eJournals unsere jugend 75/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Schutzkonzept – läuft bei uns … (wohl eher nicht)

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2023
Andreas Schrenk
Es häufen sich die Hinweise darauf, dass es in den Einrichtungen mit Betreuungskontext um den institutionellen Schutz von KlientInnen mitnichten so gut bestellt ist, wie es eigentlich dringend geboten ist. Und es drängt sich längst die Frage auf, wieso das so ist. Die Rechtslage war im Grunde schon vor den SGB-Reformen (SGB VIII 2021 und SGB IX 2022) klar und bindet jetzt zusätzlich das Vorhalten und Nachweisen von Gewaltschutzkonzepten an die Erteilung der Betriebserlaubnisse.
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253 unsere jugend, 75. Jg., S. 253 - 260 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art34d © Ernst Reinhardt Verlag Schutzkonzept - läuft bei uns… (wohl eher nicht) Es häufen sich die Hinweise darauf, dass es in den Einrichtungen mit Betreuungskontext um den institutionellen Schutz von KlientInnen mitnichten so gut bestellt ist, wie es eigentlich dringend geboten ist. Und es drängt sich längst die Frage auf, wieso das so ist. Die Rechtslage war im Grunde schon vor den SGB-Reformen (SGB VIII 2021 und SGB IX 2022) klar und bindet jetzt zusätzlich das Vorhalten und Nachweisen von Gewaltschutzkonzepten an die Erteilung der Betriebserlaubnisse. von Prof. Dr. phil. Andreas Schrenk Jg. 1962; ist staatlich anerkannter Erzieher und studierte nach dieser Berufsausbildung Sozialpädagogik an der Katholischen Hochschule in Freiburg und Erziehungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg. Er arbeitete viele Jahre in der Kinder- und Jugendhilfe, durchlief dort viele verschiedene Funktionen und Positionen und war bis 2015 als Einrichtungsleiter in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung beschäftigt. Im Anschluss daran arbeitete er mehrere Jahre als Professor an der SRH Hochschule in Heidelberg in der Ausbildung von SozialarbeiterInnen. Seither engagiert er sich als Vortragsredner, Referent, Organisationsentwickler und Autor für die Weiterentwicklung der Schutzkonzepte und deren nachhaltig wirksame Einführung und Umsetzung in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, Kindertagesstätten und Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Die Meldungen vom vergangenen Dezember aus der Kita-Szene in Bayern (Gürkov/ Hawranek 2022), die darauffolgenden Erklärungen (Guenter 2022), Aufrufe z. B. der Deutschen Liga für das Kind (https: / / liga-kind.de) und verschiedene Studien (https: / / www.pina-research.de/ forschung/ forschungsprojekte/ bika/ ) wiesen in schockierender Eindeutigkeit darauf hin, dass es sehr viele Einrichtungen zu geben scheint - und natürlich nicht nur in Bayern -, die weit davon entfernt sind, als „sichere Orte“ bezeichnet werden zu können. Die Rechte von Kindern auf Schutz vor Gewalt, auf Selbst- und Mitbestimmung, auf Beschwerdemöglichkeiten, auf Schutz vor Diskriminierung und Grenzverletzung sind in vielen Organisationen nicht gegeben. Personalmangel, Überlastung, Defizite in der Ausbildung werden als Erklärung hergenommen, um irgendwie den Wunsch nach Verstehbarkeit zu erfüllen, für die dokumentierten himmelschreienden Maßnahmen wie z. B. Zwangsfütterungen und Einsperren auf der Toilette. