten, wie sie einen Teil der Schwere des Alltags ablegen durften und sich in diesen Welten zurechtfanden. Sie begannen, die Erfüllung der Aufgabe zu der ihren zu machen. Zudem konnten wir mit den Geschichten und den sich daraus ergebenden Bildern eine Vielzahl von zusätzlichen Kindern ansprechen, die über den rein natursportlichen Wettkampf keine innere Motivation empfanden. Mittlerweile lebt die Geschichte in der Ausgestaltung des Lagers, in der thematischen Einbettung in einzelne Aufgaben, in einem den Wettkampf begleitenden Spiel sowie in allabendlichen Theateraufführungen, in denen die Geschehnisse des Tages spontan verarbeitet und in thematischen Zusammenhang zur Geschichte gebracht werden. Den Schlusspunkt setzt ein Finale am Samstagabend, das, losgelöst vom Wettkampf, das Ende der Geschichte darstellt und zu dessen Gelingen alle Teams gemeinsam beigetragen haben, indem sie beispielsweise alle englischen Häfen in der Karibik durchsucht und ihren Kapitän befreit haben. Critica Quaestio: Aber weshalb sollte dies eine pädagogische Wirkung haben oder gar mit EP kombinierbar sein? Daniel Bugert: Erlebnispädagogik ist die pädagogische Arbeit mit Erlebnissen - meistens im Zusammenhang mit Natur bzw. Natursport und Gruppe. Diese Erlebnisse sind nicht nur subjektiv individuell, sie sind ebenfalls nicht kognitiv vermittelbar, sondern nur emotional 213 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt erfahrbar. Auch Bilder und Geschichten wecken Emotionen. Warum also nicht beides kombinieren? In dieser Kombination entsteht eine Gemengelage, in der man einmal über sich hinauswächst, weil man der Heldin in der Geschichte nacheifert und plötzlich merkt, zu was man selbst in der Lage ist. Bei anderer Gelegenheit werden Erlebnisse des Tages in der abendlichen Inszenierung der Geschichte wieder wachgerufen und Erlebtes dadurch ein weiteres Mal emotional reflektiert. Diese Inszenierung von Geschichten ist nicht belehrend, sie ist, so denken wir, belebend - Erlebnisse werden lebendig, weil die Bilder, die in der Geschichte auftauchen, mit den eigenen Emotionen in Einklang gebracht werden können. Weil diese Geschichten den Kindern Rahmen geben, in denen Emotionen viel eher zugelassen werden als in der Realität. Die pädagogische Kunst ist natürlich, dies dann in die alltägliche Realität zu transportieren und zu übersetzen. Critica Quaestio: Der Pokal ist alljährlich in Rahmenhandlungen eingebettet. Geschieht dies nur, damit die für euch notwendigen emotionalen Bilder gegeben sind oder gibt es weitere Gründe? Daniel Bugert: Das ist sicherlich einer der Hauptgründe. Ganz abseits jeglicher pädagogischen Gedanken leben wir, leben alle, die uns helfen, diese Veranstaltung auf die Beine zu stellen und zu dem zu machen, was sie ist, in diesen Bildern. Sie sind somit nicht nur Vehikel des Transports pädagogischer Intension, sondern auch ganz klar Mittel zum Zweck, uns selbst mitzureißen, uns selbst zu motivieren. Sie helfen uns schon in der Ausgestaltung der kommenden Veranstaltung im mitunter grauen und hektischen Berufsalltag und geben uns in diesen gedanklichen Fluchten aus der aktuellen organisatorischen und pädagogischen Realität, in der Vorfreude auf das Kommende Kraft, eben jenen aktuellen Anforderungen wieder gerecht zu werden. Neben diesen Hauptgründen gibt es zahlreiche weitere, die wiederum pädagogisch begründet sind. Erwähnt seien hier vor allem die