eJournals unsere jugend 75/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2023
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Anfragen und Abschlüsse individualpädagogischer Hilfen

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2023
Norbert Scheiwe
Joachim Klein
EFFSE e.V. ist ein verbands- und trägerübergreifender Zusammenschluss von sechs Einrichtungen der erzieherischen Hilfen, die länderübergreifend Individualpädagogik anbieten. Ein Ziel des Vereins ist es, das Recht auf interkulturelle und soziale Bildung besonders für benachteiligte junge Menschen umzusetzen. Im Jahr 2019 beauftragte EFFSE das Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) mit einer Evaluationsstudie („EFFSE U1“), die einen groben Überblick über die Ausgangslage und die Qualität von Anfragen für individualpädagogische Hilfen durch Jugendämter sowie den Ablauf bzw. die Art der Beendigung derartiger Hilfen geben sollte. Ziel war es u.a., die Angebotsqualität der Mitgliedseinrichtungen weiterzuentwickeln und möglicherweise auf sich verändernde Anforderungen zu reagieren.
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431 unsere jugend, 75. Jg., S. 431 - 438 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art59d © Ernst Reinhardt Verlag Anfragen und Abschlüsse individualpädagogischer Hilfen Ergebnisse, fachliche Bewertungen und mögliche Konsequenzen aus der Untersuchung „EFFSE U1“ EFFSE e.V. ist ein verbands- und trägerübergreifender Zusammenschluss von sechs Einrichtungen der erzieherischen Hilfen, die länderübergreifend Individualpädagogik anbieten. Ein Ziel des Vereins ist es, das Recht auf interkulturelle und soziale Bildung besonders für benachteiligte junge Menschen umzusetzen. Im Jahr 2019 beauftragte EFFSE das Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) mit einer Evaluationsstudie („EFFSE U1“), die einen groben Überblick über die Ausgangslage und die Qualität von Anfragen für individualpädagogische Hilfen durch Jugendämter sowie den Ablauf bzw. die Art der Beendigung derartiger Hilfen geben sollte. Ziel war es u. a., die Angebotsqualität der Mitgliedseinrichtungen weiterzuentwickeln und möglicherweise auf sich verändernde Anforderungen zu reagieren. Untersuchung der Anfragen für individualpädagogische Hilfen Im Zeitraum vom 1. 7. 2019 bis 31. 12. 2020 wurden in den beteiligten Einrichtungen insgesamt 287 Anfragen dokumentiert. Häufigste Anlässe waren dabei dissoziale Störungen (z. B. aggressive u./ o. dissoziale Verhaltensweisen), Entwicklungsdefizite sowie Problemlagen innerhalb des (familiären) Umfelds des jungen Menschen (Mutter-/ Vater-Kind-Bez., Eltern-PartnerIn-Bez., Vernachlässigung). von Norbert Scheiwe Jg. 1952; Dipl.-Soz. Päd. FH, seit 2017 Privatier, von 1988 bis 2016 Gesamtleiter des „Campus Christophorus- Jugendwerk, Breisach“, u. a. Vorstandsmitglied BVkE, Lehrbeauftragter KH-Freiburg, Initiator mehrerer Studien im Bereich der Individualpädagogik, zzt. ehrenamtlicher Geschäftsführer EFFSE e.V. Joachim Klein Jg. 1972; Dipl.-Sportwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe (Schwerpunkte EVAS - Evaluationsstudie erzieherischer Hilfen, Ressourcenorientierte Pädagogik, Qualitätsentwicklung im Bereich der Sozialen Arbeit) 432 uj 10 | 2023 Anfragen und Abschlüsse individualpädagogischer Hilfen Als Setting für die Durchführung der individualpädagogischen Hilfe wird am häufigsten eine Projektstelle in Deutschland gewünscht (69,0 %). Projektstellen im Ausland werden in rund 30 % der Fälle als möglicher Durchführungsort angefragt. Reiseprojekte im Inland (11,6 %) oder Ausland (4,3 %) kommen hier aus Sicht der anfragenden Jugendämter deutlich seltener in Frage. Der relativ hohen Anfragesituation stand, so ein wesentliches Ergebnis der Befragung, eine deutlich zu gering ausgeprägte Angebotssituation gegenüber. Lediglich in weniger als jeder sechsten Anfrage (15,7 %) kam es zu einer Aufnahme durch die jeweils angefragte Einrichtung. Am häufigsten (20,7 %) erfolgte eine Ablehnung dort aufgrund fehlender freier Plätze, trotz prinzipiell vorliegender geeigneter konzeptioneller Voraussetzungen. Ungefähr jede sechste Ablehnung (16,2 %) erfolgte zudem, weil die Einrichtungen aufgrund der beschriebenen Symptomatik keine geeignete Hilfe anbieten konnten. Dies deutet darauf hin, dass es eine hohe Zahl junger Menschen mit besonderen Förderbedarfen gibt, für die selbst bei speziell auf Angebote für diese Klientel orientierten Anbietern keine geeigneten Angebote existieren. Eine bedarfsgerechte Anpassung der Angebote lässt sich u. a. aus einem Mangel an Fachkräften, die diese sehr herausfordernde Arbeit auch leisten wollen und können, nur schwer umsetzen. Einen weiteren Hindernispunkt stellen oft bürokratische Hürden dar, die sich auch in unterschiedlichen Betriebserlaubnis- und europäischen Anerkennungsverfahren artikulieren. Aus einer evaluierten Entscheidungsfindungszeit von durchschnittlich fünf Wochen (in mehr als 15 % der Fälle sogar mehr als zwölf Wochen! ) kann sich in Einzelfällen dabei durchaus eine durch Faktoren der „Überregulierung“ erzeugte Kindeswohlgefährdung entwickeln, die das System selbst erzeugt. Die Forderungen und die Umsetzung des § 8 a werden dabei „ad absurdum“ geführt. Häufigste Anfrageanlässe Dissoziale Störungen (z. B. Aggressivität, Delinquenz) Entwicklungsdefizite Problematische Mutter-/ Vater-Kind-Beziehung Vernachlässigung Gefährdung durch soziales Umfeld Problematische Eltern-/ Partner-Beziehung (z. B. Scheidungsproblematik) Suchtgefährdung Gestörte Interaktion zwischen allen Familienangehörigen Inkonsequentes Erziehungsverhalten Familiäre Suchtproblematik 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 46,7 % 36,9 % 33,6 % 27,6 % 22,4 % 19,2 % 17,8 % 14,5 % 14,0 % 13,6 % Abb. 1: Rangliste der häufigsten Anfrageanlässe (Abb.: Joachim Klein) 433 uj 10 | 2023 Anfragen und Abschlüsse individualpädagogischer Hilfen Die Untersuchung ergab weiter, dass mit der Anfrage durch die Jugendämter lediglich in etwas mehr als der Hälfte der Fälle (53,1 %) die für eine fundierte Entscheidung über eine mögliche Aufnahme erforderlichen Unterlagen zur Verfügung gestellt wurden. Dies verwundert zunächst umso mehr, als speziell die betroffene Zielgruppe schon mehrmalige Aufenthalte in unterschiedlichen Institutionen und entsprechende diagnostische Verfahren durchlaufen hat und eigentlich genügend Gutachten und amtliche Beurteilungen vorliegen müssten. Die Frage, warum diese Praxis in diesem Umfang Eingang bei derartigen Anfragen gefunden hat, war leider nicht Bestandteil der Befragung. Erfahrungen aus der Aufnahmepraxis der beteiligten Einrichtungen lassen allerdings vermuten, dass dafür mehrere Ursachen in Frage kommen könnten: ➤ Anfragende Ämter haben verständlicherweise ein großes Interesse, sehr problematische junge Menschen sehr schnell in entsprechende Hilfen unterzubringen. Termin- und