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass es hierbei nur um bayerische Kindertagesstätten geht, vielmehr ist davon auszugehen, dass sich das Bild bundesweiter Zustände nicht groß 254 uj 6 | 2023 Läuft bei uns . . . (wohl eher nicht) unterscheidet. Ebenso ist der Rückschluss naheliegend, dass es in vielen Organisationen anderer Betreuungskontexte kein bisschen anders aussieht. Der Bedarf an systematischer Entwicklung, Einführung und Umsetzung von nachhaltig wirksamen Schutzkonzepten ist in vielen stationären und teilstationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe ebenso groß und unerfüllt wie in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Wie läuft‘s denn so mit den Schutzkonzepten? Was gleichermaßen irritiert, sind Antworten einiger VertreterInnen von Spitzenverbänden auf die Frage nach Umsetzungsgrad und -güte institutioneller Schutzkonzepte im Verantwortungsbereich der einzelnen Verbände. Der Tenor ist hier in aller Regel: „Wir sind da sehr gut aufgestellt.“ Darunter wird dann i. d. R. verstanden, die verbandlich vertretenen Einrichtungen mit Richtlinienpapieren auszustatten, die dann per MultiplikatorInnenausbildungen in die Organisationen getragen und umgesetzt werden sollen. Wenn man dann etwas genauer hinschaut und jemanden fragen kann, der bzw. die etwas mutiger oder ehrlicher ist oder vielleicht einfach näher „an der Basis“, wird häufig erzählt, dass es zwar ein Schutzkonzept in der Einrichtung gebe, aber niemand so richtig wisse, was da eigentlich genau drin steht … läuft also? Eher nicht … Angesichts hoher Arbeitsdynamik und extrem auf Kante genähter personeller und zeitlicher Ressourcen in allen unseren Hilfesystemen sind die gut ausgebildeten, engagierten und motivierten MultiplikatorInnen mit Strukturen konfrontiert, die den Auftrag, mit den KollegInnen das Schutzkonzept für die Einrichtung zu erarbeiten, zu einer ganz besonderen Herausforderung macht. Da braucht nur jemand im Team krank zu werden, oder irgendeine besondere, evtl. pädagogisch krisenhafte Situation entsteht und schnell ist das Team mit den Ressourcen am Ende, steht mit dem Rücken zur Wand und versucht, den Dienstplan aufrechtzuerhalten, um die Betreuung der Klientel zu sichern. Oft sind diese Perioden geprägt von Improvisation und Durchhalteparolen und werden vor allem immer häufiger zum Standard. Dass der Tagesordnungspunkt konzeptionelle Entwicklung z. B. eines Schutzkonzeptes dann erst mal bis auf Weiteres ganz nach hinten geschoben werden muss, liegt auf der Hand. Die letzten beiden Jahre haben sich diese Voraussetzungen coronabedingt verschärft. Viele Einrichtungen berichten, dass sie schon einmal mit der Entwicklung ihrer Konzepte angefangen haben, aber dann genau an diesen genannten Bedingungen gescheitert sind und jetzt davorstehen, diesen Prozess wieder aufzunehmen. In vielen Organisationen wird außerdem der Bedarf nach sehr konkreter fachlicher Unterstützung bei der Entwicklung, Einführung und Umsetzung von Schutzkonzepten formuliert. Der Bundesvorstand des Verbandes Privater Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe (VPK) hat dafür eine interne Arbeitsgruppe damit beauftragt, im Sinne strategischer Vorgehensweise ein Curriculum zu erarbeiten und den Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Diese Handreichung ermöglicht unter anderem ein strukturiertes Vorgehen, um die entsprechenden konzeptionellen Entwicklungsschritte in eine sinnvolle Reihenfolge einzuordnen. Darüber hinaus beauftragte der VPK die Entwicklung eines digital gestützten Programms, um mit Blick auf die strukturell sehr schwierigen Bedingungen den Einrichtungen die entsprechende Unterstützung zu gewährleisten. Dieses Programm ist mit seinem sehr innovativen Ansatz bereits seit April 2021 sehr erfolgreich in Anwendung und erleichtert den Einrichtungen den Weg zu partizipativ erarbeiteten, nachhaltig wirksamen und SGB-konformen Konzepten. 