Unterscheidung und Positionierung von Gut und Böse; die Ideale, die unsere HeldInnen verkörpern und ihre Eigenschaften wie Ritterlichkeit, Edelmut und Tapferkeit; der Wert der Gemeinschaft und die Wichtigkeit jedes Einzelnen unabhängig seiner Herkunft in dieser Gemeinschaft, der allen ausgewählten Geschichten immanent ist, sowie scheinbar ganz banal, die Geschichte als Motivation auch für jüngere Kinder, sich den physischen Herausforderungen zu stellen. Darüber hinaus ließe sich noch die Berücksichtigung eines literarischen Bildungsauftrages auflisten, wohlwissend, dass dieser eher durch Filme denn durch Bücher erfüllt wird. Critica Quaestio: Wie in der Antwort auf vorherige Frage herausklang; vom Pokal sind die sehr leistungsorientierten sportlichen Anforderungen bekannt, die teilnehmenden Mädchen und Jungen erleben gewollt ihre körperlichen Grenzen und gehen teilweise über diese hinaus. Wie stellt sich das Zusammenspiel von emotionalen Bildern und berührenden Situationen mit einer, entschuldigt bitte die Formulierung, sehr fordernden und somit rauen Pädagogik dar? Wie soll ein märchenhaftes Ambiente mit erlebnispädagogischen Momenten funktionieren? Daniel Bugert: Ich fange mal am Ende der Frage mit meiner Antwort an: Warum sollte Erlebnispädagogik nicht auch märchenhaft sein? Die Inszenierung von Erlebnissen, und nichts anderes bezweckt das Märchenhafte, ist schon seit Kurt Hahn integraler Bestandteil von Erlebnispädagogik - weg vom Rationalen, hin zum Emotionalen, nicht vermitteln, sondern erfahren, wo lässt sich das besser abbilden als in Geschichten? Was heißt rau? Rau ist nicht glatt, ist uneben! Ja genau, so sollen unsere Pädagogik und auch unsere Geschichten sein - denn so ist das Leben, das wir spiegeln, das wir vermitteln wollen. Kinder und Jugendliche stärken sich, 214 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt indem sie ihre Grenzen austesten, ihre Grenzen erweitern. Sie werden im Heranwachsen ihre Grenzen austesten - wir versuchen, ihnen einen Rahmen zu geben, in dem sie das tun können, ohne gegen gesellschaftliche Normen zu verstoßen, einen Rahmen, in dem sie für das Ausreizen der Grenzen sogar Wertschätzung der Erwachsenenwelt bekommen. Und das geht in unseren Augen nur, wenn die Herausforderungen, auch körperlich, so gewählt sind, dass sie wirklich an Grenzen bringen. Und ja - auch uns! Sonst wäre es, wie man so schön sagt, not real! Critica Quaestio: Ein anderes Thema; neben den emotionalen Bildern, die für erlebnispädagogische Projekte eher ungewöhnlich erscheinen, spielt beim Pokal der Wettkampf eine herausragende Rolle. Ist das Konzept des Pokals, möglichst viele unterschiedliche Emotionen zu erleben und viel interessanter, passt der Wettkampf in ein erlebnispädagogisches Setting? Daniel Mastalerz: Tatsächlich glaube ich, dass ein Wechselbad unterschiedlicher Emotionen die stärkste Wirkung erzielt. Gegensätze wirken, sei es der Sprung in das eiskalte Becken nach dem Saunaaufguss oder das Fasten nach der ausschweifenden Karnevalszeit, welche wiederum durch ein opulentes Ostermahl abgelöst wird. Das ist jedoch nicht der eigentliche Grund, weshalb wir den Wettbewerb als Mittel nutzen, sondern die Tatsache, dass der Wettkampf als pädagogische Methode ein großartiges Lernfeld ist, welches zudem die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen zu unfassbaren Leistungen motiviert. Critica Quaestio: Da gibt