Zeitdruck und ein Personalmangel auch bei den öffentlichen Trägern lassen dann eine umfassende Bereitstellung von entsprechenden Unterlagen nicht zu. ➤ Einzelne Mitarbeitende in Sozialen Diensten versprechen sich möglicherweise durch das „Weglassen“ von Informationen einen größeren Erfolg bei der Unterbringung und reichen z. B. entsprechende psychiatrische Gutachten erst nach Aufforderung nach. ➤ Darüber hinaus lässt sich zudem allgemein feststellen, dass es bisher in den erzieherischen Hilfen keine standardisierte und allgemeingültige Festlegung darüber gibt, welche Unterlagen wirklich wichtig und aussagekräftig sind, um ein qualitativ hochwertiges Aufnahmeverfahren zu gewährleisten. Die tatsächliche Praxis gestaltet sich vielfältig und äußerst unterschiedlich. Hier scheint es für die Zukunft wichtig, auf den unterschiedlichen verbandlichen Ebenen der freien und öffentlichen Träger und in Kooperation mit anerkannten Instituten derartige Standards zu entwickeln und ggf. - wie z. B. die Hilfeplanung auch - Häufigste Ursachen der Ablehnung Es gab für diesen jungen Menschen ein geeignetes Angebot in unserer Einrichtung, aber alle vorhandenen Plätze waren zum Anfragezeitpunkt belegt. Das Jugendamt hat ein Angebot einer anderen Einrichtung gefunden/ vorgezogen. Das Jugendamt hat das vorgeschlagene (Auslands-)Angebot abgelehnt. Es gab für diesen jungen Menschen aufgrund seiner Symptomatik kein geeignetes Angebot in unserer Einrichtung. Das Jugendamt hat sich einfach nicht mehr gemeldet. 0 % 5 % 10 % 15 % 20 % 25 % 30 % 35 % 20,7 % 18,0 % 16,2 % 16,2 % 11,3 % Abb. 2: Rangliste der häufigsten Ablehnungsursachen von Anfragen (Abb.: Joachim Klein) 434 uj 10 | 2023 Anfragen und Abschlüsse individualpädagogischer Hilfen gesetzlich zu verankern. Nur aus entsprechend fachlich qualifizierten Aufnahmeverfahren können sich qualifizierte und nachhaltige Hilfen entwickeln und durchführen lassen, die auch tatsächlich dem erzieherischen Bedarf eines jeden jungen Menschen gerecht werden. ➤ Ein weiterer, eher profaner Grund für einen mangelnden Versand von Unterlagen liegt wohl auch darin begründet, dass viele Anfragen nicht nur an einen, sondern an mehrere Träger parallel gestellt werden und daher zunächst nur ein Mindestmaß an Informationen zur Verfügung gestellt wird oder werden kann. Erst bei entsprechenden Zusagen oder bei Interesse werden dann weitere Akten zur Verfügung gestellt. ➤ Als weitere Ursache wirkt sich wohl der vorhandene Fachkräftemangel auch auf die Qualität der Anfragepraxis aus. Eine hohe Fluktuation in Ämtern und hohe Fallzahlen tragen sicherlich mit dazu bei, dass die nötige Genauigkeit und Sorgfalt vielleicht zu kurz kommen. Hier scheint eine Verbesserung der Kommunikation und Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern dringend erforderlich. Auch die Standardisierung mancher Prozesse, z. B. der Aufnahmeverfahren, wäre eine Möglichkeit einer Qualitätsverbesserung und Verkürzung unnötiger Wartezeiten. Als interne Folgerung planen die Mitgliedseinrichtungen des EFFSE e.V. die Gründung einer Arbeitsgruppe, in der zunächst eigene Standards erarbeitet und festgelegt und danach in der Praxis erprobt werden. In einem zweiten Schritt könnten daraus dann weiterführende Aktivitäten auf der fachpolitischen und den verbandlichen Ebenen angeregt und in die Wege geleitet werden. Dies wäre ein erster Schritt, entsprechende Qualitätsanforderungen zu formulieren und zur