255 uj 6 | 2023 Läuft bei uns . . . (wohl eher nicht) Also wie jetzt Die Erkenntnis, dass ein institutionelles Gewaltschutzkonzept nur dann diese Bezeichnung auch verdient und seine Wirksamkeit entfalten kann, wenn es gemeinsam mit KollegInnen erarbeitet wird, setzt sich - sehr langsam - durch. Es kann allerdings immer noch beobachtet werden, dass ein „Schutzkonzept light“ schnell mal runtergeschrieben wird, um es fristgerecht der Aufsichtsbehörde einreichen zu können, damit das mit der Betriebserlaubnis klappt, und danach ist das Thema für manche erstmal wieder abgehakt. Um es deutlich zu sagen, so ein Konzept ist nicht das Papier wert, auf dem es steht, auch wenn es vervielfältigt und an das gesamte Kollegium verteilt worden ist mit dem Auftrag, alle sollen das mal lesen und dann gemeinsam umsetzen. Das kann gar nicht funktionieren, weil ein unverzichtbarer Zwischenschritt ausgelassen wurde, und zwar der der gemeinsamen Auseinandersetzung. Erfreulicherweise gibt es aber auch viele Einrichtungen, die sich mit diesem Standard nicht zufriedengeben, den tatsächlichen Bedarf erkennen, ernst nehmen und nach der Einreichung der formal genügenden Version sich der Entwicklung fachlich seriös und fundiert widmen. Es drängt sich immer wieder der Eindruck eines Denkfehlers auf, der im Zusammenhang mit institutionellen Schutzkonzepten breit in Anwendung zu sein scheint und auf den ich hier hinweisen möchte. Er drückt sich aus in den folgenden Aussagen von KollegInnen aus dem Wohngruppendienst: „Sie wissen ja, wie es ist. Wir GruppenbetreuerInnen sitzen häufig noch bis spät in die Nacht am Schreibtisch und schreiben noch die Tagesdokumentation, den Dienstplan, die Übergabe für die Kollegin am nächsten Tag oder eine Stellungnahme zum Hilfeplan und jetzt stellen Sie sich mal vor, jetzt müssen wir auch noch ein Schutzkonzept machen.“ „Also eines ist mir jetzt klar, anfassen tu ich kein Kind mehr.“ „Ich weiß eigentlich gar nicht mehr, was ich noch darf.“ Diese Aussagen, so oder so ähnlich, sind keine Einzelfälle, sondern wurden und werden im Rahmen von Fachveranstaltungen von vielen FachkollegInnen geäußert. Der Denkfehler, aus dem diese Äußerungen resultieren, besteht u. a. darin, ein Schutzkonzept als einen weiteren Ansatz und die Entwicklungsarbeit daran als Aufrüstung der methodischen Portfolios einer Organisation zu betrachten. Vielmehr geht es jedoch um einen Perspektivenabgleich und die gemeinsamen Bemühungen um ein einheitliches Verständnis von z. B. Gewalt und Grenzverletzung, von Risiko und von Nähe und Distanz im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig wird deutlich, wie groß die Unsicherheit bei vielen MitarbeiterInnen ist und welche Befürchtungen die Überlegungen und Diskussionen rund um die Schutzkonzepte prägen und auslösen. Verunsicherung und Handlungsunsicherheit bei Fachleuten ist, gerade in hochdynamischen Arbeitsfeldern, keine gute Beraterin. Diese Verunsicherung bezieht sich nicht nur auf die Arbeit und