eJournals unsere jugend 75/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2023.art58d
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2023
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Individualpädagogische Bewältigungsformen für Entwicklungstraumata

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2023
Frauke Mangels
Die Jugendhilfeangebote individualpädagogischer Träger scheinen besonders geeignet, um traumatisierten jungen Menschen langfristig gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Entwicklungstraumatisierte Kinder und Jugendliche, die aufgrund ihres „nicht tragbaren“ Verhaltens aus Jugendhilfe, Bildungs- und Gesundheitswesen exkludiert werden, können aus der Perspektive der ExpertInnen aus dem Arbeitsfeld „Individualpädagogik“ innerhalb individualisierter Jugendhilfe- und Bildungssettings einen geeigneten Förderrahmen vorfinden. Grundlagen sind ein individuelles Bildungs- und Betreuungskonzept, getragen durch kompetente Fachkräfte entwicklungsorientierter Jugendhilfeträger, sowie eine umfassende rechtliche, behördliche und gesellschaftliche Einbettung.
4_075_2023_10_0004
420 unsere jugend, 75. Jg., S. 420 - 430 (2023) DOI 10.2378/ uj2023.art58d © Ernst Reinhardt Verlag Individualpädagogische Bewältigungsformen für Entwicklungstraumata Die Jugendhilfeangebote individualpädagogischer Träger scheinen besonders geeignet, um traumatisierten jungen Menschen langfristig gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Entwicklungstraumatisierte Kinder und Jugendliche, die aufgrund ihres „nicht tragbaren“ Verhaltens aus Jugendhilfe, Bildungs- und Gesundheitswesen exkludiert werden, können aus der Perspektive der ExpertInnen aus dem Arbeitsfeld „Individualpädagogik“ innerhalb individualisierter Jugendhilfe- und Bildungssettings einen geeigneten Förderrahmen vorfinden. Grundlagen sind ein individuelles Bildungs- und Betreuungskonzept, getragen durch kompetente Fachkräfte entwicklungsorientierter Jugendhilfeträger, sowie eine umfassende rechtliche, behördliche und gesellschaftliche Einbettung. von Frauke Mangels Jg. 1966; Studium Dipl. Soz. Arb./ Soz. Päd. (FH) und Sozialmanagement (Uni), Systemische Familientherapeutin, Traumapädagogin/ -therapeutin, Qualitätsfachkraft im Sozial- und Gesundheitswesen In qualitativen ExpertInneninterviews im Rahmen einer Dissertation (vgl. Mangels 2022) äußerten sich 16 GestalterInnen des Arbeitsfeldes „Individualpädagogik“ unter anderem zu der Frage, wie traumatisierte junge Menschen in der Jugendhilfe zugunsten gesellschaftlicher Teilhabe erfolgreich begleitet werden können. InterviewpartnerInnen 1 waren zehn TrägervertreterInnen aus Leitung oder mittlerem Management sowie ExpertInnen, dieTräger beraten, in Fachverbänden Verantwortung übernehmen oder die zum Thema „Individualpädagogik“ veröffentlicht haben. Innerhalb eines Mixed- Methods-Designs 2 lag das Forschungsinteresse auf einer Erhebung von Gelingensbedingungen für die nachweislich erfolgreiche Jugendhilfe individualpädagogischer Träger (vgl. Macsenaere 2014, 32) mit hochbelasteten, schwer erreichbaren jungen Menschen, die überwiegend von Traumatisierungen betroffen sind. 1. Exklusion hochbelasteter junger Menschen aus Jugendhilfe, Bildungs- und Gesundheitswesen Wenn Jugendämter bei individualpädagogischen Trägern eine Aufnahme anfragen, können die jungen Menschen bereits auf eine lange „Jugendhilfekarriere“ zurückblicken. Während einige wenige Kinder in jüngerer Zeit auf direktem Wege aus den Familien in individualpäd- 1 Im Folgenden „ExpertInnen“ genannt. 2 Zu den Forschungsmethoden gehörten schwerpunktmäßig 16 qualitative ExpertInneninterviews sowie ergänzend ein Begleitfragebogen für die statistische Auswertung von Rahmendaten, eine Dokumentenanalyse und teilnehmende Beobachtung bei zwei Jugendhilfeträgern. 421 uj 10 | 2023 Entwicklungstraumata und Individualpädagogik agogische Maßnahmen vermittelt werden, hat der größere Teil bereits mehrere Einrichtungen durchlaufen. Ein/ e ExpertIn spricht von mehr als 20 gescheiterten Hilfen im Kontext von Jugendhilfeeinrichtungen und geschlossener Psychiatrie. Trotz hohen Bedarfs werden traumatisierte junge Menschen mit komplexen Problemkonstellationen aus allen Hilfesystemen ausgeschlossen. Die„klassischen Systemsprenger (…), die schon aus anderen Einrichtungen rausgefallen sind“ (InterviewpartnerIn K., Abs. 37), zeigen ihr Verhalten besonders in Gruppen, wie die ExpertInnen berichten. Die Traumafolgen der jungen Menschen in individualpädagogischen Maßnahmen sind für reguläre Jugendhilfeeinrichtungen zu herausfordernd: „Einnässen, einkoten, Kinder, die nicht laufen und sprechen können, Gruppenunfähigkeit, aggressives und zerstörerisches Verhalten, Leistungsverweigerung, Schule schwänzen, klauen, Drogenmissbrauch. Kinder mit blauen Flecken (…), zu auffällig, um die in ein Kinderheim zu bringen.