Anwendung zu bringen. Die beteiligten Institutionen werden außerdem den Versuch unternehmen, öffentliche Jugendhilfeträger, mit denen sie zusammenarbeiten, zu gewinnen, um an diesem Prozess mitzuwirken. Zur Gewinnung von gut ausgebildetem Fachpersonal scheinen ebenfalls Kooperationsmodelle von Trägern und Verbänden mit entsprechenden Akademien und Hochschulen durchaus erfolgversprechend zu sein, die dabei auch die Personengruppen der „QuereinsteigerInnen“ und WiedereinsteigerInnen mitberücksichtigen. Auch hier wird es außerdem notwendig, eine flexiblere Handhabung bei der Anerkennung von Fachkräften zu praktizieren, damit vorhandene Lücken schnellstmöglich beseitigt werden können. Hier sind die Politik und ein notwendiger fachverbandlicher und -politischer „Druck“ erforderlich. Bei der Begutachtung der Umfrageergebnisse stellte sich heraus, dass eine Reihe von als besonders herausfordernd oder problematisch eingestuften Anfragen in einem „Schleifenverfahren“ immer wieder auftauchen. Dies lässt die Vermutung zu, dass es für eine zwar geringe, aber doch vorhandene Anzahl von jungen Menschen kein adäquates Hilfeangebot zu geben scheint. Extreme Störungsbilder, ein hohes Potenzial an selbst- und fremdgefährdendem Verhalten, eine Vielzahl von Abbrüchen von Jugendhilfeangeboten, ergänzt durch eine Vielzahl von Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken und längere Zwischenphasen einer „institutionellen Hilfslosigkeit“, in denen kein Angebot zur Verfügung gestellt werden kann, sind weitere Merkmale derartiger Einzelschicksale. Diese jungen Menschen werden im Allgemeinen dann als sog. „SystemsprengerInnen“ identifiziert, die unsere Gesellschaft meist durch vorhandene prekäre Rahmenbedingungen selbst verursacht hat und denen auch die etablierten Hilfesysteme hilflos gegenüberstehen. Besonders in diesen äußerst schwierigen Fällen scheint es wichtig, institutionelle, strukturelle und administrative Regulierungshürden zu 435 uj 10 | 2023 Anfragen und Abschlüsse individualpädagogischer Hilfen überwinden und im Interesse des jungen Menschen und der Umsetzung seines gesetzlich garantierten Rechtsanspruches auf Hilfe auch neue, mutige und kreative Lösungen zu suchen und zu finden. Dezentrale oder sozialräumliche Lösungen helfen in diesen wenigen, oft extremen Fällen meist nicht weiter, sondern können lediglich in Form von Kriseninterventionen zur Verfügung stehen und erhöhen oft das Problem eher noch, als es zu mindern. Sicher wird es nie möglich sein, allen Hilfeansprüchen vollumfänglich gerecht zu werden. Diese jungen Menschen aber in ständigen „Anfrageschleifen“ in die Volljährigkeit zu begleiten oder ständige Beziehungsabbrüche durch „Fehlunterbringungen“ zu produzieren, ist keine nachhaltige und menschenwürdige Lösung. Untersuchung abgeschlossener individualpädagogischer Hilfen Ein weiterer Strang der Untersuchung war die Frage nach dem Abschluss durchgeführter individualpädagogischer Hilfen im In- und Ausland. Insgesamt wurden für den Zeitraum vom 1. 7. 2019 bis zum 31. 12. 2020 Informationen über 153 abgeschlossene individualpädagogische Hilfen von den an der Studie beteiligten Einrichtungen standardisiert dokumentiert und vom IKJ statistisch analysiert. Das Alter bei Hilfebeginn lag im Schnitt bei 13,3 Jahren. 