es doch sicher auch Vorbehalte, zumindest in der Fachliteratur ist der Wettbewerb in der Erlebnispädagogik bzw. in der Pädagogik grundsätzlich sehr umstritten. Vor einiger Zeit wurde im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ sogar die Forderung von Elternverbänden beschrieben, die Bundesjugendspiele abzuschaffen. Daniel Mastalerz: Das ist tatsächlich wahr, und es war mitnichten die Ausgabe zum 1. April. Für mich ist dies eine völlig lebensferne Forderung, da, ob wir es gutheißen oder nicht, der gesamte Schulalltag mit seiner Benotung eine Form des Wettbewerbs ist. Die in dem Artikel formulierte Gefahr einer „Traumatisierung“ der Jungen und Mädchen bei Niederlagen erscheint mir durchaus im Trend der Zeit, was meines Erachtens das eigentliche Problem ist. Die Erlebnispädagogik arbeitet mit Erleben und Emotionen, deshalb führen wir die Kinder in die Natur und begehen mit Jugendlichen für sie unbekannte Grenzen. Warum soll es verwerflich sein, die Emotionen von Sieg und Niederlage zu nutzen? Wettbewerb ist völlig natürlich und findet immer statt. Es ist die Negation des Wettkampfs, die konstruiert und unnatürlich erscheint. Schon die Kleinsten vergleichen sich beim Spiel im Kindergarten und lernen durch die gemachten Erfahrungen. Warum belassen wir es nicht bei der kindlichen Freude am archaischen Spiel? Wettbewerb bedeutet Leidenschaft, bedeutet Gefühl, im Feuer des Gefechts den Kopf ausschalten und dennoch Leistung erbringen. Diese affektiven Erfahrungen bringen Lernmomente mit sich, die nicht unbedingt nur vom Kopf, sondern auch vom Körper internalisiert werden. Es darf nicht sein, dass in die Erlebnispädagogik eine Methode, die Emotionen, Naturgewalten und Grenzgänge nutzt, ein gesellschaftlicher Zeitgeist einzieht, unter dem unsere Kinder und Jugendlichen leiden, weil sie keine reellen Abenteuer mehr erleben dürfen, keine wirkliche Verantwortung übertragen bekommen, sich nicht messen können und nicht Sieg und Niederlage erleben dürfen. Critica Quaestio: Das liest sich nach einem grundsätzlichen Statement. Ist es das, was den Pokal ausmacht? Daniel Mastalerz: Es ist wahrscheinlich tatsächlich eine der wichtigsten Komponenten. Die Erlebnispädagogik arbeitet mit dem Erlebnis und ich bin sehr davon überzeugt, dass dieses 215 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt nicht intensiv genug sein kann. Das macht den Pokal aus, dass wir nicht dem gesellschaftlichen Trend nach einem „Erlebnis light“ folgen. Zudem, und dies möchte ich dem Thema Wettbewerb noch hinzufügen, findet dieser in einer sehr kind- und jugendgerechten Form statt - so gibt es unterschiedliche Wertungsklassen, damit auch leistungsschwächere Teams Chancen haben, und es werden die verschiedensten Leistungen prämiert und neben dem eigentlichen Kurt-Hahn-Pokal gelten der Fairness- und Kämpferpokal als die wichtigsten Auszeichnungen. Critica Quaestio: Eines der wichtigsten Argumente gegen den Wettbewerb ist die Sicherheit. KritikerInnen geben zu bedenken, dass die hohe Leistungsorientierung bzw. der Wettkampfdruck zu einer erhöhten Anzahl an Unfällen führt, gerade bei natursportlichen Aktivitäten. Daniel Mastalerz: Dies ist eindeutig nicht richtig. In den vergangenen 28 Jahren gab es weit über 30 trophyähnliche Veranstaltungen mit ca. 2.200 Kindern und Jugendlichen. Multipliziert man dies mit den Veranstaltungstagen, so kommt man auf über 12.000 Tage ohne einen