“ (InterviewpartnerIn E., Abs. 80) Kinder und Jugendliche mit gravierenden Traumafolgen, die wegen Kindeswohlgefährdungen in stationäre Jugendhilfeeinrichtungen aufgenommen wurden, müssen diese nach kurzer Zeit wieder verlassen. Aufgrund langjährig manifestierter Strukturen kann den jungen Menschen dort die notwendige, auf Sympathie, Engagement und Wertschätzung basierende professionelle Begleitung durch eine kontinuierliche Bezugsperson nicht angeboten werden, wie sie die Resilienzforschung als wichtigste Voraussetzung für die Bewältigung belastender biografischer Erfahrungen identifiziert hat (vgl. Fröhlich-Gildhoff/ Rönnau-Böse 2017, 718; Petermann/ Schmidt 2006, 118). Auch im Kontext des Gesundheitswesens, in den Kinder- und Jugendpsychiatrien, finden traumatisierte junge Menschen keinen geeigneten Rahmen für die Bewältigung ihrer Traumafolgesymptomatik, weil den Psychiatrien die Aufnahmekapazitäten fehlen und Traumatherapien dort nicht angeboten werden, wie die ExpertInnen beschreiben. Es mangelt an therapeutischen Verfahren für die Behandlung entwicklungstraumatisierter Menschen, aber auch an Kinder- und Jugendlichen-TherapeutInnen mit traumatherapeutischer Ausbildung. In Deutschland bleibt jungen traumatisierten Menschen die Möglichkeit, sich über Bildung und berufliche Entwicklung aus schädigenden Milieus herauszubewegen, oft verwehrt, da sie dafür zu wenig adäquate Unterstützung erhalten. Im Bildungsbereich stehen nicht nur die in der PISA-Studie ermittelten Faktoren einer Bildungsteilhabe entgegen (vgl. Solga/ Dombrowsi 2009, 13), sondern das Bildungssystem reagiert auf Traumafolgen mit befristetem oder gänzlichem Ausschluss, wie die ExpertInnen berichten. 2. Entwicklungstraumatisierte Kinder und Jugendliche: die AdressatInnen individualpädagogischer Maßnahmen Die ExpertInnen aus dem individualpädagogischen Jugendhilfekontext beschreiben junge Menschen in individualpädagogischen Maßnahmen als mehrfach belastete Kinder und Jugendliche, die meist gravierende Kindesmisshandlungen erlebt haben: „Multiple Deprivation könnte man sagen. Alle möglichen Dinge, die falsch laufen im Leben, haben diese Kinder mitgemacht. Sexueller Missbrauch, selber aggressiv, Schulverweigerer (…), Prostitution, Obdachlosigkeit, Vernachlässigungen (…). Gewalterfahrungen in jeder Form. Kleinkriminalität (…). Das waren also Ausgestoßene für meine Begriffe, um die sich (…) niemand so richtig kümmern wollte.“ (InterviewpartnerIn H., Abs. 29) 422 uj 10 | 2023 Entwicklungstraumata und Individualpädagogik Im Vergleich zu anderen Hilfeformen zeigen AdressatInnen in individualpädagogischen Maßnahmen einen überproportional hohen Anteil an Traumaerfahrungen in der Vorgeschichte. Auch für die ExpertInnen sind manche Situationen nur schwer beschreibbar: Lebensverhältnisse sehr junger Kinder, die aufgrund von Substanzkonsum oder psychischer Erkrankung der Eltern über Jahre hinweg nicht versorgt wurden oder die zum Zwecke kinderpornografischer Veröffentlichungen im Internet von den Sorgeberechtigten sexuell ausgebeutet wurden. Die Kinder und Jugendlichen in individualpädagogischen Maßnahmen sind in der Regel nicht nur von Schocktraumata, sondern überwiegend von Entwicklungs- und Bindungstraumatisierung 3 betroffen, für die bisher nur wenige therapeutische Behandlungsansätze vorliegen. Die ExpertInnen beschreiben Symptome der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung 4 und Entwicklungstraumatisierung 5 . Die jungen Menschen sind in traumatisierenden Lebensverhältnissen aufgewachsen und haben wiederholt Beziehungsabbrüche erlebt. Bei Mädchen, deren Anteil in individualpädagogischen Hilfen steigt, gehört besonders sexuelle Gewalt zu den Vorerfahrungen. Die ExpertInnen erklären sich dadurch die gravierenderen Verhaltensauffälligkeiten von Mädchen: „Wir (…) erleben, dass (…) die Mädchen (…), die wir als Anfrage bekommen, sehr heftige Verläufe haben, Lebensverläufe, Hilfeverläufe. Sehr einschneidende Auffälligkeiten zeigen (…), sehr viel stärker als bei den Jungs.