77,0 % der jungen Menschen waren männlich, 23,0 % weiblich. Rund zwei Drittel (67,5 %) der Hilfen wurden im Inland, ein Drittel (32,5 %) im Ausland durchgeführt. Ebenfalls etwas mehr als zwei Drittel der untersuchten Hilfen wurde als individualpädagogische Hilfe an einer festen Projektstelle durchgeführt (Inland: 47,7 %, Ausland: 20,5 %). Reiseprojekte gab es in knapp jedem siebten Fall (Inland: 8,6 %, Ausland: 5,3 %). Die Dauer der Hilfedurchführung lag durchschnittlich bei knapp zwei Jahren (Ø = 23,3 Monate), wobei rund ein Drittel (34,4 %) eine Hilfedauer von lediglich bis zu einem halben Jahr aufweist. Das Durchschnittsalter der jungen Menschen bei Hilfebeendigung lag bei 15,3 Jahren. Über die Hälfte der Hilfen wurden planmäßig beendet: Mit einer Quote von 53,1 % liegt der Anteil auf etwas höherem Niveau als in den zum Vergleich herangezogenen Bundesdaten des pädagogischen Fachverfahrens EVAS für Hilfen nach § 35 (39,6 %) (vgl. IKJ 2021 a) bzw. § 34 (45,4 %) (vgl. IKJ 2021 b). Abgebrochen wurden die Hilfen am häufigsten auf Initiative der jungen Menschen selbst (50,8 %). Aus der InHAus-Studie wissen wir, dass Partizipation und Kooperation zentrale Bestandteile einer gelingenden individualpädagogischen Hilfe sind (vgl. Klein et al. 2011). Dies bedeutet, dass bei der entsprechenden Auswahl eines Standortes die Wünsche der jungen Menschen - noch mehr als bisher praktiziert - berücksichtigt werden müssen, um Fehlbelegungen und damit Abbrüche zu verhindern - bei schwieriger Personalsituation und vorhandenem Fachkräftemangel kein leichtes Unterfangen. Belegungen nach „freien Plätzen“ dienen sicherlich Art der Beendigung der individualpädagogischen Hilfen abgebrochen/ unplanmäßig 46,9 % abgestimmt/ planmäßig 53,1 % Abb. 3: Art der Beendigung (Abb.: Joachim Klein) 436 uj 10 | 2023 Anfragen und Abschlüsse individualpädagogischer Hilfen der Überbrückung von akuten Krisen, sind aber eher weniger nachhaltig in den Effekten und bedürfen einer intensiveren weiteren partizipativen und perspektivischen Hilfeplanung. Ein weiterer Fokus der fachlichen Bewertung sind neben Kooperation und Partizipation die fachliche und menschliche Qualifikation der Mitarbeitenden. Auch hier müssen Hilfebedarf, fachliches/ menschliches Angebot der Fachkraft und die Bereitschaft beider Seiten zur Zusammenarbeit unabdingbare Voraussetzungen sein, um ungeplante Abbrüche zu minimieren. Auch dies im Hinblick auf den vorhandenen Fachkräftemangel nicht einfach umzusetzen. Dritter und letzter Aspekt ist die fachliche Begleitung und Beratung der Mitarbeitenden, die mit den besonders schwierigen Situationen der jungen Menschen umgehen und mit ihnen arbeiten müssen. Auch hier gehören qualifizierte und erfahrene Fachkräfte zu einem gelingenden Setting dazu, die bereit sind, in den entsprechenden Rahmenbedingungen zu agieren und den Prozess unterstützend und „aushaltend“ zu begleiten. Für gut die Hälfte der jungen Menschen (52,8 %), für die verwertbare Informationen vorliegen (n = 108), ist für die Zeit nach Hilfebeendigung eine Anschlusshilfe geplant, am häufigsten in Form einer Hilfe nach § 34 SGB VIII (Heimerziehung oder sonstige stationär betreute Wohnform). Für knapp die Hälfte der jungen Menschen gibt es demnach also nach Abschluss ihrer individualpädagogischen Hilfe keine entsprechende Anschlussmaßnahme. Vor dem Hintergrund des für stationäre Hilfen im Allgemeinen und Fehlende Mitarbeit bzw. hemmendes/ negatives Verhalten des jungen Menschen Krisen, aktuelle Vorkommnisse Inhaftierung des jungen Menschen Verschlimmerung der Problematik Äußere Umstände seitens der