den Umgang mit Kindern und Jugendlichen, sondern auch auf die Zusammenarbeit im Team. Häufig wird die fragende Sorge formuliert, ob man selbst überhaupt noch das Vertrauen der KollegInnen im Team genießt. Diese Sorge muss sehr ernst genommen werden und ist innerhalb pädagogischer Teams, insbesondere zu Beginn eines Konzeptionsentwicklungsprozesses, wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung verändert sich in aller Regel mit fortlaufender Arbeit am Konzept wieder zum Positiven, wenn der Prozess gut begleitet wird. Wichtig ist in dieser Phase des Entwicklungsprozesses, dass Leitung diese Dynamik erkennt, versteht und im Blick hat. Gegenüber den MitarbeiterInnen sollte der Grundsatz „Vertrauen 256 uj 6 | 2023 Läuft bei uns . . . (wohl eher nicht) vor Misstrauen“ zum Ausdruck gebracht werden, und gleichzeitig soll auch erklärt werden, dass man sich von der schlicht naiven Annahme, dass „bei uns nichts passieren kann“, verabschieden muss. Was zunächst wie eine widersprüchliche Doppelbotschaft klingt, macht erneut die Komplexität des Themas Schutzkonzept deutlich und klingt wie ein Dilemma. Und das ist es auch. Wir haben es hier mit einem neuen fachlichen Anspruch an die helfende Profession zu tun, sich in diesem Dilemma einzurichten und es künftig als die normale Situation zu betrachten. Dafür braucht es u. a. die fachliche Auseinandersetzung unter Beteiligung aller „Organisationsmitglieder“, die Entwicklung einer positiven und konstruktiven Feedbackkultur und die behutsame und gleichzeitig eindeutige Begleitung, Führung und Schulung der MitarbeiterInnen durch Führungskräfte und ExpertInnen. MitarbeiterInnen aus Organisationen, die über ein gemeinsam und prozessual erarbeitetes Schutzkonzept verfügen, berichten über die signifikante Zunahme ihrer ganz persönlichen Handlungssicherheit, die sich sehr positiv und nachhaltig auf die individuelle Arbeitsplatzzufriedenheit auswirkt. Anders formuliert, tragen gut gemachte Schutzkonzepte stark zur MitarbeiterInnenbindung bei. Und natürlich ist davon auszugehen, dass es auch bei der Frage der Personalgewinnung eine Rolle spielt, wenn eine Einrichtung im Vorstellungsgespräch das einrichtungsindividuelle professionelle Schutzkonzept vorstellen kann. Der Umgang mit Nähe und Distanz: Ein Beispiel In einer Jugendhilfeeinrichtung werden Kinder abends ins Bett gebracht. Zum Ritual gehört eine Gute-Nacht-Geschichte. Nun stellt sich die Frage: Wird sie am Rand des Bettes sitzend, bei geschlossener Tür und gedimmtem Licht vorgelesen (Szenario A)? Oder sitzt der/ die Vorlesende bei geöffneter Tür in der Mitte des Zimmers auf einem Stuhl? (Szenario B) Die Diskussion zum Thema „Distanz und Nähe“ muss geführt werden. Denn in Szenario A entsteht eine sehr persönliche, dichte Situation, emotionale Bindungsmöglichkeit und Beziehungsarbeit sind möglich. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit zum (sexuellen) Missbrauch. Fakt ist: Für beide Szenarien gibt es Pro und Contra. Gibt es auch „richtig oder falsch“? Die Herausforderung besteht darin, sich auf eine gemeinsame Lesart, eine gemeinsame Vorgehensweise zu einigen/ zu verständigen - alles vor dem Hintergrund, Schutz zu gewährleisten. Und um sicherzustellen, dass die Situation von Szenario A nicht ausgenutzt wird. Gemeinsam und prozessual Prozesse wie die gemeinsame Risikoanalyse und die gemeinsame Auseinandersetzung mit den Begriffen Gewalt und