“ (InterviewpartnerIn C., Interview 1, Abs. 61) In den Herkunftsfamilien der jungen Menschen führen überwiegend materielle Notlagen dazu, dass psychische Belastungen kaum kompensiert werden können. Armut verschärft die vorhandenen Problemlagen im psychosozialen Bereich. Während ein großer Teil der ExpertInnen junge Menschen beschreibt, deren Familien von prekären wirtschaftlichen Bedingungen betroffen und die „in höchster Armut aufgewachsen sind“ (InterviewpartnerIn A., Abs. 11), mit dauerhaften Erfahrungen von „Unsicherheit, was die existenzielle Versorgung anbelangte, also Geld, Finanzen“ (InterviewpartnerIn E., Abs. 55), berichten andere InterviewpartnerInnen auch von AdressatInnen aus gut situierten Elternhäusern, bei denen emotionale Vernachlässigung im Vordergrund steht. Eltern waren aufgrund von Suchterkrankungen, psychischen Erkrankungen oder Überforderung nicht präsent. Kinder wurden in frühen Jahren sich selbst überlassen und mussten sich selbst und ihre jüngeren Geschwister versorgen. Vor ihrer Aufnahme in individualpädagogische Maßnahmen haben viele Kinder und Jugendliche ihre Familien verlassen, sich an ungünstigen Peergroups orientiert oder sind straffällig geworden. Besonders bei Mädchen gehört Prostitution zu den Vorerfahrungen. 3. Traumafolgen als Herausforderung für die Jugendhilfe Traumata haben Folgen für Lern- und Leistungsfähigkeit, für das Selbstvertrauen, für soziale Kompetenz und Empathiefähigkeit (vgl. Schmid 2008, 300). Traumata erschüttern das Vertrauen grundlegend (vgl. Gahleitner 2012, 29). So schildert ein/ e ExpertIn am Fall die Folgen von Gewalt und Vernachlässigung in den ersten Lebensjahren: 3 Lebenslange Teilhabeeinschränkungen resultieren besonders aus Entwicklungs- und Bindungstraumatisierungen in den ersten Lebensjahren (vgl. Besser 2009, 42; Brisch 2009, 139; Weinberg 2005, 85). 4 Fehlende Impulskontrolle, negatives Selbstbild und Probleme in Beziehungen (vgl. Korittko 2016, 43). 5 Affektive und physiologische Dysfunktion, Dysregulation von Aufmerksamkeit und Verhalten, Schwierigkeiten der Selbstregulation und Beziehungsgestaltung (vgl. ebd.). 423 uj 10 | 2023 Entwicklungstraumata und Individualpädagogik „Ein Junge, 16 Jahre. Adoptiert worden mit 17 Monaten. Über seine Vorgeschichte weiß man nur, schwerste Misshandlungen im Säuglingsalter. Er kann sich an nichts erinnern (…). Der scheitert an Bildung (…). Der scheitert an Sozialverhalten. Schon im Kindergarten (…). Die ganze Geschichte (…) ist gezeichnet durch Gewalt, Kriminalität, Drogen bis hin dazu, dass er irgendwann seiner Adoptivmutter eine Knarre an den Kopf gehalten hat. Eine Pistole. (…) Dieser Junge konnte nicht schlafen. Sobald er geschlafen hat, war es aus seiner Sicht ein Kontrollverlust (…). Dunkelheit, Angst. Immer Licht an. Schlagstock und Messer IMMER auf der Nachttischkonsole.“ (InterviewpartnerIn R., Abs. 101 - 103) Als Traumafolgen beobachten die ExpertInnen in erster Linie aggressive Verhaltensweisen. Sie berichten auch von sexuellen Auffälligkeiten bei einem Teil der AdressatInnen, die über Prostitution bis hin zu Täterschaft reichen: „Heb mal Dein T-Shirt hoch, sonst haue ich Dir einen Stein übern Kopf“ (InterviewpartnerIn K., Abs. 55). Ein/ e ExpertIn berichtet von Jugendlichen in individualpädagogischen Betreuungsstellen, die wegen Mordes angeklagt wurden. Über die jungen Menschen mit Traumaerfahrungen berichten sie, dass diese nach bestimmten, meist unbekannten Auslösereizen, sogenannten „Triggern“ 6 , „aus banaler Situation heraus abgehen wie eine Rakete“ (InterviewpartnerIn H., Abs. 136). Die Stressregulation und Impulssteuerung bereitet traumatisierten jungen Menschen erhebliche Probleme, die in Gruppenkontexten der stationären Jugendhilfe kaum kompensiert werden können: „Traumamäßig gibt es drei Strategien (…). Das eine ist: ich flieh. Wenn (…) ich angetriggert werde. Oder ich gehe nach vorne. Ich werde (…) aggressiv. Oder ich erstarre. Und genauso agieren die. Die kommen also in Kontexte von der Regelgruppe. Werden irgendwie angetriggert und rasten völlig aus (…). Und dann heißt das immer ganz schnell, er ist für die Gruppe nicht tragbar. Der gefährdet andere. Weil niemand auf das Trauma eingeht und die Hilfe an der Stelle für die Jugendlichen vollkommen ungeeignet ist. Die brauchen ganz was anderes. Wenn man es weiß, kann man anders damit umgehen und auch mit den Jugendlichen arbeiten.