schwerwiegenden Unfall. Sicherlich gibt es natursportliche Aktivitäten, die grundsätzlich ein höheres Gefahrenpotenzial aufweisen als andere, insbesondere dann, wenn Kinder und Jugendliche ohne ein durchdachtes Regelwerk in den Wettkampf gehen, etwa bei Radaktivitäten, aber da spielt uns die jahrzehntelange Erfahrung in die Karten. Da wir die einzelnen Wettkämpfe kindgerecht konzipieren, können wir mit den unterschiedlichsten Kniffen das Risiko minimieren. Ich behaupte sogar, dass die Vermischung von natursportlichen Aktivitäten und einem geschickt konzipierten Wettkampf ein Plus an Sicherheit bietet. Natursport bietet fraglos einen hohen Erlebniswert, der Suchtcharakter entwickeln kann, sich jedoch verbraucht. Irgendwann ist die „normale“ Rad- oder Kanutour langweilig, somit besteht die Gefahr, dass für Mountainbike-Strecken noch steilere Hänge genutzt werden und die Kanutouren durch immer gefährlicheres Wildwasser führen, um eine Steigerung des „Kicks“ zu erfahren. Hier bietet der Wettkampf ein sicheres Regulativ, das Feuer des Wettbewerbs bietet Heranwachsenden eine ungeheuer hohe Motivation, sodass eine Steigerung der Intensität, die meist mit einem höheren Gefahrenpotenzial einhergeht, verhindert wird. Zudem bietet der organisierte Wettkampf naturgemäß den Vorteil eines Regelwerks. Junge Menschen müssen klug an das Risiko herangeführt werden, hierbei unterstützt ein von außen herangetragenes Regelwerk ungemein. Bei den Wettkämpfen während des Pokals werden alle Aspekte der jeweiligen Aktivitäten auf eventuelle Risikofaktoren überprüft und, wenn notwendig, die Planung verändert. Die Verantwortlichen der jeweiligen Wettkämpfe sind durch die entsprechenden Naturfachsportverbände ausgebildet und haben viele Jahre Erfahrung im Ausrichten der Wettkämpfe. Zudem werden die einzelnen Teams immer von den pädagogischen BetreuerInnen (Schutzengel) begleitet, die häufig eine erlebnispädagogische Ausbildung haben oder durch die VeranstalterInnen gut vorbereitet sind. Critica Quaestio: Trotz der dargestellten Fakten gibt es doch immer ein Restrisiko, ist das in der Pädagogik zulässig? Daniel Mastalerz: Das wiederum ist eindeutig richtig, natürlich gibt es ein Restrisiko und dies ist ein wichtiger Bestandteil des Lebens. Zu behaupten, ein Restrisiko sei auszuschließen, birgt noch eine viel größere Gefahr. Als Erwachsene ist es unsere Aufgabe, Kinder und Jugendliche an Gefahren heranzuführen, diese gemeinsam zu bewerten und idealerweise souverän zu bewältigen. Die Verantwortung, die wir als PädagogInnen für unsere Kinder und Jugendlichen haben, darf nicht bedeuten, dass wir aus Angst vor eventuellen Konsequenzen 216 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt jegliches Risiko und jegliche Gefahr ausschließen. Die Erziehung von Kindern und Jugendlichen braucht auch den Mut, Gefahren einzugehen. Andernfalls erziehen wir Mädchen und Jungen zu Menschen, die in einer grundsätzlich gefährlichen Umwelt scheitern werden. Eine Pädagogik ohne die Bereitschaft, gemeinsam mit den Jugendlichen auch Gefahren zu bewältigen, ist nicht mehr als das Verwalten von Kindern. Critica Quaestio: Der Pokal, so hat man den Eindruck, hat fast die gesamte Republik bereist. Es gab Veranstaltungen im Donautal, weit im Süden, mit dem Harz wurde der Osten bereist, in diesem Jahr seid ihr in der Eifel, also weit im Westen Deutschlands und auch im Norden wurde der Kurt-Hahn-Pokal