Einrichtung (z. B. Schließung eines Standorts) Falsche, aus fachlicher Sicht nicht ausreichende Hilfe Fehlende Mitarbeit bzw. hemmendes/ negatives Verhalten der Eltern/ Sorgeberechtigten Äußere Umstände seitens der Familie (z. B. Umzug, neue Partnerschaft) Äußere Umstände seitens der Betreuungspersonen (z. B. Erkrankung) 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % Ursachen des Hilfeabbruchs 50,8 % 27,1 % 11,9 % 10,2 % 10,2 % 8,5 % 8,5 % 8,5 % 1,7 % Abb. 4: Rangliste der Ursachen des Hilfeabbruchs (Abb.: Joachim Klein) 437 uj 10 | 2023 Anfragen und Abschlüsse individualpädagogischer Hilfen individualpädagogische Hilfen im Speziellen empirisch nachgewiesenen Bedarfs an nachsorgenden Angeboten (vgl. u. a. Klein et al. 2021; Klawe 2010) besteht hier ein deutlicher Mangel im Hinblick auf eine nachhaltig angelegte Hilfeplanung. Berücksichtigt man darüber hinaus noch den Anteil von knapp 30 % an Hilfen, für die den durchführenden Einrichtungen keine Informationen über die Planungen für die Zeit nach Beendigung der Hilfe vorliegen, muss für einen (viel zu) großen Teil der untersuchten individualpädagogischen Hilfen festgestellt werden, dass eine fundierte, zwischen allen relevanten Hilfebeteiligten abgestimmte Planung einer fachlich qualifizierten Nachsorge für die jungen Menschen nicht stattfindet. Viele der Jugendlichen - so lässt sich vermuten - „landen“ dann wieder in diversen „Anfrageschleifen“ und erhalten wiederum auf unbestimmte Zeit nicht die Hilfe und Unterstützung, die sie in ihrer schwierigen Situation benötigen. Fazit und Ausblick Aus den vorliegenden Ergebnissen der ersten basalen Befragung zur Anfragesituation und zu Abschlüssen individualpädagogischer Hilfen lassen sich die folgenden grundlegenden Erkenntnisse ableiten: 1. Der relativ hohen Anfragesituation steht eine deutlich zu gering ausgeprägte Angebotssituation gegenüber. Dies deutet darauf hin, dass es eine hohe Zahl junger Menschen mit besonderen Förderbedarfen gibt, für die selbst bei speziell auf Angebote für diese Klientel orientierten Anbietern keine geeigneten Angebote existieren. Hier sind die Politik sowie die Jugendhilfelandschaft im Allgemeinen, aber auch diese Anbieter im Besonderen gefragt, zusätzliche passende Angebote zu schaffen, um mehr jungen Menschen in besonders prekären Lebenslagen geeignete Hilfen zukommen lassen zu können. 2. Eine Qualitätsverbesserung des Anfragebzw. Aufnahmeverfahrens (u. a. zur Verkürzung von unnötigen und fachlich kontraproduktiven Wartezeiten) ist dringend erforderlich. Hierzu wäre neben einer Verbesserung der Kommunikation und Kooperation zwischen öffentlichen und freien Trägern auch die Standardisierung der dazu notwendigen Prozesse höchst sinnvoll. 3. Bei Beendigung einer individualpädagogischen Hilfe (sowohl bei planmäßig beendeten als auch bei abgebrochenen Hilfen) sollten obligatorisch eine fachliche Klärung des weiter bestehenden Förderbzw. Unterstützungsbedarfs sowie eine konkrete Planung möglicher weiterer Hilfeangebote durchgeführt werden. Die Beendigung einer Hilfe ohne Klärung einer Anschlussperspektive sollte, wenn irgendwie möglich, vermieden werden. Neben der Ableitung dieser konkreten Optimierungsvorschläge hat sich aus der relativ kleinen EFFSE-Untersuchung heraus der Bedarf zur Durchführung einer größeren, umfassenderen Studie zum Themenbereich „Hilfen für junge Menschen mit besonderen Förderbedarfen“ („SystemsprengerInnen“) gezeigt. Überlegenswert