“ (InterviewpartnerIn G., Abs. 61 - 67) Dass manche junge Menschen zunächst „nicht erreichbar“ sind, schreiben die ExpertInnen den Traumaerfahrungen zu: „Viele Jugendliche haben Erfahrungen mit körperlicher Gewalt (…). Oft haben wir Jugendliche, die so Ausreißer sind. Die es gar nicht aushalten, irgendwo länger zu sein. Ein Jugendlicher mit (…) gestörtem Bindungsverhalten, bei dem ist es dann total schwierig, überhaupt einen Zugang zu finden. (…) Wir haben (…) es oft, dass Jugendliche ihren Rauswurf provozieren. Weil die das gewohnt sind. Und (…) es den Anschein hat, dass sie das gar nicht ertragen.“ (InterviewpartnerIn C., Interview 1, Abs. 91, 181) Die InterviewpartnerInnen verweisen ergänzend auf die weniger offensichtlichen Symptome, auf Ängste, Schlafstörungen, Vermeidungsstrategien wie Schulabsentismus, auf einen Mangel an Vertrauen und Zuversicht, die aus der Perspektive der ExpertInnen noch zu wenig im Fokus stehen. Während viele AdressatInnen tagsüber durch Aggressionen auffallen, haben sie nachts Angst vor der Dunkelheit und ins- 6 Sinnesreize, die dem früheren Traumaerleben ähneln, können in der Gegenwart die Erinnerung an das Trauma aktivieren. Die Betroffenen erleben das vergangene Traumageschehen in der Gegenwart erneut: Sie hören die gleichen Gerüche, Geräusche, sehen die gleichen Bilder und fühlen sich, als würden sie die traumatische Situation erneut durchleben. Wenn beispielsweise ein scharfer Blick des Pädagogen dem Blick des Elternteils in einer Gewaltsituation ähnelt, werden unmittelbar ein zunächst nicht steuerbares Kampf- oder Fluchtverhalten oder Unterwerfung und Erstarrung ausgelöst (vgl. Mangels 2015, 150). 424 uj 10 | 2023 Entwicklungstraumata und Individualpädagogik gesamt Angst vor dem Alleinsein. Es fällt ihnen schwer, die Ängste den Fachkräften gegenüber zu thematisieren, da sie mit Sprachlosigkeit einhergehen. Die ExpertInnen berichten von selbstverletzendem Verhalten, von sozialem Rückzug mit hohem Medienkonsum und Weglaufen, oft verbunden mit Selbstgefährdungen. Von Mädchen mit sexualisierten Gewalterfahrungen berichten die TrägervertreterInnen, dass diese sich durch traumabedingte Dissoziation 7 oft unabschätzbaren Risiken aussetzen. Die ExpertInnen stellen die Verhaltensauffälligkeiten in den Kontext prekärer Lebensverhältnisse und Kindesmisshandlungen. Mit den Bewältigungsstrategien, die die jungen Menschen durch langjährige innerfamiliäre Traumatisierung entwickelt haben, können viele stationäre Jugendhilfeeinrichtungen nicht umgehen, wenn sie in Heimgruppen gehäuft auftreten. Eine Potenzierung der Problemlagen wird dadurch im Verlauf der Hilfen begünstigt, denn wie Keilson als Ergebnis seiner Forschung mit jüdischen Kriegswaisen betont, kommt nicht allein den frühen Schädigungen, sondern der Ausgestaltung der nachfolgenden Lebensformen besondere Bedeutung zu (vgl. Bohleber 2000, 814; Keilson 2005, 269). 4. Individualpädagogische Bewältigungsformen für Entwicklungstraumata Traumapädagogische Ansätze wurden seit 2006, einige Jahre nach Etablierung traumatherapeutischer Verfahren, in die Jugendhilfe eingeführt. Die Traumapädagogik versteht sich heute als eigene Fachrichtung. Die Pädagogik des sicheren Ortes (vgl. Kühn 2009, 27) kombiniert als traumapädagogisches Konzept die Aufgabe, für die Erfüllung basaler Bedürfnisse wie ein sicheres, gewaltfreies Leben zu sorgen, mit körperorientierten Verfahren aus der Traumatherapie zugunsten der Selbststeuerung und Stressregulation. Die Pädagogik der Selbstbemächtigung (vgl. Weiß 2009 a, 13ff; Weiß 2009 b, 157) schließt mit der Betonung partizipativer Jugendhilfeerfahrungen als Kontrast zur traumatischen Ohnmacht an Empowerment in der Sozialen Arbeit an. Die aus der Trauma- und Bindungsforschung abgeleitete bindungsorientierte Pädagogik (vgl. Brisch 2009, 139ff ) stellt die Bedeutung kontinuierlicher, wertschätzender Hilfebeziehungen in den Vordergrund. Für die Fachkräfte ist die Bereitschaft, aber auch die Fähigkeit zur professionellen Nähe anstelle sogenannter „professioneller Distanz“ gefragt (vgl. Scherwath/ Friedrich 2012, 82). Seither