schon organisiert. Was ist die Idee dabei? Wäre es unter dem Gesichtspunkt einer unnötigen Verschwendung von Ressourcen nicht sinnvoller, die Veranstaltung nicht wandern zu lassen? Daniel Hahn: Um diese Frage beantworten zu können, muss meines Erachtens eine Abwägung der Ziele, die mit dem Pokal erreicht werden sollen, erfolgen. Die Ziele des Pokals sind zum einen, den ganzheitlichen erlebnispädagogischen Ansatz nach Kurt Hahn, „die fast vergessene Sprache der Erlebnispädagogik“, weiterzutragen. Zum anderen soll mit den wechselnden Veranstaltungsorten den Kindern und Jugendlichen die Schönheit und Einmaligkeit der Schöpfung gezeigt und erlebbar gemacht werden. Ein weiteres Ziel ist es, ein Netzwerk der Erlebnispädagogik entstehen zu lassen und die Methode bzw. die Wirksamkeit damit zu verstärken. Wir erleben eine immer größer werdende Gruppe junger PädagogInnen, die sich ehrenamtlich und über alle Maßen für die gemeinsame Sache einsetzen. Dieses bundesweite Netzwerk konnte nur dadurch entstehen, dass der Pokal durch die Republik wandert. Nicht zuletzt löst der Pokal immer wieder erlebnispädagogische Initialzündungen in Einrichtungen und Organisationen aus. Dies vor allem dadurch, dass jeder Pokal durch eine lokale Einrichtung am jeweiligen Ort, die als Ausrichter fungiert, unterstützt wird. So durfte auch meine Einrichtung, das Kinderheim Haus Nazareth, vom positiven Virus der Erlebnispädagogik durch den Pokal vor nunmehr 13 Jahren angesteckt werden. Mittlerweile ist unser erlebnispädagogisches Konzept sehr umfangreich und zu einer Säule unserer Einrichtung geworden. Diese hier beschriebenen Faktoren zur Zielerreichung des Pokals wiegen für uns so schwer, dass wir es auch weiterhin für den richtigen Weg halten, mit dem Pokal durch die schönen Gegenden Deutschlands zu wandern. Critica Quaestio: Es erscheint schlüssig, dass der Pokal auf naturnahen Zeltplätzen in schönen Landschaften stattfindet, um den Kindern eine wohltuende Atmosphäre zu bieten. Allerdings sind solche Großveranstaltungen in der Regel für die Natur doch eher unverträglich. Ist der Pokal in Landschaftsschutzgebieten überhaupt genehmigungsfähig? Daniel Mastalerz: Die Erstanfragen sind zuweilen tatsächlich etwas strapaziös, aber in der Regel funktioniert es wirklich gut. Sobald der Mensch die Natur betritt, wird er diese verändern und natürlich stellt eine Großveranstaltung von über 200 Kindern und Jugendlichen mitsamt den begleitenden Schutzengeln eine Belastung dar. Solange der Mehrwert jedoch höher ist, können wir dies gut akzeptieren. „Du bist ewig für das verantwortlich, was Du Dir vertraut gemacht hast“, so der Kleine Prinz in Bezug auf seine Rose. Wir sind überzeugt davon, dass es sinnvoll ist, Kinder in die Natur zu führen, damit sie diese kennen und schätzen lernen, eben sich mit dieser vertraut machen, um sich dann auch verantwortlich dafür zu fühlen. NatursportlerInnen, die wir alle sind, kennen die grundsätzliche Problematik, die Natur als „Sportgerät“ zu nutzen, ohne sie zum „Sportgerät“ zu degradieren. Es ist daher auch unsere Aufgabe, die TeilnehmerInnen des Pokals an diese Sichtweise heranzuführen. 