Grenzverletzung sind unverzichtbar und führen zu einem gemeinsamen Verständnis. Hier ist nicht nur das Ergebnis von Bedeutung, sondern der Prozess als solcher hat einen eigenen Wert, weil dadurch Transparenz in die unterschiedlichen Sichtweisen der Personen gebracht wird, die für die Gestaltung sicherer Orte verantwortlich sind. Und die gemeinsame Sichtweise der Beteiligten kann nun einmal nicht einfach vorausgesetzt, sondern muss erarbeitet werden, durch die Hinterfragung und fortlaufende Reflexion des pädagogischen Alltagshandelns. Erst dieser Prozess führt dazu, dass ein Team bzw. eine Organisation einen gemeinsamen Bezugspunkt z. B. zum Begriff Grenzverletzung hat und erst dann auch Abweichung und pädagogisches Fehlverhalten definieren kann. Fehlt dieser Prozess, fehlt auch der Bezugspunkt und dann kann ein Schutzkonzept im Sinne einer gemeinsamen professionellen Sen- 257 uj 6 | 2023 Läuft bei uns . . . (wohl eher nicht) sibilität nicht entstehen bzw. keine Wirksamkeit entfalten. Dieser Prozess ist keine einmalige Veranstaltung, sondern eine andauernde Maßnahme der kulturellen Weiterentwicklung einer Organisation. Leitfragen für diesen Auseinandersetzungsprozess sind z. B. ➤ Welche Erscheinungsformen von Gewalt gibt es? ➤ Welche Formen der Grenzverletzung kennen wir? ➤ Was verstehen wir bzw. unsere Kinder und Jugendlichen unter Gewalt? ➤ Welche Sprachregelungen haben wir? ➤ Welche Präventionsprinzipien sind uns wichtig? ➤ Welche Alltagssituationen kennen wir und wie setzen wir in diesen Situationen unsere Präventionsprinzipien konkret um? ➤ Was ist ein besonderes Vorkommnis und was machen wir dann? ➤ Wie definieren wir Nähe und Distanz? ➤ Wann und in welcher Weise üben wir in unserem pädagogischen Handeln Zwang aus und wie begründen wir das? ➤ Was sind Krisen und wie gehen wir mit ihnen um? ➤ . . . Auch die Risikoanalyse stellt bei der Entwicklung eines Schutzkonzeptes ein zentrales Element dar. Neben dem Effekt, dass eine gemeinsame Risikoanalyse auch die bestehenden Strukturen in den Blick nimmt, sie auf Risiken überprüft und diese möglichst beseitigt, trägt auch dieser Prozess zur Schärfung der professionellen Sensibilität bei. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Mitglieder einer Organisation bzw. eines Teams im Hinblick auf die Risikoeinschätzungen automatisch einer Meinung sind, das wäre Zufall. Häufiger ist die unterschiedliche Bewertung verschiedener Alltagssituationen innerhalb des Kollegiums. Durch den, evtl. kontrovers ablaufenden, Austausch und den dadurch sich ergebenden Perspektivenabgleich stellt ein Team einen erforderlichen gemeinsamen Wertekanon her. Das Ziel besteht nicht in der kollegialen Gleichschaltung und der Abschaffung individueller pädagogischer Qualitäten und Vorgehensweisen, sondern in der Verständigung auf eine einheitliche Vorgehensweise mit Fokus auf Schutz und Bedingungen, die das Vorkommen von Gewalt verunmöglichen. Leitfragen dieses Prozesses können u. a. die Folgenden sein: ➤ Welche Situationen in der Organisation sind dafür geeignet bzw. ermöglichen es, dass eine erwachsene Person sich gegenüber einem anvertrauten Kind missbräuchlich verhält? (Bettgehzeiten, Schwimmbadbesuche, Ausflüge, 1: 1-Situationen . . .) ➤ Wie gestalten wir die Beziehungen zu den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen? ➤ Wird bei uns angeschrien, ignoriert, bloßgestellt, gedemütigt, unter Druck