wird versucht, traumapädagogische Konzepte innerhalb institutioneller Strukturen einzuführen. Die InterviewpartnerInnen merken jedoch an, dass sie sich innerhalb von Heimeinrichtungen nicht umsetzen lassen. Wie sich aus den Beschreibungen der Probleme der Heimerziehung ableiten lässt, kann dort nicht von einer stressreduzierten Lebenswelt ausgegangen werden. Sicherheit vor Gewalt und eine kontinuierliche Beziehung zu einer wertschätzenden, nicht nur im Krisenfall verfügbaren Fachkraft 8 lassen sich dort aus strukturellen Gründen nicht herstellen. Partizipative Prozesse und Selbstwirksamkeitserfahrungen müssen zugunsten eines möglichst reibungslosen Ablaufes in der Gruppe in den Hintergrund gestellt werden. 7 Pierre Janets Theorie der Dissoziation jedoch wurde erst in den 80er-Jahren wiederentdeckt (vgl. Wolfradt 2006, 180ff ). „Dissoziation kann man als eine völlige ‚Einstellung‘ jeglicher Außenwahrnehmung und Körperwahrnehmung betrachten. Eine chronisch erhöhte Dissoziationsneigung führt folglich zu einer Vernachlässigung der Wahrnehmung mit allen Sinneskanälen“ (Schmid 2008, 297). 8 Der Begriff der Fachkraft folgt hier der Definition des SGB VIII, die bestimmte Berufsgruppen, i. d. R. SozialarbeiterInnen und -pädagogInnen sowie ErzieherInnen, jedoch auch Menschen mit besonderer Eignung für die jeweilige Tätigkeit beschreibt. 425 uj 10 | 2023 Entwicklungstraumata und Individualpädagogik Innerhalb der vorliegenden Studie konnte auf Grundlage der Aussagen der ExpertInnen, die seit mehreren Jahrzehnten erfolgreich mit hochbelasteten Kindern und Jugendlichen arbeiten, herausgearbeitet werden, welche Bedingungen aus ihrer Perspektive notwendig sind, um traumapädagogische Konzepte adäquat umzusetzen. Die jungen Menschen, die vor ihrer Aufnahme in eine individualpädagogische Maßnahme existenzielle Unsicherheit und Bedrohung als durchgängige biografische Erfahrung erlebt haben, benötigen als zwingende Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe physische und psychische Stabilität, kulturelle Teilhabe, soziale Wertschätzung und Entscheidungsmöglichkeiten über bedeutende Belange ihres Lebens: Sie benötigen einen sicheren Ort, psychische Stabilisierung durch eine vertrauensstarke Beziehung, Selbstwirksamkeit und Bildungschancen. Individualpädagogische Projekt- und Betreuungsstellen 9 eignen sich aus der Perspektive der ExpertInnen als sichere Orte im Sinne der Traumapädagogik. Der individualpädagogische Ansatz bietet den jungen Menschen als Kontrast zu destruktiven lebensweltlichen Erfahrungen im Herkunftsmilieu eine konträre Lebenswelt als Entwicklungsort auf Zeit an, die sich am Hilfebedarf orientiert. Ihre Eignung als Jugendhilfesetting wird an der Frage gemessen, ob die Umgebungsfaktoren die für eine Entwicklung neuer Bewältigungsstrategien notwendigen Beziehungs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen zulassen. Die jungen Menschen können in der alternativen Lebenswelt Erfahrungen machen, die ihnen in ihrer bisherigen, meist von existenzieller Bedrohung gekennzeichneten Biografie verwehrt wurden. Vor TäterInnen werden die jungen Menschen, sofern notwendig, durch Zugangsbarrieren in Form weiter Entfernungen geschützt. Die Fach- 9 Die Jugendhilfeträger bezeichnen die dezentralen, für jeweils einen jungen Menschen konzipierten Jugendhilfesettings synonym als Projektstelle, Betreuungsstelle oder individualpädagogisches Setting. Es kann sich hier um einen festen Standort (im In- oder Ausland) oder ein Reiseprojekt handeln. Abb. 1: Dimensionen traumasensibler Individualpädagogik (eigene Darstellung) Vertrauensstarke Beziehung Selbstwirksamkeit Bildung Ausbildung Sicherer Ort Physische Sicherheit Kulturelle Teilhabe Psychische Stabilisierung Soziale Wertschätzung 426 uj 10 | 2023 Entwicklungstraumata und Individualpädagogik kräfte präsentieren sich nicht als Familienersatz, sondern als professionelle EntwicklungspartnerInnen, die sich dennoch als ganze Person einbringen und rund um die Uhr an der Seite der Kinder und Jugendlichen stehen. Individualpädagogische Hilfen werden als Projekt- und Betreuungsstellen in überwiegend ländlichen Gegenden und in Form von Reiseprojekten im In- und Ausland realisiert. Sie unterscheiden sich in ihrer Ausgestaltung und ihren Handlungsansätzen deutlich von klassischen Heimunterbringungsformen und sind auch