217 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt Die Notwendigkeit, Kinder frühzeitig die Natur erfahren zu lassen, um eine emotionale Nähe herzustellen, ist eine Sichtweise, die sich auch bei den Behörden immer mehr durchsetzt. Es gibt im Allgemeinen eine große Akzeptanz, Kinder und Jugendliche naturnah zu erziehen. Für die Genehmigungsverfahren bei den entsprechenden Behörden nutzen wir auch gerne die Rückmeldungen vergangener Pokalveranstaltungen. So war der Kurt-Hahn-Pokal 2012 die Auftaktveranstaltung für das Naturschutzprojekt WildeWaldWelt des BVkE (Bundesverband Caritas Kinder- und Jugendhilfe), für das dieser auch den Deutschen Naturschutzpreis erhalten hat. Seit dieser sehr erfolgreichen Veranstaltung arbeiten wir immer eng mit den Forstbehörden zusammen, bei einer Pokalveranstaltung in der Pfalz hat uns die Forstbehörde mit Personal unterstützt ebenso wie bei einer Veranstaltung im Harz. Somit gibt es auch bei den Forstbehörden eine Nähe zum Pokal, die uns bei den Genehmigungsverfahren nutzt. Natürlich sind die Vorgaben der Naturschutzbehörden nicht immer leicht einzuhalten, insbesondere wenn die Lagerplätze in einem Naturpark liegen. Im Harz beispielsweise lag der Lagerplatz auf einer Waldlichtung mitten im Harzer Naturpark und wir mussten die gesamte Logistik entsprechend planen. Nicht nur, dass wir den gesamten Strombedarf über Generatoren gewinnen mussten, es gab auch keine Zuleitung für Wasser, weshalb uns die Feuerwehr täglich 1.000 Liter Wasser in bereitgestellte Tanks gepumpt hat. Um die Herausforderung noch ins Absurde zu steigern, gab es zudem die Auflage, dass keinerlei Abwasser ins Grundwasser sickern durfte, weshalb wir einen Großteil der 1.000 Liter wieder als Abwasser abtransportieren mussten. Critica Quaestio: Das hört sich nach einem extrem hohen Personalaufwand an. Ist dieser für fünf Tage Pokalveranstaltung sinnvoll und für die verantwortlichen Einrichtungen, also das Raphaelshaus in Dormagen, Haus Nazareth in Sigmaringen und die Wichernschule in Fellbach zu rechtfertigen? Daniel Mastalerz: Wie sagte einmal ein guter Freund von mir: „Man muss auch mal sinnlose Dinge tun.“ Natürlich ist dieser Personalaufwand keinesfalls wirtschaftlich zu argumentieren. Eines aber ist unseren drei Einrichtungen gemein, wir möchten die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen nicht nur verwalten, wir wollen ihnen Erlebnisse bieten, an denen sie wachsen können, und die Begeisterung des Pokals an viele Einrichtungen weitergeben. Wie wohl alle drei Einrichtungen den Pokal in unterschiedlich intensiver Form subventionieren, ist ein Großteil des Personals ehrenamtlich engagiert. Dies ist im Übrigen ein Geheimnis, was ich bis dato noch nicht entschlüsseln konnte, die Begeisterung von vielen Menschen, die den Pokal tatkräftig unterstützen und in den Tagen der Vorbereitung und Durchführung nahezu rund um die Uhr körperlich hart arbeiten. Bei 30 teilnehmenden Teams benötigen wir schon für die Wettkämpfe mindestens 30 zum Teil ausgebildete ErlebnispädagogInnen. Hinzu kommen die Verantwortlichen für die Küche, Technik, die Lagerleitung und vieles mehr. Im Schnitt begleiten ca. 50 Personen die Durchführung des Pokals, wovon sicher zwei Drittel ehrenamtlich engagiert sind. Critica Quaestio: Das hört sich erstaunlich an. Was ist es denn, das diesen Reiz ausmacht? Daniel Mastalerz: Das kann man bei „Kultveranstaltungen“, und das ist der Pokal zweifelsohne, ja nie genau herleiten. Natürlich ist es auch ein jährliches Treffen von Menschen, die, das kann man sicher so formulieren, auch gerne mal etwas Verrücktes zu tun. Entsprechend bunt ist die Menge der Unterstützenden, was wiederum seinen Reiz hat. Es ist tatsächlich so, dass jede Person, die an einer Pokalveranstaltung teilgenommen hat, die Folgejahre dabei ist, zumeist ehrenamtlich. Ich glaube, auch für die unterstützenden PädagogInnen ist der eigentliche Reiz, ähnlich wie für die Kinder und Jugendlichen sowie die begleitenden Schutzengel, die unbedingte Kompromisslosigkeit sowie die emotionalen Bilder. 