gesetzt, abgewertet, geschwächt, Konkurrenz geschürt? ➤ Wie behandeln wir z. B. pflegerische Bedarfe der Kinder im Intimbereich? ➤ Wie gehen wir mit den Bedürfnissen und Bedarfen der Kinder und Jugendlichen nach Nähe (sozial, emotional, körperlich) um und wo sind hier Grenzen (Bettgehzeiten, Schwimmbadbesuche, Einzelkontakte . . . )? ➤ Wie drückt sich das, dieser Konstellation (erwachsene Person und Kind) innewohnende Machtgefälle aus und wie gehen wir damit um? ➤ Wie reflektiert gehen wir um mit der Fragestellung zur Sexualität unserer Kinder und Jugendlichen? ➤ Haben wir ein sexualpädagogisches Konzept? ➤ Welche Situationen gibt es bei uns innerhalb der Peergroup, die Gewalt ermöglichen? ➤ . . . 258 uj 6 | 2023 Läuft bei uns . . . (wohl eher nicht) Partizipation Der Begriff der Partizipation zieht sich wie ein roter Faden nicht nur durch das Konzept, sondern auch durch den Prozess der Entwicklung des Schutzkonzeptes. Zunächst steht die Klärung des Begriffes im Vordergrund und die Frage, wie dieser Begriff in der Organisation verstanden und interpretiert wird. Mit Blick auf die MitarbeiterInnenschaft sind nicht nur die pädagogischen Fachkräfte zu beteiligen, sondern ausdrücklich auch die nichtpädagogischen KollegInnen, also die Verwaltungskräfte, Reinigungskräfte, PraktikantInnen, FahrerInnen, HausmeisterInnen usw. Auch wenn diese KollegInnen sich vielleicht gelegentlich in den Diskussionen etwas verloren vorkommen mögen, ist ihre Beteiligung dennoch höchst bedeutsam, weil sie im Alltag häufig sogar intensiven Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben. Der „pädagogisch begabte Hausmeister“, die herzlich zugewandten Reinigungskräfte und die offenen und freundlichen Verwaltungskräfte, die ohne ausdrücklich pädagogischen Auftrag im Kontakt sind, haben nicht selten eine große Bedeutung und Wirkung. Sie müssen also genauso wie die FachkollegInnen an der Weiterentwicklung und Klärung des gemeinsamen Verständnisses von z. B. Nähe und Distanz im Umgang mit Kindern und Jugendlichen und von z. B. Grenzverletzung und Gewalt beteiligt werden. Die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen selbst sollte selbstverständlich sein, soll aber der Vollständigkeit halber auch hier noch erwähnt werden. Ein Konzept zu entwickeln, das hauptsächlich durch Partizipation geprägt ist, kann selbstverständlich nur dann funktionieren, wenn die eigentlichen AdressatInnen des Konzeptes bereits bei der Entwicklung involviert waren. Auf Trägerebene Aus sozialpolitischer bzw. aufsichtsrechtlicher Perspektive sind die Gelingensbedingungen funktionaler Schutzkonzepte durch die gegebene Aufgabenteilung zwischen Einrichtung als Leistungserbringerin und Aufsichtsbehörde häufig von vorneherein belastet. Die Aufsichtsbehörde ist die Stelle, bei der die Einrichtungen Beratungsleistungen abrufen können und sollen. Gleichzeitig nimmt aber diese Stelle auch Funktionen der Beaufsichtigung, Überprüfung und Kontrolle wahr und entscheidet damit über den Erhalt bzw. die Erteilung der Betriebserlaubnis. Diese gesetzlich verankerten Voraussetzungen stellen höchste Ansprüche an alle beteiligten RolleninhaberInnen und fordern nicht nur ihre fachlichen, sondern auch sozialen und kommunikativen Kompetenzen. Wenn auf dieser Ebene vertrauensvoll und konstruktiv zusammengearbeitet werden kann, hat das enorme positive Auswirkungen vor allem auf den Entwicklungsprozess, aber auch auf die