innerhalb eines Jugendhilfeträgers sehr unterschiedlich. Es handelt sich um Jugendhilfesettings mit einem Betreuungsschlüssel von 1 : 1 oder auch 1 : 2 (ein junger Mensch, zwei Fachkräfte) als ambulante, aber meist stationäre Hilfeformen. Die Settings sollen dem jungen Menschen ein geeignetes Handlungsfeld für die Bewältigung biografischer Belastungen bieten. Im Vordergrund steht eine gewaltfreie Kultur der Verständigung, die die Fachkraft als kontinuierliches Beziehungsangebot auf Grundlage einer wertschätzenden beruflichen Haltung gestaltet. Da es sich bei Traumafolgestörungen um Störungen der Stressverarbeitung handelt, können die betroffenen jungen Menschen allein in einem Umgebungsmilieu, das als Gegensatz zur traumatischen Belastung eine Entlastung von umfangreichen Stressfaktoren ermöglichen kann, Entwicklungsschritte vollziehen. Da die Stressbelastung bei traumatisierten Menschen anhält, auch wenn die traumatische Situation vorüber ist (vgl. Weinberg 2005, 85), müssen Jugendhilfeangebote stressfrei sein, wenn sie Weiterentwicklung ermöglichen sollen (vgl. Besser 2009). Die jeweilige Betreuungsstelle eignet sich in der Regel ausschließlich für den jeweiligen Einzelfall. Ihre Eignung für die Betreuung von hochbelasteten jungen Menschen lässt sich nicht generalisieren, da die BetreuerInnenpersönlichkeit und die Umgebungsfaktoren zu Bedarf und Zielsetzung passen müssen. Individualpädagogische Jugendhilfeträger setzen die Subjektorientierung so konsequent um, dass sie mit den jungen Menschen ausschließlich auf freiwilliger Basis arbeiten, sie als ExpertInnen für ihr Leben verstehen, ihre Lebensziele gemeinsam zu ergründen suchen und für deren Umsetzung beratend zur Seite stehen. Mehrere InterviewpartnerInnen beschreiben den therapeutischen Charakter individualpädagogischer Maßnahmen. Als „Naturschutzgebiete für ihre Seelen“ (Besser 2009, 51) brauchen die Kinder und Jugendlichen aus der Perspektive der ExpertInnen ein entlastendes Umfeld, wie es Gahleitner (2005, 109; 112) als therapeutisches Milieu beschreibt. Die Sicherheit, die die jungen Menschen in ihrer Biografie nicht erleben konnten, soll ihnen innerhalb der Jugendhilfe realisiert werden. Die Projekt- und Betreuungsstellen halten als sichere Orte innerhalb eines wertschätzenden Milieus praktische Betätigungsfelder bereit, die sich an den Interessen der Kinder und Jugendlichen orientieren und ihnen unmittelbare Erfolgserfahrungen erlauben. Ganzheitliche, erlebnisorientierte Lernszenarien, die heute als wesentlich für Lernprozesse beschrieben werden, weil sie alle Sinne einbeziehen (vgl. Eisinger 2016, 81f ), werden in individualpädagogischen Betreuungsstellen nicht zu pädagogischen Zwecken konstruiert oder in therapeutische oder erlebnispädagogische Angebote ausgelagert, sondern können als alltägliche Erfahrung besonders in langfristig angelegten individualpädagogischen Maßnahmen ihre Wirkung entfalten. Eine kontinuierlich präsente, verlässliche, wertschätzende, aber auch stabile und emotional unabhängige Bezugsperson, die dem jungen Menschen über die Dauer mehrerer Jahre eine Entwicklungspartnerschaft anbietet, stellt eine der wesentlichsten Gelingensbedingungen für die Traumabewältigung in individualpädagogischen Maßnahmen dar. Die Exklusivi- 427 uj 10 | 2023 Entwicklungstraumata und Individualpädagogik tät der Beziehung in individualpädagogischen Settings macht einen Beziehungsaufbau zu jungen Menschen, die von Gruppenkontexten nicht erreicht werden können, erst möglich. Die psychische Stabilisierung traumatisierter Menschen setzt eine vertrauensstarke Beziehung voraus, eine Fachkraft, die einen „sicheren Hafen“ bietet, „wo die Wellen des Lebens im Innen und Außen der Menschen hochschlagen“ (Scherwath/ Friedrich 2012, 82). Neben der Beziehungskontinuität wird von den ExpertInnen die besondere Qualität der Beziehung, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der beruflichen Haltung der Fachkräfte individualpädagogischer Träger steht, herausgestellt. Im Vordergrund der individualpädagogischen Maßnahme steht die Fachkraft, die einen „Herzensplatz“ anbietet, wie ein/ e ExpertIn beschreibt: „Dass ein Jugendlicher das Gefühl bekommt, hier darf ich sein und hier bin ich gewünscht.