218 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt Critica Quaestio: Nach dem Eingang der Anmeldungen versendet ihr ein Regelwerk, welches in jeder Hinsicht ungewöhnlich ist. Darin gibt es detaillierte Essens- und Benimmregeln, es gibt strenge Vorschriften bezüglich der grundsätzlichen Zeiten sowie der Pünktlichkeit und auch die Regeln das „Du“ und „Sie“ betreffend erscheinen antiquiert, um nur einige Punkte zu nennen. Halten sich die Kinder und Jugendlichen an diese doch recht strengen Regeln und finden diese auch Akzeptanz bei den begleitenden PädagogInnen, also den Schutzengeln? Daniel Hahn: Alle PädagogInnen sollten sich darüber einig sein, dass Regeln, klare Abläufe und Pläne nicht dazu dienen, die TeilnehmerInnen zu schikanieren, sondern Rahmung zu schaffen und Sicherheit zu geben. Alle Regeln und Abläufe, die in unserem Regelwerk beschrieben sind, basieren auf jahrzehntelanger Erfahrung und fußen immer auf einem sinnvollen und nachvollziehbaren Fundament. Zudem sehen wir es auch während des Pokals als pädagogische Aufgabe an, für die Einhaltung von gesellschaftskulturellen Normen und Werte Sorge zu tragen. So gehören für uns selbstverständlich die gemeinsamen Mahlzeiten zum Kulturgut und die Vermittlung der Essensregeln zu einer selbstverständlichen erzieherischen Aufgabe. Eine andere Regel wie z. B. die Aufstellung aller Teams zu festgelegten Zeiten auf dem Sammelplatz in geordneter und organisierter Art und Weise ist ein wichtiges und ordnungsgebendes Element, um eine so große Gruppe von Menschen gut zu organisieren, sodass keiner verloren geht. So könnte man an dieser Stelle jede einzelne Regel durchdeklinieren. Die Durchsetzung der Regeln ist kein Problem, da es vorgelebt-, klar und transparent eingefordert und überprüft wird. Zudem sind die Pokalregeln bereits zu einer Art Tradition gewachsen. Tatsächlich ist die Akzeptanz bei den Kindern und Jugendlichen bei 100 %. Zuweilen tun sich die KollegInnen etwas schwerer. Sie können es sich zumeist nicht vorstellen, dass die Regeln eingehalten werden. Aber auch diese KollegInnen erkennen recht schnell, dass alle Kinder und Jugendlichen imstande sind, sich an Regeln zu halten, wenn sie von allen gelebt werden und einen Sinn ergeben. Critica Quaestio: Den Kurt-Hahn-Pokal bzw. den Pokal gibt es nun seit 15 Jahren, die Vorgängerveranstaltungen nicht mitgerechnet. Immer mehr Einrichtungen möchten an dem Pokal teilnehmen sowie am Netzwerk partizipieren. Wie groß kann das Teilnahmefeld werden, ohne dass der besondere Charme des Pokals zerstört wird? Daniel Bugert: Das ist eine gute Frage, auf die es keine einfache bzw. eindeutige Antwort gibt - eine Frage, die bei uns im Organisationsteam auch kontrovers diskutiert wird; aber wie heißt es so schön: „Was nicht kontrovers ist, ist nicht der Rede wert“. Aus meiner Perspektive ist eine Veranstaltung mit ca. 20 Teams von der Größe ideal, andere sagen 30 und die Kasse sagt mindestens 22,5. Pädagogisch scheint das Erleben in einem kleineren Rahmen, in dem sich die