Güte des Schutzkonzeptes. Ein sehr erfreuliches, positiv geprägtes Beispiel, wo man die Notwendigkeit und das Potenzial konstruktiver Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen und Aufsichtsbehörden begriffen zu haben scheint und gemeinsam an der Umsetzung arbeitet, ist in Nordrhein-Westfalen zu beobachten. Im September 2022 hat der VPK- Landesverband NRW in Dortmund gemeinsam mit den beiden Landesjugendämtern in NRW dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) einen Fachtag durchgeführt, um die Aspekte Definitionen, Mindestanforderungen, Entwicklung und Implementierung von Schutzkonzepten in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu diskutieren. Die Fortbildung richtete sich an Träger und Leitungskräfte in stationären Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung sowie weitere Akteure in diesem Arbeitsfeld. Die anfänglich stark wahrnehmbare Anspannung im Verhältnis zwischen den VertreterInnen der Einrichtungen und der Landesjugendämter nahm im Laufe des Tages deutlich ab. Die Diskussionen waren zunächst geprägt 259 uj 6 | 2023 Läuft bei uns . . . (wohl eher nicht) von gegenseitig kritischen Rückmeldungen und dem Werben um Verständnis für die eigenen Positionen und entwickelten sich dann zunehmend zu gemeinsamen, lösungs- und umsetzungsorientierten Vereinbarungen. Der Nutzen eines Schutzkonzeptes auf einen Blick Einrichtungen, die den Prozess der Entwicklung, Einführung und Umsetzung eines einrichtungsindividuellen Schutzkonzeptes durchlaufen haben, berichten von Veränderungen und Entwicklungen, die sie so bzw. in dem Ausmaß nicht erwartet hatten, und beschreiben diese Entwicklungen als Organisationsentwicklungsprozess. Blick zurück: Was hat sich während des Prozesses in der Einrichtung verändert? ➤ In der Einrichtung hat sich eine Kultur entfaltet, die geprägt ist von Bewusstheit und Haltung. Kinderschutz wird nicht als methodischer Zusatz begriffen, sondern als Ergebnis differenzierterer und geschulter Wahrnehmung. Diese Kultur gilt es weiterzuentwickeln und zu stabilisieren. Auch und gerade nach dem Prozess. ➤ Die professionelle Sensibilität innerhalb der Einrichtung ist höher als vorher. Alle MitarbeiterInnen der Einrichtung verfügen über eine schärfere Wahrnehmung bzgl. abweichendem Verhalten seitens der Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen. ➤ Die Einrichtung hat einen Prozess zur Risikoanalyse durchlaufen und die Organisation dadurch zu einem sichereren Ort gemacht. ➤ Im Team besteht ein einheitliches Verständnis im Umgang mit der Klientel im Hinblick auf Nähe und Distanz. ➤ Kinder und Jugendliche machen die Erfahrung, beteiligt und ernst genommen zu sein. ➤ Die Einrichtungsleitung hat verschriftlicht, welche Position sie selbst zum Thema Kinderschutz und Partizipation hat. Diese Position kann sie gegenüber MitarbeiterInnen und Klientel professionell kommunizieren. ➤ Neue MitarbeiterInnen lassen sich anhand eines klar beschriebenen Ablaufes in das Schutzkonzept der Einrichtung einführen. ➤ Ein einrichtungsspezifisches Einstellungs- und Einarbeitungsprozedere für die MitarbeiterInnen trägt zu erhöhter Handlungssicherheit und Arbeitsplatzzufriedenheit der MitarbeiterInnen bei. ➤ Ein gemeinsames, prozessual erarbeitetes Schutzkonzept kann als ein Faktor emotionaler Bindung von MitarbeiterInnen an die Organisation betrachtet werden. ➤ . . . Zusammenfassend gesagt: Das erzielte Ergebnis