“ (InterviewpartnerIn L., Abs. 103) Das „Beziehungsangebot“ (vgl. Güntert 2016, 26; Fröhlich-Gildhoff 2003, 334) in individualpädagogischen Maßnahmen impliziert, dass dem jungen Menschen zugestanden wird, Nähe und Distanz zur Fachkraft selbst zu gestalten. Die Gewaltfreiheit der Fachkraft und die Ermutigung, eigene Anliegen wahrzunehmen und zu äußern, ermöglichen traumatisierten jungen Menschen, Vertrauen zu gewinnen - Prozesse, für die es jedoch genügend Zeit braucht. In der vorliegenden Studie wurde besonders deutlich, dass es aus der Perspektive der ExpertInnen hinsichtlich der Unterstützung der Autonomie der jungen Menschen keine Kompromisse geben darf. Für die Traumabewältigung beschreiben die InterviewpartnerInnen die Autonomie der Kinder und Jugendlichen als Kontrast zur früheren traumatischen Ohnmachtserfahrung (vgl. Weiß 2009 b, 157ff ) als wegweisend. Empowerment kann bei der Zielgruppe der hochbelasteten jungen Menschen nur umgesetzt werden, wenn ihnen, die vormals Objekt der Bedürfnisse Erwachsener gewesen sind, Partizipation in bedeutenden Lebensbereichen zugestanden wird. Ihren Beschreibungen zufolge stehen die Fachkräfte den traumabasierten Autonomiebestrebungen nicht nur akzeptierend oder duldend gegenüber, sondern sie interessieren sich für die dahinterliegenden intrinsischen Ziele und stehen bei ihrer Realisierung an der Seite der jungen Menschen. Für dieses Verständnis beschreiben sie die verstehensorientierte Perspektive systemischen Denkens als wegweisend, die den „Eigensinn“ (Herwig-Lempp 2004, 44) der Menschen positiv konnotiert. Innerhalb der Lebenswelt einer Betreuungsstelle, in einem handwerklichen oder landwirtschaftlichen Betrieb, einem Wanderzirkus, bei der Arbeit mit Tieren, können junge Menschen begleitete Selbstwirksamkeit und authentische Bestätigung erfahren, wie die ExpertInnen beschreiben. Regeln können als überschaubar und nachvollziehbarer erlebt werden, wenn die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens sich aus den alltäglichen Notwendigkeiten ableiten lassen und nicht als „Gruppenregeln“ von der Fachkraft vertreten werden müssen. Die jungen Menschen müssen oft im Verlauf der Maßnahme erst darin unterstützt werden, ihr Recht auf Partizipation wahrzunehmen. Sie benötigen Unterstützung durch die Fachkräfte bei der Wahrnehmung ihrer gesetzlich verankerten Partizipationsrechte, da sie aufgrund von Traumafolgen nicht uneingeschränkt partizipationsfähig sind. Besondere Bedeutung kommt hier der Hilfeplanung als wesentlichem Steuerungselement zu, die durch die Träger traumasensibel vorbereitet werden muss. Hochbelastete junge Menschen brauchen nicht nur individualisierte, an ihren Ressourcen ausgerichtete Wohn- und Lebensformen, sondern auch individualisierte Bildungskonzepte, die hinsichtlich ihrer Inhalte, ihrer didaktischen Zugänge, aber auch der geeigneten Lerncoaches allein daran ausgerichtet werden, ob sie geeignet sind, den jungen Menschen Bildungspro- 428 uj 10 | 2023 Entwicklungstraumata und Individualpädagogik zesse zu ermöglichen. Die beiden an der Studie beteiligten Institutionen, die auf Grundlage individualpädagogischer Bildungs- und Betreuungskonzepte Distanzunterricht durchführen, bieten den jungen Menschen in individualpädagogischen Maßnahmen, die sich nicht in die Regelschulen integrieren lassen, die Chance auf Bildungsteilhabe bis hin zu Realschulabschlüssen. Sie haben im Rahmen ihrer langjährigen Praxis Möglichkeiten der individuellen Förderung etabliert und mit den Schulbehörden ausgehandelt, die die Ressourcen der SchülerInnen in den Fokus stellen. 5. Gelingensbedingungen Individualpädagogische Träger sehen die Gelingensbedingungen für traumasensible Jugendhilfe insbesondere in den Chancen einer 1 : 1- Betreuung außerhalb institutioneller Strukturen großer Heimeinrichtungen. Dass die Settings sich an den jungen Menschen orientieren, bewerten sie als maßgeblich für erfolgreiche Jugendhilfe. Individualpädagogische Träger setzen traumasensible Jugendhilfe konsequent um, denn wie Kühn (2006, 8) beschreibt, muss diese an den Interessen des jungen Menschen ausgerichtet sein. Das individualpädagogische Bildungs- und Betreuungskonzept, das im Vorfeld einer Aufnahmeentscheidung unter vorheriger Einbeziehung der jungen Menschen von einem ExpertInnenteam erarbeitet wird, lässt sich als Qualitätsmerkmal individualpädagogischer Maßnahmen identifizieren. Durch Analyse biografischen Vorwissens, der Äußerungen