Gemeinschaft schneller finden kann, intensiver zu sein, andererseits soll ja auch der Netzwerkgedanke und die Möglichkeit für viele neue Mädchen und Jungen, am Erleben teilzuhaben, nicht zu kurz kommen. Somit ist es ein Abwägen: Wie viele Menschen verträgt der Lagerplatz, der ja in der Regel schon vor dem Anmeldeschluss feststehen muss, wie viele neue Teams und damit auch unerfahrene Schutzengel sind dabei? Wie viele „alte“ Kinder und Jugendliche können die traditionelle Atmosphäre transportieren bzw. wie viele sind dafür wichtig? Welche Herausforderungen stellt eine größere Gruppe an die Logistik, von Küche über Material bis hin zu den eigentlichen Aufgaben? Was ist für die lokalen Bedingungen noch verträglich im Hinblick auf Umwelt- und Naturschutz? Sicherlich gibt es noch mehr Punkte, aber daran sieht man, Zahlen sind in diesem Fall nicht in Stein gemeißelt, sondern können sich anpassen. Bisher war es so, dass 219 uj 5 | 2023 Wie der Kurt-Hahn-Pokal auf allen Ebenen der Emotionen wirkt wir bei einem Deckel von 30 Teams Schluss machen konnten und trotzdem niemandem absagen mussten. Sollte sich das in Zukunft ändern, sind wir die Letzten, die sich dieser Herausforderung zumindest in diskursiver Hinsicht verweigern - Ende offen! Critica Quaestio: Welche Perspektive habt ihr für euch und den Pokal entwickelt? Daniel Mastalerz: Als wir im Raphaelshaus vor 28 Jahren die erste Trophyveranstaltung durchgeführt haben, damals hieß diese noch Ardennentrophy, weil sie in den belgischen Ardennen stattfand, konnte keiner ahnen, welche Breitenwirkung das Konzept hat. Inzwischen gibt es unendlich viele unterschiedliche Veranstaltungen, die ähnlich konzipiert sind, in unterschiedlicher Länge, Intensität und Größe. Die Idee einer natursportlichen Wettkampfveranstaltung hat sich weiterentwickelt, so eben auch in den Pokal. Das ist so gewollt und hinterlässt ein befriedigendes Gefühl. Der Pokal ist, was die Organisationsstruktur, die Akzeptanz in der Jugendhilfelandschaft sowie die ehrenamtliche Unterstützung angeht, auf einem sehr hohen Niveau, welches zu halten gilt. Problematisch ist alljährlich die Finanzierung, da wir den Unkostenbeitrag der teilnehmenden Teams möglichst niedrig halten möchten, um auch Kleinsteinrichtungen eine Teilnahme zu ermöglichen. Hier bemühen wir uns seit geraumer Zeit um eine Förderung durch entsprechende Stiftungen, was recht zäh ist. Aktuell organisieren die drei Einrichtungen, das Raphaelshaus in Dormagen, Haus Nazareth in Sigmaringen sowie die Wichernschule in Fellbach den Pokal. Eines unserer wichtigsten Ziele muss es sein, die Zukunft des Pokals unabhängig von den drei Einrichtungen und uns als Personen zu sichern. Hierzu gehört eindeutig auch, ein starkes Netzwerk erlebnispädagogisch orientierter Einrichtungen zu etablieren, um bundesweit weitere erlebnispädagogische Veranstaltungen zu entwickeln. Neben dem Pokal gibt es ja noch die „Tour de Jugendhilfe“, ein mehrtägiges Radrennen, ähnlich wie die Tour de France organisiert, sowie die Kletter- und Boulderserie „Jugendhilfe Vertikal“. Je mehr KollegInnen von dem Virus der besonderen Sprache der Erlebnispädagogik infiziert sind, desto intensiver können die Ideen Kurt Hahns wirken. Daniel Hahn Erzb. Kinderheim Haus Nazareth Brunnenbergstr. 34 72488 Sigmaringen Daniel Mastalerz Raphaelshaus Krefelder Str. 122 41539 Dormagen Daniel Bugert Wichernschule Schillerstr. 8 70734 Fellbach