geht erfahrungsgemäß i. d. R. weit über das vom Gesetzgeber Erwartete hinaus. Fazit Die aktuellen Meldungen über grenzverletzendes Verhalten in Einrichtungen machen deutlich, dass die Anstrengungen zur Umsetzung von Schutz verstärkt werden müssen. Aber eher nicht im Sinne von „mehr von dem“, was bisher schon nicht funktioniert zu haben scheint. Noch mehr Handreichungen, Leitlinien zu produzieren und zu verteilen, wird keinen Unterschied machen. Vielleicht brauchen wir neue Ansätze. Die Anstrengungen in Ausbildung und Qualifizierung zu erhöhen und Kinderschutzprofessuren einzurichten, wie schon vor Jahren an der Universität in Frankfurt und zu Beginn des Wintersemesters 2022/ 23 auch an der Hochschule Koblenz, ist sicher ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. So soll sichergestellt werden, dass niemand ein Bachelor- oder Master-Studium der Kindheitswissenschaften und der 260 uj 6 | 2023 Läuft bei uns . . . (wohl eher nicht) Sozialen Arbeit ohne entsprechende Qualifikation und Expertise abschließt (Gandner 2022). Ungelöst bleibt die angespannte personelle Ausstattung in den Hilfesystemen, die eine fundierte Erarbeitung von Schutzkonzepten enorm erschwert. Es scheint sinnvoll zu sein, angesichts der hier beschriebenen Denkfehler und Befürchtungen genau auf diese hinderlichen Faktoren einzugehen, um zu vermeiden, dass sie letztlich undifferenziert in Widerstände münden und zu Verweigerungshaltungen verhärten. Wenn wir wollen, dass die MitarbeiterInnen ihre Wirkungsorte zu sicheren Orten machen, müssen wir ermöglichen, dass in allen Beteiligten in einer Organisation (Klientel, MitarbeiterInnen, Leitung) über Partizipationsprozesse Resonanz mit Blick auf Schutzbedingungen entsteht. Partizipation in diesem Zusammenhang beginnt nicht per Dekret, sondern lässt am Anfang des Prozesses auch Zeit und Raum für Befürchtungen, Zweifel, Sinnfragen, Verständnisfragen und Kritik. Die Komplexität der Entwicklung, Einführung und Umsetzung eines Schutzkonzeptes wird deutlich, wenn die Auswirkungen auf alle Dimensionen, Kategorien, Plattformen, Konzepte und Programme einer Organisation in den Blick genommen werden. In diesem Organisationsentwicklungsprozess sind alle Beteiligten den Dynamiken ausgesetzt, die in allen organisationalen Veränderungsprozessen stattfinden. Das müssen wir berücksichtigen, wenn wir wollen, dass es klappt. Andreas Schrenk Lumanaa GmbH & Co. KG Beratungsgesellschaft für Strategie- und Organisationsentwicklung E-Mail: andreas.schrenk@lumanaa.de www.schutzkonzeptreloaded.de Literatur Gandner, C. (2022): Hochschule Koblenz verankert Kinderschutz in der Lehre: Prof. Dr. Kathinka Beckmann erhält Kinderschutzprofessur. In: https: / / nachrichten.idw-online.de/ 2022/ 12/ 12/ hochschule-koblenz-verankert-kinderschutz-in-der-lehre-prof-dr-kathinka-beckmann-erhaelt-kinderschutzprofessur, 12. 1. 2023 Guenter, A. (2022): Dramatische Missstände in Krippen - Gewalt gegen Kinder steigt rapid. In: https: / / www.20min.ch/ story/ allein-gelassen-gezwungenerniedrigt-mehr-gewalt-gegen-kinder-in-krippen- 919915915248, 12. 1. 2023 Gürkov, C., Hawranek, C. (2022): Mehr Verdachtsfälle auf Gewalt in Kitas. In: https: / / www.tagesschau.de/ investigativ/ br-recherche/ kindertagesstaetten-gewalt-personalmangel-101.html, 12. 1. 2023, https: / / liga-kind.de, 12.01.2023, https: / / www.pina-research. de/ forschung/ forschungsprojekte/ bika/ , 12. 1. 2023