des jungen Menschen und Beobachtungen während gemeinsamer Gespräche oder auch Reisen in unterschiedliche Projektstellen oder innerhalb eines erlebnispädagogischen Clearings erschließen sich die Fachkräfte mögliche Gründe für eine Bewältigungsstrategie, aber auch mögliche Gelingensfaktoren, anhand derer sie die Hilfe planen. Als Voraussetzung für gelingende Jugendhilfe beschreiben die ExpertInnen das Verstehen und Einordnen der Verhaltensweisen. Ein empathisches Fallverstehen aus traumasensibler Perspektive umfasst eine Kasuistik auf Grundlage umfangreichen Fachwissens in Verbindung mit Verfahren der kollegialen Fallberatung und die Fähigkeit der Fachkräfte, die Erlebnisse der jungen Menschen auch emotional nachvollziehen zu können. Die Fachkräfte in den Projekt- und Betreuungsstellen beschreiben die ExpertInnen als „sichere Orte“ für die Kinder und Jugendlichen. Neben einer durchweg humanistischen Haltung verfügen sie über umfangreiche Selbst- und Sozialkompetenzen, können auf sich selbst vertrauen und sind in tragfähige Netzwerke eingebunden. 6. Fazit Als Ergebnis der vorliegenden Studie ist festzustellen, dass die ExpertInnen zwar hohe Anforderungen an die Fachkräfte stellen, zugleich aber betonen, dass die individualpädagogische Jugendhilfe nur als gemeinsame Aufgabe von Trägern, Jugendamt und weiteren NetzwerkpartnerInnen gelingen kann. Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung müssen Träger so gestalten, dass die Fachkräfte Probleme im Hilfeverlauf offen thematisieren und daran wachsen können. Ein Jugendhilfeträger muss sowohl für die jungen Menschen als auch für die Fachkräfte ein sicherer Ort sein. Dafür sind die Umsetzung der Qualitätskriterien der Fachverbände, aber auch demokratische Leitungsstile Voraussetzung. Aus den Antworten der InterviewpartnerInnen geht hervor, dass Traumaprävention und -bewältigung zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe werden muss. Für die Realisierung konnten aus den ExpertInneninterviews Innovationsbedarfe in Gesellschaft, Hilfesystem, Recht, Ver- 429 uj 10 | 2023 Entwicklungstraumata und Individualpädagogik waltung, Bildungswesen und bei Jugendhilfeträgern abgeleitet werden. Individualpädagogische Träger brauchen Rechtssicherheit, um entwicklungstraumatisierten jungen Menschen die erfolgreichen Hilfen auch in Zukunft anbieten zu können. Zugunsten der Sichtbarkeit dieser innovativen traumasensiblen Hilfeform, die kaum bekannt ist, aber auch zur Kompetenzentwicklung der Fachkräfte stehen Hochschulen in der Pflicht, ihre Studiengänge entsprechend weiterzuentwickeln. Dem gesellschaftlichen Auftrag des Grundgesetzes, den Menschen- und Kinderrechten und dem im SGB VIII verankerten Jugendhilfeauftrag sind alle Beteiligten aus Politik, Gesellschaft und Verwaltung, aus Jugendhilfe-, Bildungs- und Gesundheitssystem verpflichtet. Den durch Kindeswohlgefährdungen geschädigten jungen Menschen muss der Zugang zu einem gelingenden Leben gewährt werden, das in der gleichen Weise von materieller Unabhängigkeit, Gesundheit, Bildung, Kultur, Gemeinschaft und Anerkennung geprägt ist wie das Leben von Menschen, die in ihrer Kindheit vor Gewalt geschützt und in ihrer Entwicklung gefördert wurden. Frauke Mangels Fritz-von-dem-Berge-Str. 27 21354 Bleckede Literatur Besser, L. (2009): Wenn die Vergangenheit die Gegenwart und die Zukunft bestimmt. Wie Erfahrungen und traumatische Erlebnisse Spuren in unserem Kopf hinterlassen, Gehirn und Persönlichkeit strukturieren und Lebensläufe determinieren. In: Bausum, J., Besser, L., Kühn, M., Weiß, W. (Hrsg.): Traumapädagogik. Grundlagen, Arbeitsfelder und Methoden für die pädagogische Praxis. Juventa, Weinheim/ München, 39 - 54 Bohleber, W. (2000): Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. PSYCHE - Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 54 (9/ 10), 797 - 839 Brisch, K.-H. (2009): „Schütze mich, damit ich mich finde“. Bindungspädagogik und Neuerfahrung nach Traumata. In: Bausum, J., Besser, L., Kühn, M., Weiß, W. (Hrsg.): Traumapädagogik. Grundlagen, Arbeitsfelder und Methoden für die pädagogische Praxis. 3. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel, 139 - 155 Eisinger, T. (2016): Erlebnispädagogik kompakt. 2. Aufl. Ziel Verlag, Augsburg Fröhlich-Gildhoff, K. 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(978-3-497-02998-3) kt