wäre hierzu z. B. die Initiierung und Erprobung eines zumindest landes-, besser bundesweit konzipierten und wissenschaftlich begleiteten zentralen Modellprojekts. Darin könnte z. B. eine kleine, handlungsfähige, ausgesuchte Gruppe erfahrener Fachkräfte und Institutionen eine entsprechende „Task- Force“ für diese Zielgruppe bilden, entsprechende Einzelfälle prüfen und Konzepte und Hilfsangebote empfehlen, die für diese jungen Menschen in Frage kommen. Diese zentralisierte Vorgehensweise, z. B. in der Organisationshoheit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, könnte dazu beitragen, institutionelle Hindernisse regionaler Institutionen abzubauen. Sie kann weiter dazu führen, dass für diese dann sicherlich besonderen 438 uj 10 | 2023 Anfragen und Abschlüsse individualpädagogischer Hilfen Hilfen eine breitere fachliche Akzeptanz erfolgt. Möglicherweise bildet sich dabei auch eine hoch spezialisierte Angebotsstruktur heraus, die mit derartigen besonderen Herausforderungen fachlich anspruchsvoll umgehen kann. Das Modellprojekt sollte längerfristig konzipiert sein, um eine entsprechend aussagefähige Begleitforschung zu ermöglichen. Ziele wären, die Hilfsangebote für diese Zielgruppe zu professionalisieren, ständiges Scheitern zu verhindern, Prävention zu betreiben, den gesetzlichen Auftrag umzusetzen und auf Dauer auch gesellschaftliche Folgekosten zu minimieren. Ein wichtiger Teil der Begleitforschung könnte die Herausarbeitung von aussagekräftigen katamnestischen Informationen sein, die einen Einblick darüber geben, wie sich der „Karriereverlauf“ der jungen Menschen entwickelt hat, welche Faktoren dafür ursächlich waren und welche Hilfen und Angebote ihn möglicherweise verkürzt oder sogar präventiv verhindert hätten. Wir werden als EFFSE e.V., neben der Erarbeitung von Standards für das Aufnahmeverfahren und die Zusammenstellung entsprechender aussagefähiger Unterlagen, einen zweiten Schwerpunkt auf die Verbesserung der Kommunikation und Partizipation sowie die Begleitung der individualpädagogischen Hilfen legen. Dies wird mithilfe von Fort- und Weiterbildungen sowie der Weiterentwicklung partizipativer Konzepte geschehen und ggf. in einer folgenden Evaluation erneut überprüft weden. Inwieweit die Ergebnisse der fachlichen Weiterentwicklung dann als Empfehlungen in Fachveröffentlichungen oder fachpolitische und verbandliche Diskussionen Einzug halten, wird abzuwarten sein. Norbert Scheiwe EFFSE - Europäisches Forum für soziale Bildung e.V. Angelgärten 11 79206 Breisach E-Mail: nscheiwe@t-online.de Joachim Klein IKJ Institut für Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Altendorfer Str. 237 45143 Essen E-Mail: klein@ikj-mainz.de Literatur Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) (2021 a): EVAS- Datenbericht 2020 - Hilfeartspezifischer Gesamtbericht § 35. IKJ, Mainz Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) (2021 b): EVAS- Datenbericht 2020 - Hilfeartspezifischer Gesamtbericht § 34. IKJ, Mainz Klawe, W. (2010): Verläufe und Wirkfaktoren Individualpädagogischer Maßnahmen. AIM Bundesarbeitsgemeinschaft Individualpädagogik, Köln Klein, J., Arnold, J., Macsenaere, M. (2011): InHAus - Individualpädagogische Hilfen im Ausland: Evaluation, Effektivität, Effizienz. Lambertus, Freiburg Klein, J., Macsenaere, M., Hiller, S. (2021): Care Leaver - stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit. Lambertus, Freiburg